Von Thomas Zimmermann
Die kürzlich erschienene Jacobin-Anthologie gibt Anlass zur Reflexion über Geschichte und Zukunft der Emanzipation und macht Hoffnung auf eine Erneuerung der linken publizistischen Kultur.
Die Haitianische Revolution hat sich unauslöschlich in die Weltgeschichte eingeschrieben. Jedoch sind ihre Spuren verwischt, ihre Zeichen oft unkenntlich. Sie wieder lesen zu lernen, stiftet nicht nur Orientierung in der Geschichte, indem sie deren emanzipatorische Tiefenströme offenbart, sondern hilft auch bei der Identifikation von Verbündeten in der Gegenwart. Der Aufstand der Sklav*innen in der zu jener Zeit profitabelsten französischen Kolonie Saint-Domingue in der Karibik nahm seinen Ausgang im Jahr 1791 – zwei Jahre nach der Französischen Revolution – und überholte diese, indem die Aufständischen aus der von ihr als universell proklamierten Freiheit konsequent das Ende der Sklaverei ableiteten. Deren Abschaffung wurde 1794 – wohlgemerkt unter der Terrorherrschaft der Jakobiner – beschlossen, jedoch 1802 von Napoleon wieder zurückgenommen, der die französische Kolonisation Nordamerikas wieder in Angriff nehmen wollte und dazu der Karibikinsel als Dreh- und Angelpunkt bedurfte. So errangen die Aufständischen ihre Freiheit erst 1804, nachdem sie die napoleonischen Streitkräfte zurückgeschlagen und einen eigenen Staat gegründet hatten, wobei sie dem Land zugleich seinen indigenen Namen zurückgaben: Haiti. Damit hatte die Haitianische Revolution nicht nur den Präzedenzfall einer Selbstbefreiung und Machtergreifung der Versklavten geschaffen, dem transatlantischen Sklavenhandel das Rückgrat gebrochen und damit abolitionistischen Bewegungen allerorts Vorschub geleistet, sondern obendrein Napoleons imperialistische Bestrebungen in Amerika unterbunden. Stattdessen verkaufte Frankreich das ihm gehörige Land im Rahmen des Louisiana Purchase – dem größten Grundstücksgeschäft der Geschichte – an die noch jungen USA, deren Staatsgebiet sich dadurch verdoppelte. In den inzwischen bekanntermaßen zur kapitalistischen Weltmacht ausgewachsenen Vereinigten Staaten fungiert nun die Silhouette von Toussaint Louverture, der die Haitianische Revolution die meiste Zeit über anführte und den der trinidadische Historiker C. L. R. James als ›Black Jacobin‹ apostrophierte, als die Galionsfigur des Magazins Jacobin.
Kürzlich ist bei Suhrkamp eine Jacobin-Anthologie erschienen, die dem interessierten Publikum hierzulande einen Eindruck von den Diskussionsprozessen geben soll, die den Kurs des Magazins bisher bestimmt haben. Dabei liefert sie auch Einblicke in das Erfolgsprinzip von Jacobin, mit dem es ihm in weniger als zehn Jahren gelang, eine Abonnentenschaft von über 30.000 Personen – zuzüglich monatlich einer Million Besuchen auf ihrer Internetseite – aufzubauen und für das in den USA bis vor kurzem allgemein verpönte Konzept des Sozialismus zu interessieren. Dazu muss bemerkt werden, dass Jacobin nicht einfach nur auf der Welle von Occupy Wall Street und der Kampagne von Bernie Sanders reitet, sondern auch seinen Anteil zu der sich fortsetzenden Serie linker Achtungserfolge in den USA beigetragen hat. In Bezug auf Sanders hebt der Jacobin-Gründer Bhaskar Sunkara hervor, dass dessen Politik zwar seinem Inhalt nach an europäischen Maßstäben gemessen als sozialdemokratisch eingestuft werden kann, im Unterschied dazu jedoch in der Praxis nicht sozialpartnerschaftlich, sondern klassenkämpferisch argumentiert und agiert. Entsprechend charakterisiert Sunkara auch seinen eigenen Kurs als marxistisch in der Analyse und demokratisch in der Praxis. Inwiefern sich auf dieser Basis realistische und zugleich vielversprechende Pläne schmieden lassen, oder ob sich dahinter nur der Wunsch nach einer Revolution ohne Revolution verbirgt, soll im Folgenden untersucht werden.
Für den Aufbau und Erhalt eines sozialistischen Magazins erweist sich die Bereitschaft, sich auf die Gegebenheiten und Gepflogenheiten der Gegenwart einzulassen, jedenfalls als überaus hilfreich. Die nachdrücklichste praktische Anweisung besteht nämlich darin, dass es zu diesem Zweck einigen unternehmerischen Geistes sowie eines stabilen Geschäftsprinzips bedarf. So ist das ökonomische Modell von Jacobin auf die Einsicht gegründet, dass sich auch eine sozialistische Publikation, will sie unter Bedingungen des Kapitalismus Erfolg haben, ein Stück weit auf ihn einlassen und sich der Logik und den Lockungen der Warenästhetik hingeben muss: Sie muss so gut aussehen und dermaßen Aufmerksamkeit erregen, dass ihre Anschaffung als eine Investition in das persönliche kulturelle Kapital angesehen werden kann. Die zumal vor dem Hintergrund anderer linker Publikationen hervorstechende, manchmal gewagte, in jedem Fall aber ästhetisch anspruchsvolle Gestaltung von Jacobin ist von daher nicht ornamental, sondern tragend – denn sie generiert den Absatz. Was das politische Auftreten angeht, so komplementiert das radikale Design eine Haltung, die die Weltlage und auch den eigenen Auftrag zwar durchaus ernst nimmt, sich davon aber nicht um ihren Humor bringen lässt. Diese Lockerheit zeigt sich letztlich auch darin, dass es Jacobin vielleicht besser als anderen Publikationen gelingt, sich sprachlich vom altbackenen Jargon und szenetypischen Verbalradikalismus der Linken freizumachen und somit einem breiteren Publikum zugänglich zu sein.
Dass sich der Sozialismus, um erfolgreich zu sein, auf etwas Kapitalismus einzulassen habe, argumentiert auch der in die Anthologie aufgenommene Artikel Rot und Schwarz von Seth Ackerman. Darin skizziert er einen Marktsozialismus, in dem die Unternehmen zwar Eigentum des Staates, jedoch nicht an ihn weisungsgebunden, sondern autonom wären und miteinander auf einem von sozialisierten Banken kontrollierten Kapitalmarkt konkurrierten. Profite würden, anstatt privatisiert zu werden, vergesellschaftet. Das Gründen von Unternehmen wäre erlaubt, ab einer bestimmten Größe würden diese jedoch wiederum verstaatlicht. Dass eine solche Trennung von Eigentümerschaft und Unternehmensführung dem Wirtschaften keineswegs Schaden müsse, habe das heute vorherrschende Modell der von angestellten Manager*innen geführten Aktiengesellschaften bereits unter Beweis gestellt, so Ackerman, der sich, was die betriebliche Ebene angeht, auch für Formen der Arbeitermitbestimmung offen zeigt. Wie lebenswert und wie umweltverträglich ein solcher Sozialismus letztendlich wäre, hängt jedoch davon ab, anhand welcher Kriterien jene sozialisierten Banken die Kreditwürdigkeit eines Unternehmens bestimmen würden, sowie davon, wie der Staat, dessen Einrichtung nicht Teil der Skizze ist, sein Interesse an Kapitaleinnahmen im Verhältnis zu Arbeits- und Naturschutz gewichten würde. Schließlich handelt es sich beim Kapital, wo immer der Profit auch landen mag, primär um einen Mechanismus der Ausbeutung, der Kapitalist*innen heute im Zweifelsfall auch über ihre persönlichen boshaften Neigungen hinaus zur Plackerei ihrer Angestellten und Ausschlachtung der natürlichen Ressourcen anzuhalten versteht. Dass nun ausgerechnet staatliche Institutionen dieser Verlockung widerstehen können sollen, kann keineswegs als gesichert angenommen werden.
Auf die Fragen knapper Ressourcen, lästiger Arbeit und sozialer Herrschaft nimmt Peter Frase in seinem ebenfalls mit Prognosen und Planspielen beschäftigten Artikel Vier Zukünfte schon größere Rücksicht. Wobei er jedoch die Frage der Arbeit vielleicht vorschnell durch eine alle Szenarien übergreifende Annahme der völligen Automatisierung erledigt. Die anderen beiden Faktoren variiert er hingegen nach ihren Extremen, woraus sich vier Szenarien ergeben: Materieller Überfluss bei Abwesenheit gesellschaftlicher Herrschaft ergibt Star–Trek-Kommunismus – eine unterhaltsame Vorstellung, die jedoch von keiner großen politischen Relevanz ist, insofern sie die Lösung aller Probleme voraussetzt, anstatt sich ihrer anzunehmen. Zwei weitere Szenarien setzen die Auswirkungen des Fortbestands einer Klassengesellschaft unter Bedingungen von Ressourcenknappheit einerseits, Überfluss andererseits auseinander. Das läufteinerseits auf den Ausschluss eines Teils der Bevölkerung von der gesellschaftlichen Reproduktion, andererseits auf eine künstliche Verknappung des Konsumsdurch Lizenzen und Gebühren hinaus, aus denen sich die Einkommen der ökonomisch Herrschenden speisen würden – Szenarien, die in Anbetracht des heute zu beobachtenden Trends zur Intensivierung von Grenzregimen auch ohne weiteres nebeneinander bestehen könnten. Der interessanteste der vier dargestellten Fälle, der sich überdies trefflich mit dem obigen Vorschlag Ackermans konfrontieren lässt, ist jedoch der einer klassenlosen Gesellschaft unter Bedingungen begrenzter Ressourcen. Anders als Ackerman geht nämlich Frase nicht davon aus, dass sich das Konzept der Planwirtschaft mit den Experimenten des 20. Jahrhunderts ein für alle Mal erledigt habe. Damals sei eine effiziente und demokratische Wirtschaftslenkung schon allein unter technischen Gesichtspunkten nicht umsetzbar gewesen – in Anbetracht der technologischen Entwicklungen der Gegenwart aber werde sie das mehr und mehr. Die privatwirtschaftlichen Einrichtungen des Kapitalismus, die Ackerman in seinem Marktsozialismus nachbildet, hätten sich zwar als tauglich erwiesen, zu technischen Innovationen anzuregen, jedoch als untauglich, die Umwelt zu erhalten und knappe Ressourcen nachhaltig einzusetzen.
Die Einschätzung, dass ein künftiger Sozialismus, wenn er überhaupt zustande kommt, mit der Schwierigkeit konfrontiert sein wird, die Verheerungen des Planeten durch den Kapitalismus zu verwalten, teilt auch Alyssa Battistoni. In ihrem Artikel Zurück in keine Zukunft stellt sie die Frage, wie eine emanzipatorische Bewegung mit der sich zuspitzenden klimatischen Katastrophe umgehen kann. Dabei zieht sie eine unerwartete Parallele mit dem queeren Aktivismus während der Aids-Krise der 80er Jahre, da die existenzielle Notlage bei vielen Betroffenen und ihren Verbündeten nicht etwa Verzweiflung zur Folge hatte, sondern die Einsicht, dass sie nichts zu verlieren hätten, wenn ihnen ihre Zukunft genommen würde, und sie es von daher ebenso gut wagen könnten, politisch aufs Ganze zu gehen. Gepflegten Fatalismus schätzt Battistoni damit als zielführender ein als etwa einen technologischen Optimismus, der verspricht, die heutigen Probleme in Zukunft im Handumdrehen beheben zu können, und damit einer abwartenden Haltung Vorschub leistet, mit der wir möglicherweise jede Zukunft verspielen. Für die Entwicklung robuster Utopien bräuchte es vielmehr einen ehrlichen Pessimismus, der mit einigem Problembewusstsein arbeitet und die materialistische Einsicht bedenkt, dass wir die Welt in Zukunft genauso wenig wie in Vergangenheit und Gegenwart einfach nach unseren Vorstellungen modeln können werden. Vielmehr sei es so, dass unsere Eingriffe, seien sie auch als Lösungen gedacht, über uns nicht gänzlich verständliche Feedback-Schleifen Folgen zeitigen, die wir nicht vorhersehen können und die möglicherweise neue Probleme mit sich bringen, welche wiederum nach neuen Lösungen verlangen.
Bei einem Thema scheinen jedoch die Zukunftsentwürfe, die ihren Weg in die Anthologie gefunden haben, mehr von einer unausgesprochenen Zuversicht als von ehrlichem Pessimismus geprägt zu sein – und zwar was die Widerstände und die Gewalt angeht, der ein künftiger Sozialismus von Seiten ihm feindlich gesinnter Kräfte ausgesetzt wäre. Gut möglich, dass ein Teil der Entscheidung von Jacobin, sich auf die Gegebenheiten des repräsentativ-demokratischen Systems einzulassen, der berechtigten Furcht davor geschuldet ist, man würde ein Schicksal ähnlich dem der Haitianischen Revolution heraufbeschwören, wenn man sich auf radikalere Methoden verständigte. Damals nämlich zwang das militärisch zurückgeschlagene Frankreich Haiti unter Androhung eines weiteren Krieges eine Schuld in Höhe von 150 Millionen Gold-Franc auf, mit der die ehemalige Kolonie die enteigneten Sklavenhalter für ihren Verlust entschädigen sollte – eine Schuld, die erst 1947 beglichen wurde und Haiti in der Zwischenzeit ökonomisch ruinierte. Mit diesem Schachzug verschaffte sich Frankreich nicht nur beträchtlichen ökonomischen Profit – zugleich verpasste es damit allen Unzufriedenen und Aufständischen der Erde einen gehörigen Denkzettel, wonach sie es sich besser zweimal überlegen sollten, bevor sie eine Revolution vom Zaun zu brechen wagten. Schließlich würden sich sämtliche Pläne einer ökonomischen Neuordnung erübrigen, wenn das Land wirtschaftlich isoliert und ausgeblutet würde. Entsprechend fasst z.B. Ackerman mit seinem Entwurf explizit die Möglichkeit einer Umgestaltung ohne Umwälzung ins Auge. Wie die weitere Geschichte jedoch gezeigt hat, bedeutet der Verzicht auf eine gewaltsame Revolution keineswegs zugleich, dass auch die Konterrevolution auf Gewalt verzichtet. Als mit Salvador Allende 1970 ein Sozialist auf demokratischem Wege Präsident von Chile wurde, hielt das die reaktionären Kräfte um General Augusto Pinochet nicht davon ab, einen von der CIA unterstützen Putsch durchzuführen, der 17 Jahre brutalster Militärdiktatur zur Folge haben würde. Von daher können wir die Möglichkeit einer gewaltlosen Umwälzung oder Umgestaltung nicht stillschweigend voraussetzen, sondern müssen sie offen diskutieren. Dass Jacobin auch dieser Diskussion als Forum dienen kann, steht jedoch außer Zweifel.
Der Zweck der Jacobin-Anthologie erschöpft sich allerdings nicht darin, dieses Forum vorzustellen. Am trefflichsten versteht man ihr Erscheinen im Zusammenhang der jüngsten Bestrebungen des Magazins, über Nordamerika und den englischsprachigen Raum hinaus Fuß zu fassen. So ist im November 2018 die erste Ausgabe von Jacobin Italia erschienen. Und einen deutschen Ableger gibt es tatsächlich schon seit Ende Mai vergangenen Jahres unter dem Namen Ada – was auf türkisch ›Insel‹ bedeutet –, wenn auch bisher nur online. Loren Balhorn, der zusammen mit Ines Schwerdtner die Chefredaktion bildet, ist auch Mitherausgeber der Anthologie bei Suhrkamp – so schließt sich der Kreis. Ob das amerikanische Modell auf die deutschen Verhältnisse übertragbar ist, wird sich aber erst noch zeigen müssen. Während es Jacobin verstanden hat, aus der Not des linkspublizistischen Vakuums in den USA eine Tugend zu machen, indem es sogleich eine geräumige Nische für sich einnahm, besteht hierzulande im Gegensatz dazu bereits eine Gemengelage linker Zeitungen und Magazine. Andererseits aber könnte es gerade Ada gelingen, eine Erneuerung zu bewerkstelligen. Denn während sich in der linksgerichteten Zeitungslandschaft in Deutschland diverse Altlasten gegen eine Verjüngung stellen, diese oder jene Zeitung bei einer radikalen Veränderung ihres Profils ihr angestammtes Publikum aufs Spiel setzen würde, hat Ada nichts zu verlieren. Gegenwärtig befindet sich das Onlinemagazin jedoch in einem Rechtsstreit mit dem Handelsblatt, das nur Wochen nach dem Start von Ada ebenfalls ein Magazin unter demselben Namen herausbrachte. Mag es auch einen bitteren Beigeschmack haben, »ein Tech-Magazin, das nicht mal seinen Namen googlen kann«, gewinnen zu lassen, so ließe sich das doch auch als eine Gelegenheit für Ada verstehen, vielleicht mit einer Entschädigung aus den Mitteln des Handelsblatts im Gepäck die Segel zu setzen. Dann könnte die Redaktion dieser – wie der Zwischenfall gezeigt hat – etwas beliebigen Insel mit dem Namen ›Ada‹ den Rücken kehren, sich stattdessen auf das konkrete Erbe der Haitianischen Revolution besinnen, des Konterfeis von Toussaint Louverture als eines Erkennungszeichens der transatlantischen sozialistischen Erneuerung annehmen und vielleicht schon bald den Druck von Jacobin deutsch in Auftrag geben.
Loren Balhorn, Bhaskar Sunkara (Hrsg.): Jacobin. Die Anthologie. edition suhrkamp. 311 Seiten, 18 €