Von Matthias Ubl
»Ich schlage also vor, zu sagen, dass wir ins Zeitalter der Aufstände eingetreten sind, womit sich ein Erwachen der Geschichte ankündigt und konstituiert, gegen die reine und bloße Wiederholung des Schlimmsten.« 1
0. Ohnmacht, Anfangen.
Im Angesicht des unaufhörlichen und qualvollen Sterbens der Menschen an den Außengrenzen Europas, der militärischen Abriegelung dieses Kontinents, der Wiederkehr des Faschismus und der unaufhaltsamen ökologischen Zerstörung der Erde und des Menschen durch den rastlosen Kapitalismus – und schon dieser Satz scheint falsch, weil er das Leid und den Schrecken des von ihm Bezeichneten nicht zum Ausdruck bringen und seine Logik der Aufzählung den immanenten Zusammenhang all dieser Entwicklungen nicht berühren kann – im Angesicht also dieser Gewalt(-en), scheint uns die eigene Ohnmacht (auch die sprachliche) zu ersticken. Gleichzeitig gibt es Widerstand, Riots, Aufstände. Von Buenos Aires über Hamburg nach Paris zirkulieren sie über den Erdball wie die Waren- und Geldströme des Kapitals. Es dämmert uns, dass mit diesem System etwas nicht stimmt. Menschen werden obdachlos, weil zu viele Wohnungen gebaut werden. Sie hungern, weil zu viele Lebensmittel produziert wurden.2 Acht Männer haben so viel Geld wie 3,6 Milliarden Menschen. Eine Milliarde Menschen leben heute als »Überflüssige« in Slums. Die Irrationalität der kapitalistischen Verhältnisse ist kaum zu karikieren.
Doch die Streiks, Riots, sozialen Bewegungen usw. sind im Moment noch schwach und ihre Wirkung zeitlich und lokal begrenzt. Sie verweisen in sich auf eine andere Zukunft, sind gleichsam ihre Vorboten, können jedoch noch keine revolutionäre oder transformierende Kraft entfalten. Wir sind noch zu wenige und zu zerstreut. Vor allem im Auge des Sturms, im Krisengewinnerland Deutschland. Die Frage stellt sich also, wie und wo wir anfangen sollen, eine andere Zukunft vorzubereiten. Denn wenn etwas alternativlos ist, dann diese. Dieser Text stellt die Frage, ob die Universität ein geeigneter Ort für die Organisation eines Neuanfangs sein kann. Es soll die Logik einer Politik an den Hochschulen skizziert werden, die in letzter Instanz auf die oben beschriebene historische Situation und die Abschaffung des Kapitalismus und seiner Verheerungen bezogen ist. (Denn was sonst sollte Sinn von Politik sein?) Des Weiteren soll ausgeführt werden, warum die universitäre Praxis heute eine neue »Poesie der Bewegung« entwickeln muss. Einen gewissen Größenwahn will sich der Autor bei all dem nicht abgewöhnen.
1. Was einst die Fabrik war, ist nun die Universität3
Warum radikale Politik ausgerechnet an der Uni? Stellen die studentischen Subjekte nicht potentiell die herrschende Klasse, die keine Veränderung will? Ist die Universität nicht nur eine kleine, elitäre Institution zur Ausbildung der Ware Arbeitskraft? Ich glaube, wir müssen die Lage der Universität zu Beginn des 21. Jahrhunderts neu denken. Knapp 52 Prozent der Schüler*innen eines Jahrgangs beginnen heute in Deutschland ein Studium an einer Hochschule oder einer Universität. 2010 waren es noch 46 Prozent – die Tendenz ist weiterhin steigend.4 Zum Vergleich: Im Jahre 1970 (also kurz nach Beginn der 68er Revolte) waren es gerade einmal 12 Prozent. Die Universitäten von heute – so legen es diese Zahlen nahe – sind also längst nicht mehr die elitären Bildungsinstitutionen der Wenigen, für die sie vor allem Linke oft noch halten. Vielmehr müssen wir von der Universität als einem zentralen Ort der Ausbildung und Subjektivierung sprechen. Im »kognitiven Kapitalismus« ist die Universität darüber hinaus die zentrale Produktionsstätte der Ware »Wissen«. »Welcome to the machine«, so werden, in einer Karikatur des Satirikers Gerhard Seyfried, die Student*innen in der »Wissensfabrik« begrüßt. Gehen wir näher auf die Analogie von Universität und Fabrik ein.
Mit der Formierung der klassischen Industriearbeiter*innenschaft am Ende des 19. Jahrhunderts wurde die Fabrik zum zentralen Ort des Konflikts zwischen Kapital und Arbeit, der Streik das übliche Mittel des Kampfes. Um sie herum bildete sich eine widerständige Kultur des »Proletkults« (Volksbühne, Arbeiterlesezirkel usw.). Spätestens seit den 1970er Jahren ist diese formierte Arbeiterklasse jedoch verschwunden, wurde – zumindest in den meisten Ländern des globalen Nordens – sozialstaatlich eingehegt. Mit dem Postfordismus nimmt der »Exodus der Arbeiter aus der Fabrik« endgültig seinen Lauf5. Die Produktion diffundiert in die Gesellschaft – eine Entwicklung, in der die Zirkulation gegenüber der Produktion enorm an Bedeutung gewinnt. Viele Arbeitskräfte arbeiten nicht mehr in Bereichen der klassischen industriellen Produktion, sondern in Vertrieb, Werbung, Logistik, Dienstleistung, digital economy usw. (Hiermit geht auch der massive Bedeutungszuwachs des finanziellen Sektors einher.) Genau diese Zerstreuung der Lohnabhängigen und die damit einhergehende Entsicherung und Monadisierung schwächt auch deren Position im Arbeitskampf. Meine These wäre nun, dass auf den Exodus der Arbeiter*innen aus der Fabrik der Introitus (also Einzug) derselben in die Universitäten folgt – zumindest temporär, da sie dort für den neuen Arbeitsmarkt qualifiziert werden. Damit konzentriert die Universität die Subjekte räumlich-zeitlich an einem Ort und stellt auf diese Weise (auch hier der Fabrik nicht unähnlich) eine Art geteilten öffentlichen Raum her, wie er in weiten Teilen der Gesellschaft zerfallen ist. Wenn all das stimmt, dann beerbt die Universität in gewisser Hinsicht auch die Fabrik als ausgezeichneten Ort des gesellschaftlichen Konflikts. Wie ist das zu verstehen? Einerseits – insofern die Universität auch für Student*innen zum Arbeitsplatz wird – ist damit der »klassische« Arbeitskampf um Lohn und Arbeitsbedingungen gemeint. Andererseits – insofern die Universität weiterhin ein »ideologischer Staatsapparat« (Althusser) ist – geht es zugleich um einen »Kampf um die Subjekte«. Denn die Universität bildet die Studierenden nicht nur zu gut funktionierenden Arbeitskräften aus, sie besorgt auch deren ideologische Anpassung an die kapitalistische Wirtschaftsweise. Jene Anpassung funktioniert natürlich nie reibungslos. Und kritisches Denken, Forschen und Leben bedeuten gerade den Kampf gegen diese ideologische Zurichtung. Als »geteilter öffentlicher Raum« ist die Universität außerdem ein ausgezeichneter Ort für politische Kampagnen. All das ist die Uni natürlich nicht erst seit gestern. Mit der Veränderung des makro-ökonomischen Rahmens und der Stellung der Uni in diesem (und ich gehe davon aus, dass die Digitalisierung der Produktion die hier beschriebene Tendenz noch verstärken wird), ändert sich aber die Rolle, die sie strategisch in unserer Politik spielen sollte. Zusammenfassend möchte ich Caffentzis und Federici zitieren:
»War einst die Fabrik ein paradigmatischer Ort des Kampfes zwischen ArbeiterInnen und KapitalistInnen, so ist heute die Universität ein wesentlicher Ort des Konflikts um den Besitz von Wissen, die Reproduktion der Arbeitskraft und die Herstellung sozialer und kultureller Stratifizierung. Denn die Universität ist nicht einfach eine weitere Institution, die der staatlichen und gouvernementalen Kontrolle unterworfen ist, sondern ein entscheidender Ort, an dem breitere soziale Kämpfe gewonnen und verloren werden.«6
Man möchte der radikalen Linken zurufen: »Hier sind die Leute, hier tanze!«
Die Universität bildet also eine Art »konfliktive Durchlaufstation«. Eine starke Linke, die auf diese Konflikte einwirkt, sie verschärft und andererseits eine Art »kulturelle Hegemonie« an der Uni erlangt, hätte also – so wäre meine Wette – gute Chancen auch entscheidende, emanzipatorische Impulse in den Rest der Gesellschaft zu tragen. Entscheidend hierfür wäre auch, dass große postautonome Bündnisse wie die Interventionistische Linke und …ums Ganze! sich wieder mehr auf die Universität konzentrieren würden. Paradoxer Weise will man in diesen Gruppen ja über die »Szenegrenzen« hinaus Politik machen, tut dies aber nicht dort, wo es (habituell zum Beispiel) am naheliegendsten wäre. Dort, wo auch ein großer Teil der Aktivist*innen »herkommt« und wo – wie gesagt – ein großer Teil der Lohnabhängigen heute ausgebildet wird.
Doch wie sieht unsere konkrete Situation an der Uni aus? Die Linke schreibt sich wieder kontinuierlich – wenn auch oft konspirativ und zerstückelt – in die Strukturen der Universität ein, sei es durch die Besetzung von AStA-Stellen, im Stupa, durch studentisch organisierte Marx- oder Butler-Lesekreise und Projekttutorien. Sie kritisiert geschlechtsspezifische Machtverhältnisse. Sie blockiert Veranstaltungen der AfD oder stört die von rechten Professoren. Seit einigen Jahren gibt es an vielen deutschen Unis wieder selbstorganisierte kritische Orientierungswochen. Es haben sich lose (post-)autonome Gruppen gegründet sowie eine radikale Basisgewerkschaft in Frankfurt, die die Uni in rätedemokratische Strukturen bringen will, und auch der Mittelbau beginnt sich zu organisieren. Ebenso gibt es viele linke wissenschaftliche Mitarbeiter*innen und Dozent*innen, die wichtige Arbeit leisten. In Berlin kämpfen die studentischen Beschäftigten seit langem für einen besseren Lohn. All diese Initiativen laufen jedoch im Moment noch relativ unverbunden nebeneinander her. Sie sind in bestimmter Hinsicht unorganisiert und nicht in der Lage, sich längerfristige Ziele zu setzen und politische Strategien zu entwickeln, die aus der Rebellion eine Bewegung entstehen lassen könnten. In vielerlei Hinsicht sind wir zu gespalten und zerstritten und viele Aktivist*innen sind in anderen politischen Zusammenhängen außerhalb der Uni aktiv. Ich glaube, dass es diesbezüglich einen Paradigmenwechsel braucht. Wie kann also eine Politik ums Ganze an der Universität aussehen?
2. Linke Infrastruktur und die Politik des Konflikts
Ich möchte nun zunächst zwei Bereiche skizzieren, die eine radikale Politik an der Uni umfassen müsste, um dann durch sie eine Logik der »Politik des Konflikts« zu entwickeln, die auf das »Ereignis« verweist. Ich lehne mich hierfür an den Ereignisbegriff von Alain Badiou an, »löse« ihn aber aus seinem strengen philosophischen Rahmen, dessen Erläuterung ich an dieser Stelle nicht leisten kann. Ich benutze den Ereignisbegriff hier, um mit ihm eine »kognitive Karte« für radikale universitäre Politik zu zeichnen, bzw. diese im Kontext eines Ereignisses zu lokalisieren. Meine These wäre dann, dass durch die intensivierte, aktivistische Arbeit in den Bereichen (a) der Organisation und (b) des Konflikts an der Universität ein »fruchtbarer Boden« für das Sich-Ereignen des Ereignisses bereitet werden kann.
Das Ereignis markiert für Badiou immer einen Bruch oder eine Revolution. Historische Beispiele sind die Selbstermächtigung des Proletariats oder die Subjektivierung, die der Feminismus hervorgebracht hat. Hier kommt durch ein oder mehrere Ereignisse (durchaus materialistisch gedacht) ein »überzähliger Signifikant« ins Spiel, der etwas Ausdruck verleiht, was vorher strukturell ausgeschlossen blieb – ja, nicht einmal gedacht werden konnte. Wir können im Vorhinein natürlich noch nicht sagen, worin das Ereignis »genau« bestehen wird. Es ist uns aber möglich, dem Ereignis die Treue zu halten (auch den vergangenen genannten) in dem wir eine – wie Badiou sagen würde – »Politik der Wahrheit« entwickeln, also eine Politik, die an emanzipatorischer Veränderung festhält. Ich schlage im Folgenden die Einteilung unserer Praxis in einen Bereich (a) und einen Bereich (b) vor, die in Wirklichkeit Momente einer fortschreitenden wellenartigen Bewegung sind.
a) Organisation / Bildung:
Wie oben erwähnt, gibt es zahlreiche linke Initiativen an der Universität, die allerdings alle relativ vereinzelt arbeiten und somit bisher auch kaum eine gemeinsame Schlagkraft entwickeln können. Gleichzeitig haben diese Einzelinitiativen zumindest in Berlin Zulauf. Die Veranstaltungen der kritischen Orientierungswochen sind immer extrem gut besucht. Es gelingt auch, auf Dauer Einzelne in die autonomen Unigruppen einzubinden. Hieran gilt es anzuknüpfen. Es müsste gelingen, die in den Orientierungswochen angesprochenen Student*innen in weitere selbstorganisierte Zusammenhänge einzubinden. Von der aktivistischen Kleingruppe bis zum Lesekreis, der fachorientierten kritischen Gruppe (kritische Jurist*innen o.Ä.) bis zu linken Sportgruppen oder Projekttutorien ist einiges denkbar. Entscheidend wäre auch hier eine Vernetzung dieser Zusammenhänge, die sie wiederum als bloße Affinitätsgruppen und Freundeskreise transzendiert. Aus dieser Vernetzung müssten regelmäßige Bündnistreffen, Kongresse und Veranstaltungen hervorgehen, auf welchen über den aktuellen Stand der Politik usw. diskutiert werden kann. Immer wieder müsste auch (zum Beispiel in den Fachschaften) Werbung für Veranstaltungen gemacht werden. Und es müssten neue Agitationsformen entwickelt werden, die unpolitische Student*innen ansprechen, ohne an Radikalität zu verlieren. Ein Kulturangebot – von der Zeitung bis zum Kneipenabend – müsste her. Denkbar ist auch ein autonomes Bildungsnetzwerk mit kritischem Vorlesungsverzeichnis usw. Auch über Vorfeldgruppen für größere, außeruniversitäre politische Zusammenhänge ist nachzudenken. Die Einzelgruppen müssten sich auch wieder stärker im Stupa einbringen. Stupa-Arbeit ist Reproduktionsarbeit der Initiativen sowie der »wilden Struktur«, die mir vorschwebt. Diese Struktur muss aber auch über die Grenzen der Universität hinaus »wuchern«. Die oben skizzierte Prekarisierung des Arbeitsmarktes und die Desintegration der Lohnabhängigen bringt schließlich auch an anderen Stellen neue Konflikte hervor. Zu suchen wären diese zum Beispiel im Pflege- und Carebereich – so unterstützten Studierende von FU und HU das streikende Personal der Charité. Ein weiteres Beispiel ist die Unterstützung der Streikenden bei Amazon (also im immer weiter an Bedeutung gewinnenden Logistikbereich), die in den letzten Jahren vor allem von Studierenden der Uni Leipzig organisiert wurde. Hier bräuchte es nicht nur Vernetzung und gegenseitige Unterstützung, sondern auch einen Austausch über gemeinsame widerständige Praxen und die Möglichkeit der Verbindung und Ausweitung von Kämpfen.
b) Konflikte:
Die letzten Jahre haben gezeigt: die Konflikte kommen von selbst. Seit dem Bildungsstreik 2009 ist es niemals wirklich ruhig geworden. Intern waren an der HU zum Beispiel Auseinandersetzungen um rechte Professoren und der immer noch andauernde Tarifkonflikt der studentischen Beschäftigten aktuell. Auseinandersetzungen können sich weiterhin über den Erhalt oder die Eroberung linker Räume innerhalb der Uni oder, wie jüngst geschehen, an der versuchten Absetzung eines kritischen Dozenten entzünden. Falls die FDP in den nächsten Jahren an Stärke gewinnen sollte, ist außerdem punktuell wieder mit der Einführung von Studiengebühren zu rechnen. Zudem wird sicherlich immer wieder versucht werden, Kürzungen im Mittelbau, in der studentischen Selbstverwaltung und bei sog. »Exotenfächern« bzw. deren Fakultäten vorzunehmen. Hier müssen Proteste, Besetzungen und Störungen des normalen Betriebs organisiert werden. Auch anderweitige Überschreitungen und Aktionen, die die Regeln des gesetzlich Erlaubten etwas lockerer auslegen, sind zu begrüßen, da sie unverzichtbar für die Entwicklung widerständiger Subjekte sind. Politische Aktionen können natürlich auch von der Uni ausgehen und sich auf außeruniversitäre Themen beziehen, zum Beispiel die Solidarität mit Geflüchteten. Im Sinne einer strategischen Kampagne könnte zum Beispiel auch gegen unbezahlte Zwangspraktika protestiert werden, worauf Christiane Kleinschmidt in der letzten Ausgabe der HUch hingewiesen hat. Hieran ließe sich auch allgemein die Angewiesenheit zum Beispiel des Berliner Kulturbetriebs auf solche unbezahlten Jobs skandalisieren. Die erfolgreiche (b) Arbeit des Konflikts, setzt dabei eine starke (a) linke Infrastruktur voraus, wobei ein intensiver Konflikt wiederum den Zulauf und den Ausbau der organisierten Struktur anregt. Durch die Konflikte müssten Schritt für Schritt Verbesserungen der eigenen Lage erreicht werden – d.h. mehr studentische Projekttutorien, mehr Geld für Stupa und AStA, mehr Gruppen usw.
Die Hoffnung wäre nun, dass sich auf Grundlage einer etablierten linken Infrastruktur (a) und infolge ausgefochtener Konflikte (b) gewissermaßen etwas Unvorhergesehenes ereignet – eben das Ereignis, das den bisher zerstreuten Aktivist*innen, Prekären und Ausgeschlossenen ihren Platz im politischen Diskurs und damit im politischen Kampf zuweist. Und war nicht die ISW-Besetzung ein solches kleines, mikropolitisches Ereignis? Letztlich entstand aus einem nicht wirklich bedeutsamen Konflikt (der Entlassung eines sympathischen Dozenten und potentiellen Staatssekretärs für Stadtentwicklung) eine Besetzung, die neue Formen von politischen Bündnissen und Ideen hervorbrachte und damit eine neue Dynamik universitärer Politik an der HU zeitigte. In der Besetzung haben sich Menschen zusammengefunden, die für eine radikale Veränderung von Universität und Gesellschaft eintreten – also für das, worüber im offiziellen politischen Diskurs (sowohl in der Uni als auch größtenteils in der Gesellschaft) nicht gesprochen werden kann und wofür es noch keine geeinte politische Kraft gibt. Worin liegt aber die Macht eines solchen Ereignisses – einer Besetzung oder auch einer größeren Demonstration? In ihr findet eine »Intensivierung subjektiver Energie« (Badiou) statt. Alle arbeiten mit, man organisiert, blockiert, pleniert usw. Man begeistert sich. Diese Energie potenziert sich und führt zu etwas Neuem. Erreicht ein Ereignis wirklich eine kritische Größe, birgt es ein Element von »vorschreibender Universalität«7. Das heißt, ich zitiere Badiou:
»Der Komplex der Lokalisierung, der für die ganze Welt [oder die Uni, M.U.] zum Symbol wird, und der Intensivierung, die neue Subjekte erschafft, führt zu einem massiven Zulauf, und jeder, der eine Ausnahme davon bildet, steht sofort unter Verdacht. Unter Verdacht, gemeinsame Sache mit den alten Despoten zu machen.«8
Beim Aufbau einer universitären Bewegung müssen wir auf diese Dynamik vertrauen. Es geht letztlich darum, dass sie den Anstoß für eine gesamtgesellschaftliche, radikale, antikapitalistische Politik geben muss. Noch einmal sei hier Badiou zitiert:
»Aber wer hat jemals einen Aufstand gesehen, in dem die Alten in der ersten Reihe standen? Die studentische Jugend aus dem Volk ist überall, wie man es in China 1966-67, in Frankreich 1968, aber ebenso auch 1848, zu Zeit der Fronde, bei der Revolte der Taipings gesehen hat, und letztendlich immer und überall der harte Kern der Aufstände.«9
Noch sind wir nicht so weit. Vielleicht stimmt es, dass wir eine »Generation des Übergangs« sind, wie Milo Rau es neulich in einem Interview über sein neues Lenin-Stück an der Schaubühne sagte. Noch spüren wir die Folgen des Klimawandels nicht in voller Härte. Noch haben die meisten von uns Geld und Arbeit. Doch denken wir nur einmal globaler – schon wird sie schlagartig kraftlos, die Erzählung vom Ende der Geschichte. Aber welches alternative Narrativ haben wir als Bewegung anzubieten? Es fehlt an Visionen und an einer neuen »Poesie der Bewegung«, die genau auch die Erfahrung der Kluft zwischen unserer jetzigen, noch schwachen Position und der historisch zu leistenden Aufgabe sagbar macht, ohne fatalistisch zu werden. Darum soll es im letzten Teil dieses Essays gehen.
3. Poesie der Bewegung
Wie und wo anzufangen ist, das habe ich versucht aufzuzeigen, indem ich eine Politik des Konflikts skizziert habe. Wie verhindern wir aber, dass der oben genannte Modus sich in den kleinen Aktionen und Kämpfen verliert, die Gruppen zu Freundeskreisen, die Subjekte wieder zu Konsummonaden degenerieren? Wie verhindern, dass wir uns in politischen Differenzen verlieren und verfeinden und letztlich in der Autoaggression enden, die zumindest die politische Situation an der HU und der linken Szene lange Zeit geprägt hat? Meines Erachtens braucht es eine lebendige »Poesie der Bewegung«, die gewissermaßen das Gegenteil zum verschriftlichten und damit versteinerten »Gruppen- und Selbstverständnis« wäre. Ich beziehe mich, wenn ich von »Poesie« spreche, auf die im Sommer erschienene Studie zum romantischen Antikapitalismus im Vormärz, die Patrick Eiden-Offe vorgelegt hat. Die »Poesie der Klasse« ist die titelgebende Bezeichnung für die literarische Verarbeitung der Erfahrungen des »buntscheckigen Haufens« (Marx), als welcher sich das Proletariat zu der Zeit des Vormärz und der beginnenden Industrialisierung darstellte. Eiden-Offe untersucht in seiner Studie zahlreiche Texte, die sich »der Selbstinterpretation der Erfahrung« der zu Beginn der Industrialisierung proletarisierten, also »enteigneten«, »unterminierten« »desorganisierten« Bevölkerungsschichten, des zerfallenden Handwerker- und Gesellentums, der Prostituierten, landlosen Bauern, Paupern usw. widmet. Eiden-Offe untersucht dabei verschiedenste literarische Werke (im weiten Sinne des Begriffs). Von Autoren wie Tieck und Heine über die stark an der Arbeiter- und Gesellentradition orientierten Frühsozialisten Weerth und Weitling bis zu Pamphleten und Zeitschriften wie dem Hessischen Landboten und dem Gesellschaftspiegel. Eiden-Offes Studie geht davon aus, dass die »objektiven Bedingungen«, also reale, ökonomische Prozesse (der Enteignung usw.) nicht einfach allein und automatisch zur Bildung von »Klasse« und Klassenbewusstsein geführt haben. Er schreibt:
»Man muss sich davor hüten, primäre und sekundäre Aspekte von Klassenbildung – kurz: Basis und Überbau – allzu eilfertig sortieren zu wollen und so deren Gewichtung immer schon vorauszusetzen. Dabei geht diese Untersuchung durchaus von einem ›objektiven‹ Klassenbegriff aus, der von ökonomischen Prozessen und deren politischer und juridischer Moderation bestimmt wird. Aber die ›subjektive‹ Dimension dieses Prozesses; die Art und Weise, wie die ›objektiven‹ Bedingungen imaginär bearbeitet und damit kulturell lebbar, wie sie verstehbar und überhaupt erst vorstellbar gemacht werden, wird von den objektiven Bedingungen nicht determiniert.«10
Eiden-Offe räumt der theoretischen, aber vor allem auch der literarischen Produktion eine Rolle in der Klassenbildung und damit im Prozess der Formierung von Widerstand ein. Die Anstrengung des Begriffs, die von Marx und Engels im Laufe ihrer langjährigen Arbeit begonnen wurde, hat sich erst in der Poesie der Klasse und gegen diese entwickeln können. Sie baut gewissermaßen auf ihr auf. Mit jener und der Formierung einer organisierten Industriearbeiterschaft schwanden jedoch die bunten Gesellen und ihr romantischer Antikapitalismus. Dem »buntscheckigen Haufen« folgte die Homogenisierung des Arbeiter*innenklasse (sowohl politisch, ökonomisch als auch imaginär) hin zum »klassischen« Proletariat. Dieses wurde im Fordismus jedoch zunehmend sozialstaatlich eingehegt und gesellschaftlich integriert und verlor damit seine politische Schlagkraft. Seit mehreren Jahrzehnten befinden wir uns jetzt jedoch wieder in einer Phase der Erosion genau dieser sozialen Garantien. (Wovon oben schon die Rede war.) Und hierin liegt die von Eiden-Offe benannte »inverse Aktualität« des Vormärz:
»Was nach dem Ende dieser formierten Arbeiterklasse kommt, ist das Proletariat in einer wieder rohen, ausgewilderten, heterogen-buntscheckigen Form. Die stetige Erosion des ›Normalarbeitsverhältnisses‹ treibt Klassenfigurationen hervor, die denen des Vormärz immer mehr ähneln. Es sind unreglementierte, ›ungarantierte‹, immer nur vorläufige Arbeitsverhältnisse; Arbeitsverhältnisse, die eine strukturelle Überqualifikation der Arbeitskraft – wie im Vormärz bei den Handwebern und Tuchscherern … – mit systematischer Überausbeutung verbinden.«11
Erinnern wir uns an den ersten Teil dieses Essays: Die Universität ist der Ort, der uns ideologisch und ausbildungstechnisch für diese Arbeitsverhältnisse fit machen soll.
Nehmen wir also die hier entwickelten Gedanken auf: Auch wir brauchen eine neue Poesie der Bewegung und der Klasse. Sie müsste unseren partikularen Politiken eine gemeinsame, große, antikapitalistische Erzählung stiften, es also schaffen, unsere universitäre »Politik des Konflikts« und deren Anstrengungen in den Kontext anderer emanzipatorischer Ansätze und Bewegungen zu stellen, die Verwandtschaft verschiedener sozialer Bewegungen und deren Verbindungen erzählen. Sie müsste uns zu verstehen helfen, dass unsere »Politik des Konflikts« an der Universität letztendlich nicht der Verbesserung dieses oder jenes Missstandes gilt, sondern dass sie unser Versuch ist, systematisch widerständige Subjektivitäten, herrschaftskritisches Wissen und eine Teilbewegung zur Veränderung des falschen Ganzen hervorzubringen. Sie müsste es gleichzeitig – im Sinne des Vormärz – aufnehmen, an einer neuen Erzählung von »Klasse« zu arbeiten, in der die vom Bafög zehrende Studentin, der überarbeitete Pfleger, die Foodora-Fahrerin, die Späti-Verkäuferin, Geflüchtete und Depressive gleichermaßen Platz haben. Überall sind Proletarisierte, aber nirgendwo werden sie als Klasse imaginiert. Diese Erzählung muss natürlich auf die marxsche Begriffsbildung bezogen bleiben, diese aber nicht verdinglichen, sondern sie auf die neuen historischen Verhältnisse anwenden und wo nötig auch dehnen. Diese Erzählung kennt natürlich keine einzelne Autor*in. Vielmehr muss sie – gleich der »wilden Struktur« und der massiven essayistischen Produktion der 68er – eher plural, vielstimmig und doch als aufeinander bezogen gedacht werden. Bini Adamczak schreibt über die Texte der 68er, sie seien weniger Welterklärungsmodelle sondern »sie helfen, die Frage nach den entstehenden Fluchtlinien der Emanzipation zu beantworten, danach also, wie aus dem gesellschaftlichen Gefüge von Herrschaft, Widerstand und Begehren Konzepte von einem anderen Leben geboren werden.«12
Die neue Poesie von Bewegung und Klasse ist also auf der einen Seite immer schon theoretische Arbeit, auf der anderen Seite aber deren narrative und imaginäre Vermittlung. Sie darf sich nicht auf vorgefertigte verdinglichte Begriffe und Erzählungen verlassen, muss sowohl den Jargon der Epigonen kritischer Theorie, als auch den alt-eingestaubten der orthodoxen Marxist*innen vermeiden. Ja, es geht hier um Stil – einen Stil gegen die »dumpfe Orgie von Zynismus, Ironie und Brutalität« (Pasolini). Die Mittel der Wahl reichen vom Manifest über Erfahrungsberichte, Essays, Prosa, Lyrik und natürlich auch Filme usw. bis zur (Nicht-nur-)Theorie-Zeitschrift, wie die HUch eine sein will. Im Falle explizit literarischer oder künstlerischer Produktionen müsste es eine Diskussion darüber geben, wie eine neue »revolutionäre Ästhetik« aussehen kann. Und natürlich gehört zu jeder künstlerischen und literarischen Anstrengung auch deren Kritik.
Die Poesie der Bewegung und der Klasse muss dabei eine antikapitalistische sein. Aber nicht weil das cool ist, sondern weil die Abschaffung der herrschenden Eigentumsverhältnisse die einzige Aussicht auf eine wirkliche Befreiung von der eingangs beschriebenen katastrophischen Gegenwart verspricht. Um es noch einmal zu betonen: eine solche »Poesie«, also die massive Produktion von emanzipatorischen und kritischen Narrativen, die die Verheerungen der »objektiven« ökonomischen Prozesse imaginativ verstehbar macht, muss an eine Praxis gebunden sein (in unserem Fall die universitäre Politik des Konflikts), wenn sie gegen das Meer an Information und die kulturindustrielle Verblödungsmaschine eine Chance haben will.
Ich möchte hier noch ein Beispiel dafür nennen, wie ein Baustein für die hier skizzierte Poesie der Bewegung aussehen kann. Vor ein paar Monaten ist auf der Internetseite des Deutschlandfunks ein Artikel von Raul Zelik mit dem Namen »Postkapitalistische Perspektiven« erschienen. Zelik gelingt es zu zeigen, warum wir eine radikale Alternative brauchen und wo sich schon Bewegungen zu ihrer Verwirklichung aufmachen.13 Zelik (wohl nicht zufällig ein Schriftsteller) schafft das in einem bürgerlichen Medium, ohne auch nur ein Mal in irgendeinen, der nichtlinken Restwelt verschlossenen Jargon zu verfallen. Für mich stellt Zeliks Essay aus dem Grund so ein gutes Beispiel dar, dass es ihm hier gelingt, in einer »neuen Sprache« zu »erzählen«, warum wir eine radikalen Wandel brauchen. Es ist eine gewisse poetische Anstrengung nötig, um das in einer auch Nichteingeweihten offenstehenden Form zu leisten.
Ein anderes Beispiel sind die Pamphlete des Unsichtbaren Komitees. Diese glänzen stilistisch auf ganz andere Art und sind vielleicht ein »dunkles« Gegenstück zu Zeliks Text. Sie schaffen eine Poesie des radikalen Bruchs, des Aufstands. Und noch eine weitere »neue Sprache« hat Bini Adamczak mit Gestern Morgen und ähnlichen Texten entwickelt, die wiederum ein trauerndes Verstehen unseres historischen Erbes möglich machen. Das im strengen Sinne literarische Pendant zu diesen essayistischen Texten fehlt jedoch bisweilen. Wo sind sie, die neuen radikalen Schriftsteller*innen? Wo werden sie stehen, zwischen Realismus und Avantgarde? Und wo sind die neuen Aktivist*innen, die mit diesen den Widerstand organisieren und sich von der Poesie der Bewegung Hoffnung und Trost spenden lassen?
1 Badiou, Alain: Das Erwachen der Geschichte. Paris, 2011.
2 Ich borge mir diese Formulierung aus der Einleitung von »Nach Marx« Hg. von Rahel Jaeggi und Daniel Loick.
3 Hierin sind sich namenhafte Theoretiker*innen wie Silvia Federici, George Caffentzis und Gerald Raunig einig, wie die Debatte um die edu-factory zeigte. Einige Texte dieser Debatte sind hier zu finden: http://eipcp.net/transversal/0809.
4 Alle Zahlen aus: Seeliger, Berthold: Klassikkampf. Ernste Musik, Bildung und Kultur für alle. Berlin, 2017.
5 Vgl. Raunig, Gerald: Im Modus der Modulation. Fabriken des Wissens. HUch No87.
6 Federici, Silvia; Caffentzis, George: Anmerkungen zur edu-factory und zum kognitiven Kapitalismus. http://eipcp.net/transversal/0809/caffentzisfederici/de. Letzter Zugriff am 01.11.2017.
7 Badiou, Alain: Das Erwachen der Geschichte. Paris, 2011. Badiou schreibt diese Zeilen natürlich mit Blick auf seine eigenen Erfahrungen ’68. S.69
8 Ebd. S. 69
9 Ebd. S. 33
10 Eiden-Offe, Patrick: Die Poesie der Klasse. Romantischer Antikapitalismus und die Erfindung des Proletariats. Berlin, 2017. S. 24
11 Ebd. S. 37
12 Adamzcak, Bini: Beziehungsweise Revolution. 1917, 1968 und kommende. Berlin 2017, S. 198.
13 http://www.deutschlandfunk.de/oekonomisches-weltsystem-postkapitalistische-perspektiven.1184.de.html?dram:article_id=377145