Von Raul Zelik
2016 lautete einer der am häufigsten zu hörenden Sätze: Die Welt ist aus den Fugen geraten. Und wirklich: In einer ganzen Weltregion von der westafrikanischen Sahelzone bis an die Grenzen Chinas herrscht Krieg. Hunderte Millionen Menschen rätseln, wie sie in ein besseres Leben emigrieren können, ohne auf dem Weg zu ertrinken. In den Megacitys des globalen Südens ist der Drogenhandel zur einzigen Aufstiegsoption für Menschen aus der Unterschicht geworden; als Folge davon zerfallen Rechtssysteme und Gemeinschaften. Und in den wohlhabenden Ländern des Nordens schließlich hofft ein wachsender Teil der Bevölkerung, sich von diesen unheilvollen Entwicklungen durch die Errichtung von Grenzzäunen abkoppeln zu können.
Dazu kommen der Klimawandel, das Erstarken des religiösen Fanatismus – längst nicht nur in muslimischen Gesellschaften –, wachsende geopolitische Spannungen sowie die rasante Entwicklung der Kriegs- und Überwachungstechnologien, die ganz neue Formen von Zerstörung und autoritärer Herrschaft möglich machen.
Eigentlich liegt auf der Hand, was in einer solchen Situation zu tun wäre: Wenn das Alte stirbt, muss darüber gesprochen werden, wie etwas Neues aussehen könnte. Wir brauchen Antworten auf die wachsende globale Ungleichheit; brauchen Strategien der Sorge, die die Zerstörung der Natur und den Zerfall von Gesellschaften stoppen; eine Politik, die die Spirale der Militarisierung unterbricht und Sicherheit wieder als soziale Frage definiert. Doch wie lässt sich darüber reden, ohne in einen verträumten, wirklichkeitsfernen Utopismus zu verfallen?
Kapitalismus als Motor bei der Verschärfung von Einzelkrisen
Zunächst muss man wohl erklären, was die Einzelkrisen überhaupt miteinander zu tun haben. Denn auf den ersten Blick haben der Krieg in Syrien und der mexikanische Drogenhandel, Massenmigration und das Erstarken des Rassismus sehr unterschiedliche Ursachen. Doch wenn man gedanklich einen Schritt zurückmacht, um sich die Lage vor Augen zu führen, lässt sich ein Gesamtzusammenhang nicht übersehen: Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit leben wir in einem echten Weltsystem. Wir kaufen dieselben Marken, shoppen in den gleichen Einkaufszentren, stehen länger als eine Stunde täglich im Stau und folgen – das ist das Entscheidende – einem identischen Handlungskalkül: Gut ist, was sich in Geldwerten auszahlt.
Die Unterschiede, die es natürlich nach wie vor gibt, haben vor allem mit dem Einkommen zu tun. Das Leben der Oberschicht in Brasilien, Nigeria oder Saudi-Arabien ähnelt dem amerikanischen Vorbild in vieler Hinsicht verblüffend. Anders ausgedrückt: Wie stark wir unsere nationale Identität und persönliche Individualität auch betonen mögen, unsere Verhaltensweisen werden doch maßgeblich von einem ökonomischen Gesamtsystem diktiert – das sich durch einen Weltmarkt, transnationale Arbeitsteilung und den Zwang zur Mehrung des eingesetzten Kapitals auszeichnet. Und eben dieses ökonomische System namens Kapitalismus stellt einen Motor bei der Verschärfung der vielfältigen Einzelkrisen dar.
Inwiefern? Da ist erstens die ihm eigene Schrankenlosigkeit: Wenn unserem ökonomischen System ein Handlungsprinzip eingeschrieben ist, dann ist es das der räumlichen und quantitativen Expansion – und das bereits seit dem Aufkommen der ersten Welthandelsmächte im 14. Jahrhundert. Diese Schrankenlosigkeit bedeutet: Alle Menschen werden in globale Arbeitsteilung und Konkurrenz hinein gezwungen, und die produzierten Werte sollen ins Unendliche wachsen. Das Problem daran ist, dass das stofflich unmöglich ist, weil Werte und Güter auf einem begrenzten Planeten nicht unbeschränkt wachsen können; und dass zum anderen eine Weltgesellschaft entsteht, die in sich tief gespalten ist.
Denn hier ist man sofort bei der zweiten großen Eigenschaft unseres ökonomischen Systems. Es tendiert dazu, soziale Widersprüche extrem zu verschärfen. Heute besitzen die 85 reichsten Menschen, nach anderen Berechnungen sind es gar nur acht, so viel wie die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung, also 3,5 Milliarden Menschen, zusammen.
Und genau diese Verbindung wiederum ist verantwortlich für die Migrationsströme, über die heute so viel gesprochen wird: Ein Drittel der Weltbevölkerung lebt nach wie vor von Landwirtschaft. Weil sich Kleinbauern auf dem Weltmarkt nicht gegen die industrielle Agrarproduktion behaupten können, verlieren Hunderte Millionen Menschen ihre Lebensgrundlage. Wer sich ein realistisches Bild von den Migrationsbewegungen der Gegenwart machen will, dem sei ein Besuch in einem der Mega-Slums des globalen Südens empfohlen. In den Elendsvierteln von Mumbai, Kinshasa oder Bogotá kann man ermessen, wie wenig unsere Weltwirtschaft trotz des produzierten Reichtums in der Lage ist, auch nur elementarste Bedürfnisse zu befriedigen. Eine Milliarde Menschen leben heute als »Überflüssige« in Slums.
Und auch die Rückkehr des scheinbar Vormodernen – der Zerfall von Staaten, der Fanatismus, die Bürgerkriege – hat mit diesem Mechanismus zu tun. Das Problem ist nicht etwa, dass das Weltsystem noch nicht überall angekommen wäre, sondern im Gegenteil, dass die Länder des Südens keinen Platz in ihm finden. Weil die Produktionskapazitäten der Industriestaaten groß genug sind, um den gesamten Weltmarkt abzudecken, ist eine eigene industrielle Entwicklung des Südens kaum möglich. Was bleibt, ist der Ausverkauf von Rohstoffen – was nicht nur zur Ausplünderung der Natur, sondern auch der der Staatsapparate führt.
Bevölkerung aus traditionellen Bindungen herausgebrochen
Man könnte die Lage also so beschreiben, dass unser ökonomisches Weltsystem dabei ist, sich zu Tode zu siegen. Es hat die gesamte Weltbevölkerung aus ihren traditionellen Bindungen herausgebrochen, ist jetzt aber nicht in der Lage, diesen Menschen einen neuen Platz zu bieten. Es hat einen nie da gewesenen technologischen Sprung möglich gemacht, verschärft damit aber nur die materielle Not derjenigen, die überflüssig geworden sind. Es hat gigantische Vermögen produziert, die aber nicht mehr wissen, wohin mit sich – was zur Bildung immer neuer Spekulationsblasen führt. Und schließlich hat es alle politischen Widerstände besiegt, was letztlich nur dazu führt, dass es nun kein Korrektiv mehr gibt.
Doch wie könnte man aus diesem Prozess, der unser ganzes Leben und alle Räume auf dem Planeten kolonisiert hat, wieder aussteigen? Der spanische Soziologe César Rendueles liefert in seinem 2015 auf Deutsch erschienenen Essay »Soziophobie« eine überraschende Antwort. Er schreibt, dass wir Opfer eines utopischen Projekts geworden seien und uns deshalb auf das Vernünftige besinnen sollten. Das Utopische ist für Rendueles nicht die Suche nach Alternativen, sondern der Ist-Zustand: die Allmacht der Märkte.
Rendueles schreibt, der Liberalismus habe ab dem 18. Jahrhundert ein Projekt verfolgt, wie es radikaler kaum hätte sein können. Es sei darum gegangen, die starren sozialen Bindungen der Traditionen, Familien und Zünfte zu überwinden und diese durch einen flexiblen Mechanismus zu ersetzen, der ohne allzu viele persönliche Kontakte auskommt: den Markt. In dieser Hinsicht repräsentierte der Liberalismus ein großes Versprechen: mehr persönliche Freiheit und Individualität. Doch Rendueles widerspricht. Feste soziale Bindungen sind die Grundlage der menschlichen Existenz. Ohne sie können wir nicht existieren, denn mindestens ein Viertel unseres Lebens sind wir, als Kinder, Alte oder Kranke, von der Sorge und Pflege durch andere abhängig. Der Liberalismus, der von den unabhängigen Individuen ausgeht, verfolge also ein Transformationsprojekt, das den Menschen von seiner vielleicht menschlichsten Seite zu befreien sucht. Keine Gesellschaft könne sich jedoch über einen längeren Zeitraum der realen Voraussetzungen menschlicher Existenz entledigen.
Rendueles knüpft mit dieser Argumentation an den ungarischen Wirtschaftshistoriker Karl Polanyi an, der die großen Katastrophen des 20. Jahrhunderts – die Weltkriege und das Erstarken des Totalitarismus – in seinem 1957 veröffentlichten Werk »The Great Transformation« mit den Marktprozessen erklärt hatte. Der schrankenlose, »entbettete« Markt, so der Polanyische Begriff, führe zu kultureller, sozialer und ökologischer Verwahrlosung und zerstöre damit die beiden Voraussetzungen jeder Ökonomie – die Gesellschaft und die Natur.
Demgegenüber sei das Vorhaben der Linken immer überschaubar gewesen. Diese habe nach einem Hebel gesucht, um die großen gesellschaftlichen Probleme lösen zu können. Und die Analyse der Machtbeziehungen wiederum habe sie zu der Überzeugung gebracht, dass die Änderung der Eigentumsverhältnisse einen solchen Hebel darstelle.
Natürlich wäre es naiv zu glauben, Armut, Umweltzerstörung, Fundamentalismus oder die Unterdrückung von Frauen würden einfach verschwinden, wenn das Eigentum an großen Produktionsanlagen aus privaten in gemeinschaftliche Hände überginge. Aber die genannten Probleme wären dann einfacher, nämlich in politischer Deliberation zu lösen: als Verständigungsprozess der Gesellschaft. Es würden nicht mehr die Privatinteressen der Vermögensbesitzer vorgeben, worin investiert und wie gelebt, produziert und konsumiert wird. Die Gesellschaft könnte bewusst über diese grundlegenden Fragen entscheiden. Und eine erste Konsequenz wäre sicherlich, die Ungleichheit zu verringern und allen ein sicheres Dasein zu garantieren – bekanntermaßen die wirksamsten Mittel zur Bekämpfung von Gewalt.
Frage nach dem Gemeineigentum
Nach dem Scheitern der sozialistischen Staaten 1989 scheint allerdings genau dieser Ansatz, nämlich die Annahme, dass Gemeineigentum die Lösung unserer Probleme sein könnte, gründlich widerlegt. Die Trägheit der Staatsbürokratien und der fehlende Anreiz für den Einzelnen machten die sozialistische Wirtschaft ineffizient. Zwar wurde in den sozialistischen Staaten einiges für die öffentliche Grundversorgung – für Gesundheit, Bildung oder Kultur – getan, doch ansonsten blieb von den emanzipatorischen Versprechen wenig übrig. Von einer Verkürzung der Arbeitszeiten oder einer Befreiung von stupiden Tätigkeiten konnte keine Rede sein.
Die Umweltzerstörung war noch dramatischer als in kapitalistischen Gesellschaften. Und was die demokratische Mitsprache anging, fiel das sozialistische Lager ebenfalls weit hinter die bürgerlichen Staaten zurück.
Es gibt jedoch zwei gewichtige Argumente, warum wir auf der Suche nach gesellschaftlichen Alternativen um die Frage nach dem Gemeineigentum nicht herumkommen. Da ist erstens die Tatsache, dass sich an dem grundlegenden Problem des großen Privateigentums an Produktionsmitteln nichts geändert hat: Die Macht der Konzerne, der Immobilienfonds und Superreichen steht gesellschaftlichen Lösungen immer wieder im Weg.
Wir alle kennen das: Bei Umfragen sagt eine Mehrheit der Befragten regelmäßig, sie fände es gut, wenn Reichtum gerechter verteilt wäre und Milliardäre mehr zum Steueraufkommen beitragen müssten. Doch obwohl die wachsende Ungleichheit die Gesellschaft zerreißt und öffentliche Einrichtungen verrotten, setzen sich die Interessen der Bevölkerungsmehrheit nicht durch. Wie kann das sein – in einer Demokratie? Die Antwort lautet: Weil die großen Vermögen eine gerechtere Verteilung des Reichtums systematisch verhindern. Und ihre Macht nimmt weiter zu: Unternehmen werden größer, die Reichen reicher, die Lobbys durchschlagkräftiger. Der britische Politikwissenschaftler Colin Crouch prägte vor diesem Hintergrund schon vor einem Jahrzehnt den Begriff der »Postdemokratie«. Der Sozialismus mag gescheitert sein. Aber die Macht der Privatvermögen und die Logik der Kapitalvermehrung bleiben für demokratische Lösungen gesellschaftlicher Probleme unüberwindbare Hindernisse.
Der zweite Grund, warum wir die Frage nach dem Gemeineigentum neu stellen sollten, ist folgender: Die traditionelle liberale These lautet, dass eine auf Gemeineigentum beruhende Ökonomie nicht funktionieren kann, weil Güter, die der Allgemeinheit gehören, nicht gepflegt werden und weil der Einzelne ohne individuellen Vorteil nicht bereit ist, sich zu engagieren. Doch genau diese These ist in den letzten Jahren gründlich widerlegt worden.
Die Untersuchung der Commons, der sogenannten Allmendegüter, hat gezeigt, dass kollektives Eigentum bisweilen über lange Zeiträume sehr gut gepflegt wird und zudem auch Grundlage innovativer technologischer Prozesse sein kann.
Die US-Ökonomin Elinor Ostrom erhielt für ihre Untersuchungen über Allmendegüter 2009 den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften. Sie zeigte, dass traditionelle Allmendegüter – Weide- oder Forstland, küstnahe Fischbestände, Bewässerungssysteme, Wege, Gebäude und so weiter – über Jahrhunderte von Gemeinschaften kollektiv genutzt und nachhaltig gepflegt wurden. Und dies in selbstorganisierten Systemen, in denen Regelverletzungen zwar bestraft wurden, es aber keine staatliche Kontrollinstanz gab. Ostroms Studien kreisten auch um die Frage, welche Voraussetzungen gegeben sein müssen, damit selbstorganisierte Systeme des Gemeineigentums funktionieren können: Zum Beispiel müssen die Regeln gemeinsam entwickelt worden und veränderbar sein. Es muss eine gewisse Überwachung geben; und die Möglichkeit von Strafen, die allerdings nicht zu restriktiv ausfallen sollten und so weiter.
Traditionelle und moderne Gemeingüter
Die Beobachtungen leuchten sofort ein. Wenn Menschen gemeinsam Regeln entwickelt haben, ihren Sinn begreifen und eine nicht allzu aufdringliche Form der gegenseitigen Kontrolle herrscht, dann sind sie normalerweise auch bereit, sich an Abmachungen zu halten und gemeinsame Interessen über individuelle zu stellen.
Es gibt aber nicht nur traditionelle Gemeingüter, sondern auch sehr moderne. Wir alle sind mit solchen – digitalen – Commons vertraut; mit Gütern, die niemandem gehören, aber von vielen produziert und allen genutzt werden. Zum Beispiel mit der Online Enzyklopädie Wikipedia oder mit freier Software wie dem Betriebssystem Linux und dem Browser Firefox. Diese digitalen Commons sind in bemerkenswerten Arbeitsprozessen entstanden: Eine internationale Gemeinschaft von Programmierern hat ohne hierarchische Arbeitsorganisation, ohne Chefs und materielle Gegenleistung kooperiert – einfach, weil es die Beteiligten interessant fanden, gemeinsam zu arbeiten, mit anderen Probleme zu diskutieren und das Produkt hinterher allen zur Verfügung zu stellen.
Diese Commons-Ökonomie, die auf Gemeineigentum und freier Assoziation beruht, ist in den letzten Jahren vom Markt wieder zurückgedrängt worden und lässt sich auch nicht so einfach auf die Gesellschaft projizieren. Immerhin macht es einen großen Unterschied, ob man eine inhaltlich interessante Tätigkeit (wie Programmieren) ausübt oder ob man unentgeltlich Müll wegräumt. Aber das Beispiel beweist doch zumindest, dass es nicht am Gemeineigentum als solchem gelegen haben kann, dass die sozialistischen Staaten zusammenbrachen.
Was bedeutet das nun für unsere Ausgangsfrage – für die Suche nach Alternativen? Wenn dem Gemeineigentum für postkapitalistische Alternativen weiterhin große Bedeutung zukommt, weil die Macht der Konzerne und die Konkurrenzlogik der Marktteilnehmer solidarische gesellschaftliche Lösungen blockieren, und wenn gleichzeitig der Staat als Hauptakteur der sozialen Emanzipation im 20. Jahrhundert immer wieder gescheitert ist, dann gibt es nur einen plausiblen Ausweg: Eine gemeinwirtschaftliche Alternative muss aus der Gesellschaft heraus entwickelt und bereits in ihrem Entstehungsprozess demokratisch »vergesellschaftet« sein.
Viele kapitalismuskritische Autoren haben diese These in den letzten Jahrzehnten verteidigt. Der US-Soziologe Erik Olin Wright beispielsweise spricht zur Veranschaulichung des Problems von einem Machtdreieck aus Staat, Kapital und Gesellschaft. Der Kapitalismus habe die Macht des Kapitals gegenüber Staat und Gesellschaft erweitert, der Sozialismus den Staat aufgewertet. Die Herausforderung heute laute die Gesellschaft gegenüber Kapital und Staat zu ermächtigen.
Das passiert bereits tagtäglich und seit vielen Jahrzehnten: Zehn Prozent der Weltbevölkerung sind in Genossenschaften organisiert – man baut und verwaltet gemeinsam Wohnhäuser, verfügt über Sparkassen, die zumindest der Struktur nach demokratisch kontrolliert werden, oder produziert als Kooperative Industriegüter.
Aber auch dort, wo politischer Druck die öffentliche Grundversorgung stärkt, wird die Gesellschaft ermächtigt. Wenn Kitas kostenlos sind, das Gesundheitssystem, die Rente oder der Nahverkehr öffentlich, solidarisch finanziert und demokratisch kontrolliert werden. Bei den Überlegungen Erik Olin Wrights kommt dem Staat weiterhin eine wichtige Rolle zu, denn es braucht eine gesamtgesellschaftliche Institution, die übergreifend Solidarität herstellt. Anders als im Sozialismus wäre der Staat in Wrights Konzept aber eher Garant als zentrale Instanz des Prozesses.
Emanzipatorische Überwindung des Kapitalismus
Dass der Postkapitalismus als gesellschaftliche Bewegung entstehen muss, die solidarische, demokratisierende, ökologische und emanzipatorische Praktiken miteinander verknüpft, vertritt auch ein anderer wichtiger US-amerikanischer Theoretiker: der marxistische Gesellschaftswissenschaftler David Harvey. Er ist der Ansicht, dass eine postkapitalistische Alternative ähnlich entstehen müsse wie einst der Kapitalismus. Der setzte sich ab dem 14. Jahrhundert nämlich durch, weil sich verschiedene Prozesse überlagerten: technische Neuerungen, ein utilitaristisches Naturverhältnis, das die Ausbeutung der Umwelt regelrecht propagierte, die bürgerliche Kleinfamilie, die besondere Autonomie der Städte gegenüber den Feudalherren, aber eben auch die Erschließung eines globalen Handelsraums durch die blutige Kolonisierung des Südens. Keine dieser Entwicklungen hatte zum Ziel, den Kapitalismus einzuführen. Das neue System war eine relativ zufällige, aber dann doch stabile und in diesem Sinne zumindest im Rückblick zwangsläufige Verbindung.
Die Herausforderung heute ist größer, denn es geht nicht nur darum, dass der Kapitalismus durch etwas Neues abgelöst wird. Das Neue kann ja auch viel schlimmer sein als das Bestehende. Nein, die Aufgabe lautet, eine emanzipatorische Überwindung voranzutreiben. Man müsste also die vielfältigen Entwicklungen in der Gesellschaft daraufhin überprüfen, ob sie eher emanzipatorische oder reaktionäre Wirkung entfalten: ob sie Herrschaftsverhältnisse verringern oder aber die sozialen und demokratisierenden Errungenschaften der Moderne zugunsten autoritärerer Herrschaftsformen zurückdrängen.
Einige Theoretiker des Postkapitalismus vertrauen darauf, dass die technische Entwicklung fast automatisch zu einer besseren Lage führen werde. Die Akzelerationisten, eine neuere Philosophieschule um die britischen Theoretiker Nick Srnicek und Alex Williams, argumentieren beispielsweise in diese Richtung. Sie vertreten die Ansicht, dass wir ganz auf den technologischen Fortschritt setzen sollten, weil die Automatisierung der Produktion auf dreifache Weise emanzipatorisch wirke. Erstens sorge sie dafür, dass die Herstellung von Gütern billiger wird. Sprich: Der gesellschaftliche Reichtum wächst, gleichzeitig lässt sich aber immer weniger Profit damit machen. Die Unternehmen können diesem Prozess nur entgegenwirken, indem sie ihre Güter weit über den eigentlichen Herstellungskosten verkaufen – was nur durch künstliche Monopole, die Ausweitung von Patentrechten oder durch die symbolische Aufwertung von Waren gelingt (wie es zum Beispiel bei Turnschuhen durch Werbekampagnen geschieht). Auf Dauer sind künstlich überhöhte Preise aber nicht so einfach aufrecht zu halten.
Der zweite positive Effekt der Automatisierung bestehe darin, dass diese die Bedeutung der Kooperation größer werden lasse. Tatsächlich macht Automatisierung das Wissen zum wichtigsten Produktionsfaktor. Nicht mehr die konkrete Tätigkeit des einzelnen Arbeiters am Fließband schafft den Wert, sondern das allgemeine Wissen, das in der Software steckt und oft keiner spezifischen Gruppe von Programmierern mehr zugeordnet werden kann. Dieses Wissen wiederum entwickelt sich am besten, wenn es frei geteilt wird, und ist dementsprechend mit Gemeineigentum besser vereinbar als mit Privatem. Freie Kooperation und offene Zugangsmöglichkeiten sind seit jeher Grundlage der Wissensproduktion.
Und drittens schließlich befreie uns, so die Akzelerationisten, die Automatisierung von der lästigen Arbeit.
Die Care-Ethik als dritter Weg
Das Problem an dieser Argumentation ist, dass sie zu einer unguten Tradition der Linken zurückkehrt: zum Geschichtsdeterminismus. Für die Arbeiterbewegung des 19. und 20. Jahrhunderts war dieses Denken charakteristisch. Sozialer Fortschritt erschien als Nebenprodukt technischer Entwicklung. Die Sozialdemokraten waren der Ansicht, man könne sich auf die Verwaltung des Staates beschränken und abwarten, dass anonyme Aktiengesellschaften zu sozialistischen Unternehmen mutierten. Die Kommunisten hingegen meinten, rückständige Gesellschaften erst einmal mit Gewalt industrialisieren zu müssen, bevor man über soziale Emanzipation nachdenken könne. Die Folgen sind bekannt: Die Sozialdemokratie schloss ihren Frieden mit den Verhältnissen, die Kommunisten errichteten eine Entwicklungsdiktatur nach der anderen.
Man sollte der Begeisterung für den technischen Fortschritt also nicht zu schnell verfallen. Zumindest braucht die Debatte um Gesellschaftsalternativen starke Korrektive, die den Blick wieder auf die sozialen Prozesse lenken. Ein zentraler Beitrag hierfür ist der – ursprünglich aus dem feministischen Kontext stammende – Begriff der »Care-Ethik«. Dabei handelt es sich um eine Moralphilosophie des Sorgens, die im Unterschied zum Denken der liberalen Aufklärung die Bedeutung gegenseitiger Abhängigkeiten betont. Während traditionelle ethische Ansätze vom Individuum ausgehen und sich mit der Frage beschäftigen, ob das Handeln des Einzelnen tugendhaft ist, was es für Konsequenzen nach sich zieht oder welche Motive den Handelnden bewegen, stellt die Care-Ethik die sozialen Beziehungen in den Mittelpunkt. Für sie geht es darum, wie das Geflecht sozialer Bindungen bewahrt werden kann.
Man könnte es so ausdrücken: Der Liberalismus misst den Erfolg der Gesellschaft anhand der Mehrung des Wertes, der Sozialismus ihn am Wachstum der Güterproduktion. Auf der Grundlage der Care-Ethik hingegen würde eine Ökonomie vor allem danach beurteilt werden, ob sie soziale Bindungen stärkt, die Sorge um Schwache sicherstellt und die Natur schützt.
Auch in der »Postwachstums«-Debatte werden solche Fragen aufgeworfen. In Anbetracht des Klimawandels sind die ökologischen Grenzen des Wachstums nicht länger zu leugnen. Immer mehr Wirtschafts- und Gesellschaftswissenschaftler plädieren deshalb dafür, das Wachstumsparadigma aufzugeben. Von »Degrowth«, einem bewussten Schrumpfen ist die Rede. Doch die meisten Autoren blenden dabei aus, dass dies im Kapitalismus kaum möglich sein wird. Denn wie soll Wert vermehrt werden, wenn die Güterproduktion zurückgeht?
In der Postwachstums-Debatte gibt es allerdings auch Beiträge, die an dieser Stelle weiterdenken. Zum Beispiel gibt es das ursprünglich aus Lateinamerika stammende Konzept des »buen vivir«, des guten Lebens. Traditionelle indigene Gesellschaften des Andenraums verwenden den Begriff, um eine harmonische Existenz in Einklang mit Gemeinschaft und Natur zu beschreiben. Während unser Wohlstand über Konsum definiert ist, erinnert der Begriff des buen vivir daran, dass ein erfülltes Leben für das Gattungswesen Mensch vor allem durch verlässliche und inspirierende Sozialbeziehungen, durch körperliches Wohlbefinden und das Eingebettetsein in eine vielfältige Natur charakterisiert ist.
Welche Bedürnisse haben wir eigentlich?
Nimmt man diesen Gedanken ernst, müssten wir uns ganz neu darüber verständigen, was eigentlich die Bedürfnisse sind, die zu befriedigen wären. Denn unsere Wunschproduktion heute ist von einer profitorientierten Werbe- und Kulturindustrie völlig kolonisiert.
Es gibt also eine Reihe von Debatten, die miteinander verknüpft werden müssten. Und anders als häufig unterstellt wird, besitzen wir durchaus eine Idee davon, wo die Reise hingehen müsste. Die meisten von uns werden vermutlich zustimmen, dass mehr Gleichheit zwischen den Geschlechtern, eine Verkürzung der Arbeitszeit, eine gerechtere Verteilung des Reichtums, die ökologische Umgestaltung unserer Lebensweise, eine Stärkung der öffentlichen Grundversorgung sowie eine tiefgreifende Demokratisierung aller unserer Lebensbereiche, also auch der Arbeitswelt, wünschenswert wären. Und zumindest viele von uns wären wohl auch einverstanden, dass die Stärkung demokratischen Gemeineigentums – wie es in Energiegenossenschaften oder kommunalen Stadtwerken aufblitzt – eine sinnvolle Maßnahme in diesem Zusammenhang wäre.
Wir wissen durchaus, was emanzipatorischen Fortschritt auszeichnet. Und postkapitalistische Alternativen, die mehr sein wollen als Fantastereien, müssen an solchen konkreten Schritten anknüpfen. Sie müssen aufzeigen, was es bereits heute an sozialen Praktiken und Institutionen gibt, die über den Kapitalismus hinausweisen. Die politische Aufgabe besteht darin, diese Praktiken zu einer Bewegung zusammenzuführen, die die sozialen und demokratischen Errungenschaften der Moderne nicht preisgibt, sondern vertieft.
Eine so verstandene Veränderung hätte mit den Revolutionen des 20. Jahrhunderts vermutlich erst einmal wenig zu tun. Sie müsste sich aber auch deutlich vom klassischen Reformismus unterscheiden. Das Problem besteht nämlich einerseits darin, dass eine umfassende Transformation unseres Lebens nicht einfach durch die Eroberung der Staatsmacht »eingeführt« werden kann, sondern sich gesellschaftlich in Alltagspraxis ausbreiten muss. Anderseits aber besteht es auch darin, dass solche Veränderungen gewaltige Widerstände produzieren, sobald sie die Nischen des alternativen Lebens verlassen, und das wiederum bedeutet, dass gesellschaftliche Kräfteverhältnisse verändert werden müssen, um ein Projekt des Gemeinsamen, des Solidarischen und der Care-Ethik möglich zu machen. Auch wenn es nicht um revolutionäre Machtübernahmen geht, kann es Veränderungen ohne soziale Kämpfe nicht geben.
Soziale Emanzipation wurde in der Geschichte nie geschenkt
Wir müssen uns wohl vergegenwärtigen, dass soziale Emanzipation in der Geschichte nie geschenkt und auch nie einfach als Reformprogramm erlassen wurde, sondern immer gegen die Interessen der jeweils Mächtigen durchgesetzt werden musste. Und dabei ging es auch immer darum, reaktionäre Krisenlösungen zu verhindern.
Der Ausstieg aus der heißlaufenden Maschine Kapitalismus stellt, auch wenn es durchaus Ansatzpunkte gibt, eine gewaltige Herausforderung dar. Aber das war der Weg von Aufklärung und Emanzipation schon immer. In der Vergangenheit war er geprägt von Irrtümern, schrecklichen eigenen Verbrechen und blutigen Niederlagen. Wie viele Menschen, die aufrichtig und, ohne einen eigenen Vorteil zu verfolgen, für bessere gesellschaftliche Verhältnisse eintraten, mussten dafür mit ihrem Leben bezahlen? Ihnen verdanken wir das, was es heute an – ungenügenden – sozialen und demokratischen Rechten gibt. An sie sollten wir denken, wenn wir begreifen, dass der Kapitalismus nicht für die Ewigkeit geschaffen ist und in vieler Hinsicht heute seine Grenzen erreicht. Die Geschichte der Solidarität, der sozialen Befreiung, der Sorge umeinander und der Demokratisierung aller Lebensbereiche beginnt nicht erst heute. Sie reicht Jahrhunderte zurück und war, trotz allen Scheiterns, nicht folgenlos.
An sie gilt es anzuknüpfen.