Von Joshua Schultheis
Die Programmschrift der neuen basisdemokratischen Gewerkschaft der Frankfurter Goethe-Universität beginnt mit einer Feststellung: »Wir leben sicher nicht in der besten aller möglichen Welten.« Eine Feststellung, zu der, seit Voltaire sie seinen tragischen Anti-Helden Candide hat machen lassen, jede Generation von neuem gelangen muss. Sie stand auch am Beginn der großen Studierendenrevolte der 1960er Jahre. In der BRD die Verachtung für die NS-Vergangenheit der eigenen Eltern und der politischen und akademischen Elite, in den USA der Verlust des Glaubens in die eigene moralische Überlegenheit und die Empörung über die Verwicklung der Universitäten in imperialistische Kriege. Was einen heute so alles aus der Illusion reißt, man lebe in einer guten Welt, muss nicht extra erwähnt werden. Damals wie heute folgt daraus eine weitere Feststellung: Wir studieren, lehren und arbeiten nicht in den besten aller möglichen Hochschulen! Unter_bau hat sich vorgenommen, hieran etwas zu ändern.
Das, wogegen sich unter_bau auflehnt, scheint allmächtig, denn es geht nicht bloß gegen die »unternehmerische Universität«. Dieses mehr schlecht als recht durchgesetzte neue Modell der Hochschule, welches die Uni zu einem marktwirtschaftlichem Betrieb und die Studierenden zu dessen Kund_innen (und dessen Produkten) macht, ist nicht zu lösen aus seinem globalen und gesamtgesellschaftlichem Zusammenhang. Auch unter_bau hat dies erkannt und sieht seine gewerkschaftliche Arbeit nur dann als sinnvoll, wenn der Horizont einer anderen, besseren Gesellschaft nicht aufgegeben wird. Dass die Universität sich als Ausgangspunkt einer Transformation der ganzen Gesellschaft gut eignet, dafür spricht für unter_bau einiges. Wie geforscht, wie gelehrt und gelernt wird, hat eine große Auswirkung auf den Rest der Gesellschaft. Beinahe 50% aller Schulabgänger_innen studieren mittlerweile. Würden die Universitäten diese Chance nutzen und ihren Studierenden eine echte Bildung zukommen lassen, das heißt die Bildung zu kritischen, selbstbestimmten Subjekten, dann wäre viel getan.
Auf der Suche danach, wie eine solche Hochschule aussehen könnte, ist man ohne historisches Vorbild. Wie schon die Studierenden der 60er Jahre lehnt man einerseits die alte Ordinarienuniversität und deren falsches Verständnis von der Freiheit der Wissenschaft als unengagierte Weltferne, als auch deren drohende Transformation im wirtschaftsliberalem Sinne ab. Gegen diese zweite Tendenz erscheint heute die, auch durch Studierendenproteste erkämpfte, Gruppenuniversität (durch die der Anspruch auf echte Mitbestimmung der Studierenden ohnehin nie wirklich eingelöst wurde) als Pyrrhussieg. War die unternehmerische Universität in den 60ern mehr Drohung als Realität, ist sie heute allgegenwärtig und ein Diskurs über die Hochschule jenseits einer ökonomischen Effizienzlogik völlig verschwunden.
In dieser ganz und gar nicht revolutionären Zeit ist sich auch unter_bau den schlechten Aussichten seines Kampfes bewusst und setzt auf den Aufbau von Strukturen, die bleiben, statt auf blinden Aktionismus, auf einen langfristig angelegten Prozess der Transformation, statt auf die spontane Revolution und unterscheidet sich darin dann doch von so manchen Vorstellungen der 68er. Die Antwort die unter_bau auf die Malaise der Universität findet, ist die einer Gewerkschaft neuen Typs. Eine Gewerkschaft, die die Interessen aller (mit Ausnahme der Professor_innen) an der Hochschule Arbeitenden, einschließlich extern Beschäftigter (etwas Securities), vertritt und sich so gegen die Vereinzelung in viele unternehmerische Selbste und die Entsolidarisierung der verschiedenen Gruppen an der Hochschule stellt. Eine Gewerkschaft, die basisdemokratisch organisiert ist und so ihrer Bürokratisierung entgegenwirken möchte und in der die Perspektiven und das Wissen aller durch sie Vertretenen mit einfließt. Eine Gewerkschaft, die flexible Strukturen hat und somit nicht von der Arbeit einzelner Weniger abhängt und die so auch langfristig die Bedingungen für ihr eigenes Bestehen reproduzieren kann.
Um eine solche Gewerkschaft ins Leben zu rufen, haben sich an einem Wochenende Mitte November diesen Jahres um die Einhundert Menschen im Studierendenhaus der Goethe-Universität zusammengefunden. Was zunächst wenig klingt, ist, angesichts der an Universitäten extrem niedrigen Zahl der in Gewerkschaften organisierten Arbeitnehmer_innen, gar kein schlechter Anfang. Dass dies dennoch in keinem Verhältnis zur langfristigen Vision von unter_bau steht, ist allen Beteiligten klar. Mit dem denkbar höchsten Anspruch endet die Programmschrift von unter_bau: „Als bewusst eingebundener Teil der Gesellschaft, soll die Hochschule des unter_bau Keimzelle rätedemokratischer Strukturen sein, die in der Schale der alten Verhältnisse heranreifen, um sich von diesem engen Gehäuse zu befreien und darüber hinauswachsen.“ Also ausgehend von der Universität eine Transformation der gesamten Gesellschaft.
Die Argumente dafür, dass genau das nicht klappen kann, kommen ebenfalls aus Frankfurt. Niemand geringeres als Teddy Adorno verkündete in einem Radiointerview von 1967, dass es nicht nur aussichtslos, sondern auch ein Fehler sei, zu versuchen die Gesellschaft von der Universität her zu verändern, da dies die »herrschende Rancune gegen die Sphäre des Intellektuellen verschärfen wird, und damit der Reaktion den Weg bahnen […]« würde. Auch die geistigen Nachfolger_innen dieses, auf den Campi der Goethe-Universität allgegenwärtigen Denkers waren auf dem Gründungskongress anwesend. Auf der Podiumsdiskussion über Strategien gegen die neoliberale Hochschule wiesen die Vertreter_innen vom »Forum kritische Wissenschaften« erbarmungslos auf die Widersprüche des Unterfangens von unter_bau hin. Die Unterschiede im Habitus, der sozialen und ökonomischen Lage zwischen einer Promovendin und einem Security sind einfach zu groß. Unter_bau negiere die fundamentale Differenz zwischen Kopf- und Handarbeit und ob man denn glaube, eine Putzkraft etwa könne an den Zielen oder den Weiterbildungsmaßnahmen der neuen Gewerkschaft überhaupt interessiert sein. Ohnehin sei die Universität nicht aus ihrem gesamtgesellschaftlichen Kontext zu lösen und eine Veränderung hier, ohne eine Veränderung überall, nicht denkbar.
Die Einsprüche wiegen schwer, aber die Programmschrift von unter_bau zeigt, dass hierüber kein mangelndes Bewusstsein herrscht. Man sieht die komplizierte Verflechtung der Universität mit anderen Bereichen der Gesellschaft, man ist sich den unterschiedlichen, manchmal konträren Interessen und Lebenswirklichkeiten der verschiedenen Gruppen an der Uni bewusst, man erkennt, dass auch unter_bau nicht einfach partiell und kurzfristig das herrschende neoliberale Dispositiv, das von Sexismus und Rassismus geprägt ist, außer Kraft setzen kann und doch will man einen, wenn auch kleinen, Anfang machen, will Vorbild und Keimzelle einer besseren Gesellschaft werden. Argumente dafür, dass dies tatsächlich möglich sein kann, finden wir bei Adornos Freund und geistigem Gegenspieler Herbert Marcuse. Für Marcuse lässt sich das Verhältnis von Theorie und Praxis nicht einseitig auflösen. Die Theorie kann Handlungsmöglichkeiten offenlegen, es bleibt aber Aufgabe der Praxis diese auszutesten und da, wo die Theorie nur noch Totalität und Ausweglosigkeit konstatiert, ist es praktisches Handeln, das durch neue Erfahrungen einen Ausweg finden kann und damit wiederum der Theorie auf die Sprünge hilft. Die Universität ist dabei für Marcuse ein denkbarer Ort, an dem eine radikale Veränderung im Denken und Handeln vorbereitet werden kann.
In einem Interview mit dem Spiegel von 1969 beschreibt Marcuse, wie eine Organisationsform aussehen muss, die der spätkapitalistischen Organisation und Repression noch etwas entgegensetzen kann. Diese müsse sich auszeichnen durch »äußerst flexible, veränderbare Methoden der Zusammenarbeit, die die Initiative von unten artikulieren und auf bestimmte politische Ziele ausrichten können. Das heißt, aus der Spontaneität müssen Formen der Organisation hervorgehen, die dann ihrerseits wieder die Spontaneität beeinflussen und in eine bestimmte Richtung lenken können, die über den lokalen Anlaß und die lokale Zielsetzung politisch hinausführen.« Wem das zu abstrakt ist, die/der muss nach Frankfurt am Main schauen, denn dort wird im Moment der Versuch unternommen genau eine solche Organisationsform Realität werden zu lassen.