Von Thomas Zimmermann
Nach »Der kommende Aufstand« und »An unsere Freunde« ist Anfang Oktober diesen Jahres mit »Jetzt« nun auch das dritte Buch des Unsichtbaren Komitees in deutscher Übersetzung erschienen und erfreut sich großer Aufmerksamkeit. Und zwar zurecht, zeugen doch dessen Arbeiten von einer fruchtbaren Kombination aus theoretischer Versiertheit und ausgeprägtem Praxisbezug, schriftstellerischem Können und nicht zuletzt der nötigen Kühnheit, überkommene Gewissheiten über Bord zu werfen.
Aufgrund dieser glücklichen Verbindung politischer Tugenden wirken die Pamphlete des Komitees zugleich irritierend und überzeugend – d.h. sofern man es zulässt. Wer sie z.B. nur auf rein theoretischer Ebene oder gar philologisch für die Wahl ihrer philosophischen Bezüge kritisiert, muss ihnen notwendig äußerlich bleiben und wird nicht viel von ihrer erfrischenden Wirkung abbekommen. Wer einen Text bloß kritisieren will, wird stets verlockt sein, ihn dümmer darzustellen, als er in Wirklichkeit ist – ein in der Linken zu ihrem eigenen Leidwesen weit verbreitetes Vorgehen. Wenn wir hingegen von einem Text lernen wollen, müssen wir ihn im Zweifelsfall sogar klüger machen, d.h. mit ihm über ihn hinaus gehen. So begegnet man dem Unsichtbaren Komitee vielleicht am besten, indem man dessen Thesen mit seinen eigenen Erwägungen in Sachen revolutionärer Strategie konfrontiert und von da aus nicht so sehr einen gemeinsamen Nenner als vielmehr ein gemeinsames Vielfaches zu ermitteln versucht.
Wie jede einigermaßen respektable Strategie beruht auch die des Komitees auf einer Bestimmung des Terrains, einer Gegenwartsdiagnose. Diese besteht – soweit nichts allzu besonderes – in der Beobachtung einer Fragmentierung der Welt, d.h. einer Dissoziation all jener Einheiten, die der Gesellschaft bis dato Konsistenz verliehen. Der charakteristische Zug des Komitees besteht jedoch weniger darin, was sie festzustellen haben, als vielmehr in dem politischen Vorgehen, das sie auf Grundlage dieser Feststellung vorschlagen. Ihr Vorschlag lautet nämlich nicht etwa, der Auflösungsbewegung der Gesellschaft wie auch immer gearteten Widerstand zu leisten, sondern sich ihrer anzunehmen und sie proaktiv im eigenen Sinne zu gestalten.
Ein Gegenstand, an dem dieser Dreh für uns gewinnbringend illustriert werden kann, ist – vielleicht überraschender Weise – das Proletariat. Überraschend womöglich, insofern der Begriff der Klasse für das Komitee selbst wohl eher eine Art Altlast darstellt, von der es nur sporadisch und dann eher historisierend Gebrauch macht. Für die Transposition ihrer Theorie in die deutschsprachige Debatte aber bietet sich dieses Beispiel an. Wenigstens dem Autor nämlich will es so scheinen, dass einer der bedeutendsten Fortschritte in der hiesigen marxistischen Diskussion der letzten Zeit in einer Wiederentdeckung des Konzepts der Klasse bestanden hat. Nachdem man sich lange Jahre auf die Aspekte abstrakter Herrschaft des Kapitals – sowie auf die Passivität, mit der sie vermeintlich von den Menschen hingenommen würde – konzentriert hat, sind jüngst wieder mehr die handgreiflich-konkreten Formen aktiv ausgeübter Ausbeutung und Unterdrückung, sowie ebenso aktive Widerstände ins Blickfeld gerückt. Und mit ihnen unter Anderem auch das Proletariat und der Begriff der Klasse. Damit ist allerdings noch nicht geklärt, was man eigentlich mit ihnen anzufangen habe, insbesondere in Zeiten, in denen sie fragwürdig geworden sind. Wobei – und damit ist die Sache schon zur Hälfte ausgesprochen – ja nur ihre politische Einheit infrage steht, nicht etwa ihre grundsätzliche Existenz.
Im Angesicht also der Fragmentierung des Proletariats sollten – dem Komitee folgend – die organisatorischen Bemühungen nicht etwa darauf verwendet werden, eine neue Klasseneinheit herzustellen. Eine solche Anstrengung, die in der Vergangenheit nur deshalb überhaupt möglich war, weil sie gewissermaßen mit dem Strom der Verallgemeinerung der industriellen Produktion schwimmen konnte, würde sich heute, da sie gegen den Strom der Parzellierung, Diversifizierung und Desintegration der Arbeitswelt ankommen müsste, nur unnütz verbrauchen. Hingegen müsste vielmehr versucht werden, diese Kraft der Fragmentierung in die eigene Bewegung aufzunehmen – den Sturz der Klassenidentität in einen Sprung zu verwandeln. So wären die Proletarisierten besser beraten, sich gerade in ihrer Kleinteiligkeit und konkreten Verortung, in ihrem unmittelbaren Lebens- und Arbeitsumfeld zu organisieren und von da aus eher darauf bedacht zu sein, vielfältige Verbindungen zu anderen, anderswo lokal verankerten Gruppen herzustellen, als eine Vereinigung mit diesen anzustreben. Nicht dem Aufbau von Massenorganisationen, sondern der Intensivierung politischer Freundschaften habe die Gunst der Stunde geschlagen. Schließlich lasse sich nicht über den Umweg der großen Politik eine Revolutionierung des Lebens erreichen, sondern nur auf Ebene der Formen des Zusammenlebens selbst. Anstatt die Auflösung der gesellschaftlichen Einheit passiv zu erleiden, müsse man ihr zuvor kommen, indem man gemeinsam aus ihr desertiert.
Das Desertieren stellt die zentrale Kriegslist des Komitees dar. Auch in Bezug auf die Institutionen des Staates und der Zivilgesellschaft zielt seine Strategie nicht etwa darauf ab, diese frontal anzugreifen. Solcher Kampf gilt ihm wohl zurecht als aussichtslos. Ebenso wenig besteht sie aber darin, diese von innen heraus zu verändern oder auch zu zerstören. Auf diesem Wege würden die Kritiker*innen und Aktivist*innen bloß vereinnahmt und die Institutionen verjüngt. Sondern es soll sich ihrem Einfluss entzogen werden. Sie sollen außer Kraft gesetzt werden durch die Entwicklung neuer Formen des Zusammenlebens, welche keine Institutionen mehr benötigen. Das Ziel ist nicht die Einnahme der Institutionen, sondern ihre Absetzung.
Wie diese Absetzung konkret vonstatten zu gehen hat, ist von Institution zu Institution verschieden. Die Polizei ist auf andere Weise außer Kraft zu setzten als das Recht oder die Medizin. Auch hier wollen wir aber ein Beispiel wählen, dass sich nicht so sehr aufgrund seiner Zentralität im Theoriegebäude des Komitees qualifiziert als vielmehr aufgrund seiner Nähe zu uns: die Universität. Nur ein einziges Mal findet sie Erwähnung: »Die Universität abzusetzen, heißt, fern von ihr lebendigere und anspruchsvollere Orte der Forschung, der Bildung und des Denkens zu errichten, als sie einer ist«. Auch hier nimmt das Komitee eine Ausnahmestellung ein gegenüber der geläufigeren Position einer Linken, die in der Universität (wieder) an Land gewinnen will.
Es mag nun so scheinen, als hätten sich diese beiden Positionen nichts zu sagen. Aber das gerade Gegenteil ist der Fall. Es besteht nämlich die Möglichkeit, sie in einer produktiven Verbindung von Widersprüchen zusammenzufassen. Es kann dazu regelrecht mit den Thesen des Komitees über das Komitee hinausgegangen werden. Wenn wir nämlich die verschiedenen Listen des Komitees in ein Verhältnis setzen, können wir zu einem differenzierteren, strategisch reichhaltigeren Zugang zum Terrain der Universität kommen, als es selbst im Klartext anbietet – zu einem Ansatz, der koordiniertes Vorgehen zugleich innerhalb wie auch außerhalb der Universität vorsieht.
Noch über der List der Desertion nämlich thront gleich einem kategorischen Imperativ der Leitsatz, man solle »sich nicht nach den Bewegungen des Gegners [richten], sondern nach dem, was für den Ausbau der eigenen Stärke erforderlich ist.« Dass aber größtmöglicher Abstand immer das förderlichste sein muss, ist damit noch nicht ausgemacht. In einem anderen Zusammenhang kehrt das Komitee etwa hervor, dass es in bestimmten Situationen nicht so sehr um eine geographische als um eine innere Distanz zu gehen habe. Man dürfe nicht glauben an jene Strukturen, in denen man sich befinde und arbeite. Sondern man müsse ihnen in gaunerhafter Feindseligkeit begegnen, ja sie bestehlen: »Eine Schar befreundeter Tischler verwendet alles Material, auf das sie in ihrem Betrieb Zugriff hat, um eine Hütte für die ZAD zu bauen.« So profitiert die seit inzwischen 10 Jahren dem staatlichen Zugriff entzogene, selbstverwaltete zone à défendre (zu verteidigende Zone) in der Nähe von Nantes davon, Freund*innen auch in offiziellen Strukturen zu haben.
Ein entsprechendes Verhältnis ließe sich auch zwischen den neu zu errichtenden außeruniversitären Bildungsstrukturen und solchen Vertreter*innen der Bewegung vorstellen, die in den Universitäten die Stellung halten. Nicht nur könnten letztere helfen, indem sie Ressourcen an die ersteren umleiteten, außerdem könnten sie Ideen, Theorien und Konzepte der Bewegung in den Universitäten vertreten bzw. propagieren und damit den Zulauf in die neuen Strukturen anregen.
Zugleich wäre aber auch jenen Freund*innen innerhalb der Universitäten geholfen. Nicht nur wären sie davon befreit, entgegen allem Anschein an das emanzipatorische Potential der Universität glauben zu müssen, um ihrer Tätigkeit Sinn zuzumessen. Auch könnten sie sich generell mit größerer Souveränität bewegen. Konformität erzeugt die Universität schließlich, indem sie ihren Nachwuchs dazu zwingt, sich bei Professor*innen anzubiedern und akademischen Gepflogenheiten Folge zu leisten, weil sie anderenfalls fürchten müssen, die einzige Möglichkeit einzubüßen, einigermaßen ökonomisch abgesichert der von ihnen gewünschten Forschungs- und Lehrtätigkeit nachzugehen. Würde jedoch das Monopol der Universität auf diesen Bereich durch den Aufbau einer außeruniversitären Bildungsstruktur gebrochen, die kritische Geister auffangen könnte, wenn sie aus der Universität ausscheiden, so wäre auch der Zwang zur Konformität geschwächt und die revolutionäre Haltung würde nicht mehr in diesem Maße kompromittiert. Und schließlich wären sie davon befreit, in den Universitäten ernsthaft nach ihrem Heil zu suchen, ergo auf eine Professur hoffen zu müssen – einem fast immer vergeblichen Unterfangen.
So ist vorstellbar, dass die für den Ausbau unserer Stärke förderlichste Organisationsstruktur eine doppelte sein könnte – universitär und außeruniversitär zugleich – wobei sich die Schwächen der beiden Teilstrategien ausglichen. Wie dergleichen neue, lebendigere Formen der Forschung und Bildung aussehen könnten, ist freilich eine Diskussion für sich.
Die Versuche des Unsichtbaren Komitees zählen gegenwärtig bestimmt zu den klügsten Ansätzen zu Theorie und Strategie emanzipatorischer Bewegungen. Wollen wir zu ihm aufschließen und mit ihm über es hinaus gehen, so müssen wir uns dem wechselseitigen Widerspruch aussetzen und ihn produktiv machen. Wir brauchen uns nicht auf einen gemeinsamen Nenner zu einigen. Bilden wir unser gemeinsames Vielfaches!