Von Matthias Ubl
Mit halb taube halb pfau hat Marens Kames ein bemerkenswertes Debüt vorgelegt, das sprachlich zum wohl Schönsten zählt, was die jüngere deutsche Gegenwartsliteratur in den letzten Jahren hervorgebracht hat. Nichts findet man hier von dem »ichverseuchten« (Jonathan Meese) und unerträglich ironisch-hippen Geschreibsel ihrer Kolleg*innen. Und das, obwohl es um das Subjekt, als In- und Dividuum, als Verlorenes und auch um die Autorin selbst geht:
»Mein Name ist Kames, ich habe etwas aufzugeben«
So steht es in diesem Buch, ganz vereinzelt auf dem Weiß einer sonst leeren Seite. Der in silber-grauem Einband gefasste Text erschien im Herbst 2016 im secession-Verlag und wagt einen literarischen und ästhetischen Grenzgang. Blättert man das Buch zunächst auf, so liegt der Eindruck nah, es mit einem Lyrikband oder einem komplex gesetzten, langen Gedicht zu tun zu haben, wie bei Mallarmés Würfelwurf. Blättert man weiter, so finden sich leere Seiten, Einzeiler, Satzblöcke, Dialoge, Gedichtförmiges und QR-Codes, die eine unvermessene (es gibt keine Seitenzahlen), textuelle Landschaft bilden. Auch inhaltlich wird dieses Bild wieder und wieder bemüht: Kames zeichnet eine winterliche Seelenlandschaft, die zwischen schmelzenden und zerbrechenden Polen sich aufspannt, in der Stimmen an den Rand eines Sees gespült werden, Wölfe & Erinnerungen lauern. Das Zerbrechen der Schollen, das Tauen, das Fragmentiertsein, sowohl semantisch als auch typographisch, erzeugen dabei eine Bewegung durch und gegen diese Landschaft, die als Reise beschrieben werden muss. Die Reise durch dieses nicht begrenzte Gebiet kennt kein Ziel, ihr Modus ist die mediale Unterbrechung, der Wechsel der Plateaus, gerade dann, wenn man sich verliert, so wie auch das zentrale sprechende Ich, eine Stimme unter Vielen, verloren ist. Das »Ich« ist in diesem Text gleichzeitig Durchquerendes und Durchquertes: also Landschaft und Wanderer. Die Beschreibung der Landschaft hat dabei nichts Nostalgisches, verliert sich eben nicht in einer Natrurromantik oder dem Schwelgen über scheinbar Unberührtes. Diese Landschaft verfällt und ist im Werden. Dabei ist sie schön, aber sie hetzt uns, das Tanzen wird in ihr zum Zwang und das Ich findet sich manchmal aufwachend aus –und doch wieder in der Landschaft: morgens um halb 8 nach einer kräftezehrenden Klubnacht.
Was hier beschrieben wird, das sind wir, was hier aufgeführt wird, ist die Durchkreuztheit des Subjekts, unbekannt und fremd und das ist auch Kames‘ Lektion: In dieser Landschaft ist kein wahres Ich, Selbstfindung findet hier nicht statt. Das Ich ist ein Kampfschauplatz von unbekannten Mächten, eine wilde Einöde. So heißt es an einer Stelle:
»Man droht sich alle paar Meter zu verlaufen. Die Suche nach einem Zusammenhang im Land gestaltet sich schwierig, die Infrastrukturen scheinen nahezu aufgelöst. Es gibt keinen Wegweiser. Es gibt so viele freie Flächen, offenbar handelt es sich zu großen Teilen um nicht erforschtes, nicht besiedelbares Gebiet. Vage Vektoren zeichnen sich als momentane Marschrouten über das Revier, aber es gibt so viele unterschiedliche Richtungsmöglichkeiten. Und vielleicht ist es so: An diesen Schollen ist das Land zusammengenäht. Hier wird es reißen.«
Oder einfach:
»Ich glaub ich spuke.«
Dieses Zerreissen wird dann auch unmittelbar erlebbar. Das Einscannen der QR-Codes, durch die wir zu verschiedenen Soundcollagen gelangen, die den Text variieren, oder uns repetitiv noch einmal hören lassen, erzeugt einen ungewohnten, doch in seiner Verfremdung konsequenten Effekt. Ist man noch von der Macht der Sprache Kames‘ gerührt und nimmt das Handy in die Hand um weiterzukommen, ploppt die neueste Facebook-Nachricht oder E-Mail auf, man wird abgelenkt, herausgerissen, nur, um dann von den Collagen wieder in die Landschaft gezogen zu werden. Die ästhetische Erfahrung, die Versenkung in den Text, wie könnte es hier anders sein, wird somit auch noch einmal medial durchbrochen.
In einer Soundcollage wird in dokumentarischem Stil von den – schon erwähnten – schmelzenden Polen gesprochen. Die Motive der Klimaerwärmung, die Erhitzung der Erdatmosphäre, des Tauens einerseits und jenes der Erkaltung, des Schneetreibens in der seelischen Atmosphäre, die auch eine soziale Kälte ist, oszillieren in Kames‘ Text. Gleichzeitig denkt man durch die technische Vermittlung der QR-Codes unweigerlich auch an Donna Haraways ironische Figur der Cyborg. Diese Seelenlandschaft, dieses Ich ist nicht etwas der Technik Entgegengesetztes, sie konstituiert sich durch sie und auch ein Song auf Youtube von The Antlers wird plötzlich zur inneren Stimme.
halb taube halb pfau ist ein romantisches Buch. Landschaft und Natur spiegeln das Innenleben,nur dass das Außen selbst schon beschädigt ist. Bemerkenswert ist, dass Kames auf gewisse Weise auch Friedrich Schlegels Diktum der Universalpoesie einlöst. Dieser schreibt im berühmten 116. Athäneumsfragment, die Bestimmung der Universalpoesie sei es, »alle getrennten Gattungen wieder zu vereinigen«. So finden sich Lyrisches, Prosaisches, Dramatisches, aber eben auch das Hörspiel hier zu einer ganz neuen Einheit zusammen. Gleichzeitig versperrt sich Kames‘ Text der reaktionären Tendenz romantischer Dichtung. Der Literatursoziologe der »Frankfurter Schule« Leo Löwenthal hat in seinen Studien zum deutschen Roman des 19. Jahrhunderts die Dialektik und Ideologie der Romantik eingehend untersucht. In der romantischen Literatur, finde man nach Löwenthal immer schon die Unzufriedenheit mit dem Wirklichen, also dem reaktionären Ständestaat und seinen Widersprüchen. Diese Widersprüche werden bei den Romantikern jedoch verdrängt und kehren in einer poetischen Gegenwirklichkeit wieder, werden dort aber affirmiert. Somit wird die Fantasiewelt zur »heimlichen Heimat«. Auch bei Kames wird eine Gegenwelt erschaffen, der Kampf, das Fragmentiert- und Getriebensein erscheinen hier aber nicht in neuem, affirmativen Gewand. Kames hält die Wunde offen und das grenzt sie von der Romantik ab. Ihre zerbrechende Landschaft, ihre Schollen, das rastlose Wandern, die Verlorenheit und Ruhelosigkeit: Sind das nicht auch wir als »erschöpftes Selbst« (Alain Ehrenberg)1? Bei Kames wird eine poetische Welt erschaffen, die in ganz eigener Sprache bedeutet, was wir als neoliberale Subjekte im beschleunigten Kapitalismus, der zunehmend auch unser Innenleben kolonialisiert, tagtäglich erleben. »Ist das Weltall denn nicht in uns?«, fragt Novalis (Weltall hier im Sinne des Weltganzen). Ja, müssen wir mit halb taube halb pfau antworten und uns fragen, was das eigentlich für eine Welt ist.
»Ich stehe im Land. Mit weit offenen Armen und weit offenen Augen laufe ich übers Land, auf dass mir was begegne, auf dass sich was bewege gegen diese Schichten imprägnierter Stoffe, Käppchen, Schutzmäntelchen komme unter meine Haut, hier meine Haut, die Angriffsfläche, denk ich, ist doch groß genug. Oder an der Küste stehe ich und starre in geduldiger Erwartung einer Strandung oder dass sich bestenfalls in einem submarinen Aufruhr ein Vulkan erbreche, der eine Insel nach sich zieht«
1 Siehe hierzu auch David Doells Text in diesem Heft