Von Thomas Zimmermann
Die Frage nach dem Verhältnis von Theorie und Praxis ist ebenso abgedroschen wie oft beschworen. In Zeiten der Praxis aber stellt sie sich zuweilen erfrischend anders. So geschehen auch im Zuge der Besetzung des Instituts für Sozialwissenschaften (ISW) an der HU.
Was ist die Aufgabe der Theoretiker*innen in der Bewegung? Es gibt zwei naheliegende Antworten auf diese Frage. Erstens kann ihre Aufgabe darin gesehen werden, der Bewegung Veranstaltungen kritisch-theoretischen Charakters anzubieten, also Lesekreise, Seminare und Vorträge etwa zur Kritik von Patriarchat, Kapitalismus, Kolonialismus, Rassismus und Antisemitismus zu organisieren. Das ist eine allemal respektable Funktion. Zweitens aber kann die Aufgabe der Theoretiker*innen auch darin begriffen werden, mitten in die Bewegung hinein zu gehen, mit anzupacken, so viele Eindrücke wie möglich zu sammeln und die so gemachten Erfahrungen und Beobachtungen theoretisch zu reflektieren, sie aufzuzeichnen und damit tradierbar zu machen.
Dieser Text soll einen praxistheoretischen Beitrag in letzterem Sinne darstellen. Er besteht in einer zusammenfassenden Darstellung persönlicher theoretischer Überlegungen über den kollektiven Prozess und die politischen Formen der Selbstorganisation im Rahmen der Besetzung des ISW. Seinerseits in erheblichem Maße Ergebnis von Diskussionen, wäre seinem Anspruch am besten dadurch entsprochen, dass er selbst wiederum weiteren Diskussionen als Material diente.
Die Schwierigkeiten, ein Ereignis zu analysieren, an dem man selbst beteiligt gewesen ist, sind offenkundig. So verführt einerseits die persönliche Komplizenschaft mit dem Gegenstand zur Verklärung. Andererseits kann die Vertrautheit mit den zum Teil sehr schmerzlichen Misserfolgen auch schonmal zu einem Verriss verleiten. Der vorliegende Text versucht, dieser schlechten Alternative durch ein gewisses Maß an theoretischer Abstraktion zu entgehen. Er sieht es als seine Aufgabe an, eine schlüssige Analyse und zugleich eine interessante Interpretation der Dynamiken der Besetzung zu geben. Eine Auflistung ihrer zahlreichen Verfehlungen gehört in eine Chronik der Besetzung, die zweifellos mit großem Gewinn für die Bewegung geschrieben und studiert werden könnte. Am Ende aber muss sich auch der Gehalt einer theoretischen Abhandlung wie dieser daran messen lassen, inwiefern die verschiedensten Geschehnisse anhand ihrer Konzepte begriffen werden können, sowie an der Plausibilität der Schlüsse, die sich aus ihr für das weitere Vorgehen ziehen lassen.
Mag auch der konkrete Anlass der Besetzung des ISW die Entlassung Andrej Holms gewesen sein, so stellte sich doch schnell heraus, dass sich das damit zutage getretene Protestpotential aus einem grundlegenderen Missstand speiste: der Ökonomisierung der Universität unter neoliberalem Vorzeichen, welche die Bedingungen kritischer Bildung systematisch untergräbt. Bei der Forderung nach kritischer Bildung handelt es sich allerdings nicht um einen frommen Wunsch, den man sinnvoll an irgendwelche Autoritäten richten könnte, sondern zuallererst um einen Anspruch an die eigene Praxis, also etwas, was man selber machen muss. Aus diesem Grund entwickelte die Besetzung neben ihren nach außen gerichteten politischen Forderungen auch einen Selbstzweck: die Herstellung und Erhaltung eines angstfreien Raumes gemeinschaftlicher Produktion von Erkenntnis. Und dementsprechend war auch die Herausforderung der Selbstorganisation eine doppelte: einerseits Handlungsfähigkeit nach außen, andererseits ein solidarisches Miteinander im Inneren zu gewährleisten.
Die organisatorische Struktur der Besetzung würde üblicherweise wahrscheinlich wie folgt wiedergegeben: Die Vollversammlung ist die zentrale basisdemokratische Institution. Sie trifft Entscheidungen nach dem Konsensprinzip. Und sie delegiert exekutive Aufgaben an bestimmte AGs. Diese Beschreibung wäre nicht falsch. Aber sie wäre allzu formalistisch und verfehlte in ihrem Formalismus den Kern der Sache. Ihr entginge nämlich, dass das Rückgrat der politischen Organisation nicht etwa die Vollversammlung war, sondern die permanente informelle Diskussion immer wechselnder Konstellationen aus Aktiven und Gästen in den besetzten Räumlichkeiten.
Dagegen sollen im Folgenden Grundzüge einer Analyse vorgestellt werden, die diesem Umstand Rechnung trägt, indem sie die Institutionen Vollversammlung und AGs in ihrem Verhältnis zu dieser permanenten Diskussion als dem vitalen Zentrum der Besetzung betrachtet sowie deren Bildungsbedingungen untersucht.
Für sich genommen besteht die Produktivität dieser Diskussionen darin, dass sie einen diffus-dynamischen Prozess der Entwicklung von Analysen, Argumenten, Ideen und Strategien befördern sowie deren Zirkulation und damit Verbreitung. Allerdings kann sich dieser Prozess, so wechselhaft die Gesprächskonstellationen auch immer sein mögen, nicht von selbst verallgemeinern. In dieser Hinsicht besteht die Funktion der Vollversammlung darin, die vielen einzelnen Diskussionen zu einer allgemeinen Diskussion zusammenzufassen. Am deutlichsten tritt dies angesichts der in die Vollversammlungen eingebetteten Murmelrunden hervor, die im wesentlichen eine Methode zur Nutzbarmachung der Produktivität von Kleingruppendiskussionen für das große Plenum darstellen. Während also die Vollversammlung den Diskussionsprozess bündelt, indem sie die Bezugsgruppen temporär in ein großes Plenum auflöst, bewirken die AGs in Hinblick auf die permanente Diskussion im Gegenteil eine Verfestigung bestimmter Konstellationen. Einerseits wird damit der Wechsel der Diskussionspartner und damit der angesprochene Prozess der Zirkulation gehemmt, andererseits aber führt dies zu einer Konzentration und Verstetigung der Diskussionen in den relativ selbstständigen Bezugsgruppen, welche die AGs darstellen. Die permanente Diskussion wird auf diese Weise in einem Wechselspiel zwischen Vollversammlungen und AGs strukturiert, in dem sich die jeweiligen Effekte im Idealfall gegenseitig kompensieren.
Dieses Wechselspiel einander entgegengesetzter Tendenzen deutet ferner darauf hin, dass das Verhältnis von Vollversammlungen und AGs nicht einfach nur in der Delegation bestimmter Aufgaben besteht, sondern von einem latenten Widerspruch geprägt ist. Und zwar handelt es sich hierbei um den Widerspruch zwischen basisdemokratischer Legitimation und relativer Autonomie. So wäre es zwar absurd, zu fordern, jede einzelne Handlung der AGs sollte des Segens der Vollversammlung bedürfen. Es ist im Gegenteil völlig legitim, wenn sich z.B. in Bezug auf eine Aktion eben so viele Personen einverstanden und teilnahmebereit zeigen, wie es für die Durchführung eben dieser Aktion benötigt. Allerdings gerät diese Legitimität an ihre Grenze, wo jene Aktion erhebliche Auswirkungen auf den Fortgang der gesamten Besetzung haben könnte. Diese Grenze, jenseits derer wiederum der Zuständigkeitsbereich der Vollversammlung beginnt, kann jedoch nicht eindeutig bestimmt und daher der Widerspruch nicht einfach aufgelöst werden. Entscheidend ist daher vielmehr die Art und Weise, auf die mit ihm umgegangen wird.
Was das angeht, so ist es bemerkenswert, dass dem Widerspruch zwischen basisdemokratischer Legitimation und relativer Autonomie im besetzten ISW nicht etwa durch eine Erweiterung der Kontrolle der Vollversammlung über die AGs beizukommen versucht wurde – was den gesamten politischen Prozess tendenziell gelähmt hätte –, sondern die AGs in aller Regel auf Grundlage eines Vertrauensvorschusses seitens der Vollversammlung arbeiten konnten. Und zwar ist dies bemerkenswert insofern, als dass die Besetzer*innen – dies zur Erinnerung – nicht etwa schon im Vorfeld ein kollektives politisches Subjekt gebildet hatten, sondern sich als solches erst im Zuge der Besetzung langsam zu konstituieren begannen.
Woher also diese Basis des Vertrauens in einem Zusammenhang von Menschen, die einander noch vor kurzer Zeit weitgehend unbekannt waren und die in politisch-ideologischer wie in strategischer Hinsicht zum Teil sehr unterschiedliche Auffassungen vertreten? „Permanente Diskussion“ kann in diesem Fall nicht die Antwort sein. Es stellt nämlich vielmehr einen Teil derselben Frage dar, warum eigentlich die Diskussion im besetzten ISW eher verbindende und nicht vielmehr spaltende Wirkung zeigte, wie wir es aus der linken Szene ansonsten gewohnt sind.
Zwar hat es Misstrauen gegeben zwischen Vertreter*innen verschiedener Richtungen. Und es wurde zum Teil auch gegeneinander konspiriert. Was aber nicht eintrat, war eine offene Erklärung von Feindschaft, was die Einführung einer Trennung bedeutet hätte. Die Assoziation überwog gegenüber den dissoziativen Kräften. Eine Assoziation, die schließlich nicht bloß im gemeinsamen Diskutieren, sondern wesentlich im gemeinsamen Essen, Trinken und Schlafen begründet war, allgemein gesprochen im gemeinsamen Alltag in den gemeinsamen Räumen, kurz: in einer gemeinsamen Reproduktionsweise. Und wahrscheinlich ist es dieselbe Rücksicht auf die gemeinsame Reproduktion, welche auch jene Basis gegenseitigen Vertrauens herstellte, auf der sich der Widerspruch zwischen Vollversammlung und AGs in verhältnismäßig geordneten Bahnen bewegen konnte.
Sollte diese These zutreffen und in erster Linie die gemeinsame Reproduktion dafür verantwortlich sein, dass sich die Besetzung nicht entlang der durch die vielfache Spaltung der Linken vorgezeichneten Sollbruchstellen zerschlagen hat, so folgt daraus zweierlei. Einerseits rückt damit einmal mehr die immense Wichtigkeit der Reproduktionsarbeit für eine politische Bewegung (wie für ein jedes Gemeinwesen) in den Blick. Und mit ihr, wie so häufig, das Problem ihrer ungleichen Verteilung. Andererseits ergibt sich daraus eine begründete Skepsis gegenüber den Möglichkeiten einer Übertragung des im Zuge der Besetzung entstandenen politischen Zusammenhangs auf andere, nichtreproduktive Systeme – z.B. eine (hochschul)politische Gruppe mit wöchentlichen Plena. Wenn die Kohäsionskraft einer politischen Bewegung, wie hier dargestellt, in einem Verhältnis zu dem Maß der Gemeinsamkeit der Reproduktion steht, so dürfte ihre Transformation in eine Organisation ohne gemeinsamem Alltag alsbald zu einer Reihe von Auflösungserscheinungen führen. Schließlich würde sich wahrscheinlich eine bestimmte Richtung als alleinig weisend durchsetzen und damit isolieren. Dadurch aber wäre jede Chance verloren, die Macken und Borniertheiten der verschiedenen linken Strömungen durch gegenseitige Korrekturen zu kompensieren. Auf Grundlage der dargestellten Überlegungen scheint es vielversprechender, auf kurz oder lang wieder zu der Form der Besetzung zurückzukehren und die Zwischenzeit für eine eingehende Analyse der Versäumnisse und Probleme zu nutzen.
Zu diesen Problemen gehört unter Anderem auch, dass das eingangs erwähnte Veranstaltungsprogramm der Besetzung zum Teil noch ziemlich abgelöst zu sein schien von der alltäglichen Praxis der Besetzer*innen wie von deren permanenter Diskussion. Eine intensivere Verflechtung hätte zur Bedingung einerseits eine bessere Auslastung der Arbeit in den AGs wie der Reproduktionsarbeit, wäre möglich andererseits über die Organisation von Veranstaltungen mit stärkerem Bezug auf die eigene Praxis. So wäre z.B. eine Veranstaltungsreihe denkbar, die sich verschiedenen Formen der Selbstorganisation – den historischen wie den eigenen – widmete. Dies wäre mutmaßlich für alle Beteiligten von Interesse und würde die kritische Auseinandersetzung mit den Formen der eigenen Praxis befördern, zu der auch dieser Text einen Beitrag darstellen will.
Es ist selbstverständlich, dass in diesem Text aufgrund limitierter zeitlicher, räumlicher und intellektueller Kapazitäten nur einige ausgewählte Gesichtspunkte haben eingefangen werden können. Gut vorstellbar, dass die hier getroffenen Thesen auf Grundlage der Analyse von weiteren, hier nicht besprochenen Aspekten relativiert werden müssten. Mag auch die gemeinsame Reproduktionsweise der Besetzung an ein vorläufiges Ende gelangt sein, so bleibt doch zu hoffen, dass die Diskussion sich fortsetzt.