Ein Interview mit Patrick Eiden-Offe
Ein unverstellter Blick auf die Zeit des Vormärz rüttelt an vermeintlichen Gewissheiten der Linken und eröffnet neue Perspektiven auf unsere eigene Gegenwart.
Es ist ein merkwürdiger, jedoch nicht allzu oft angesprochener Umstand, dass die Bezeichnungen für unsere akademischen Grade im Bachelor-Master-System den beruflichen Rängen der Zünfte entlehnt sind: Gesellen und Meister. Wie ist das zu deuten? Haben wir Studierenden und wissenschaftlich Arbeitenden vielleicht mehr mit Handwerkern am Hut, als uns gemeinhin bewusst ist?
Wie das genau kommt mit diesen Bezeichnungen, das weiß ich ehrlich gesagt gar nicht. Aber ja, das wird von den Rängen des Handwerks abgezogen worden sein, als die Idee der Universität aufkam, also sehr früh schon. Dieses System der Graduierung – dass man erstmal eine Lehre macht, dann als Geselle nochmal eine längere Bewährungszeit hat und schließlich Meister wird – das hat ja durchaus große Plausibilität. Als Germanist muss ich dabei natürlich gleich an Goethe denken: Wilhelm Meisters Lehrjahre und Wilhelm Meisters Wanderjahre. Und es scheint mir auch immer noch aus der Sache heraus plausibel zu sein, dass man erstmal eine Grundausbildung bekommt und sich danach nochmal mit einem höheren Grad an Freiheit umtut, woanders hin geht, wandert, und dann irgendwann die letzte Meisterschaft erhält, durch die man schließlich auch selber berechtigt ist, Leute zu unterrichten. Das ist ja der Kerngedanke dieses Systems.
Inwiefern kann denn davon die Rede sein, dass die Universität noch immer eine gewissermaßen feudale Einrichtung darstellt? Oder, besser gefragt: Worin ähnelt sie einer feudalen Institution in Auflösung? Immerhin sprichst du ja in deinem Buch Die Poesie der Klasse von einer Aktualität des Vormärz, also einer Zeit, da die feudale Ordnung bereits effektiv von der kapitalistischen abgelöst wurde.
Da müsste man nochmal genauer hinsehen, inwiefern denn die Universität feudalen Charakter hat. Wenn man das nun ernst nimmt, dass das universitäre Ausbildungssystem etwas vom Handwerk hat, zumindest von den Bezeichnungen, aber auch von den Abstufungen des Bildungswegs her, so heißt das ja noch nicht, dass das feudalistisch ist. Denn diese Handwerksorganisation ist wesentlich auch immer eine widerständige Selbstorganisation des Handwerks gegen ein bestimmtes Feudalsystem gewesen. Einerseits war es natürlich eingelassen in dieses feudale System von Partikularrechten und der Zersplitterung der Souveränität, andererseits war es aber auch immer ein Bereich, der Autonomie für sich in Anspruch genommen hat. Und natürlich war dieses Ausbildungssystem des Handwerks erstmal ein hierarchisches. Aber innerhalb dieser Hierarchie war es so, dass sich die jeweiligen Stufen erstmal für sich und unter sich organisierten. So gab es immer schon die Lehrlinge, die sich zusammengetan haben und vor allem die Selbstorganisation der Gesellen. Und diese wurden von den feudalen Autoritäten schon sehr früh als eher widerspenstige Strukturen wahrgenommen. Das einzige Reichsgesetz, also das einzige Gesetz, das im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation effektiv beschlossen und für alle verbindlich umgesetzt worden ist, war ein Verbot der Gesellenschaften. Es handelte sich beim Handwerk also um eine feudale Institution, die aber gleichzeitig auch über ihren Autonomieanspruch antifeudal auftrat.
Aber die Pointe ist, dass nachdem das Feudalsystem vom heraufziehenden kapitalistischen System und der modernen Staatsidee abgeräumt wurde, praktisch das einzige, was geblieben ist, diese Widerständigkeit des Handwerks war. Schließlich wollte der Obrigkeitsstaat durch die Entmachtung und Abschaffung der Zünfte natürlich gerade das loswerden, was er am ganzen Zunftsystem am wenigsten leiden konnte, nämlich diese autonome Organisation der Gesellen. Aber die haben es geschafft, ihre Widerständigkeit über den Systemwechsel hinüber zu retten. Und tatsächlich sind die ersten Arbeitskämpfe dieser dann aus dem Zunftsystem freigesetzten Gesellen aus solchen Gesellenschaften heraus organisiert worden.
Und mit der Universität ist das ja so ähnlich. Die Idee der Humboldt Universität kommt immerhin aus der Zeit der Reformen zur Einführung der Gewerbefreiheit in Preußen. Sie ist also zeitgleich mit dem Kapitalismus entstanden und natürlich in die kapitalistische Systemarchitektur eingebettet, aber gleichzeitig beansprucht sie ebenfalls eine gewisse Autonomie, die als über dieses System hinausweisend und widerständig angesehen werden kann. Und da ist es wiederum interessant zu sehen, wie sich das verändert, wenn sich diese Systemarchitektur zu einer neoliberalen hin wandelt und die Universität auf einmal als ein Wirtschaftsunternehmen verstanden wird und sich auch selbst als solches versteht. Da gilt es dann zu beobachten, ob sich in ihr etwas regt, das analog zu den Gesellenschaften diesen widerständigen Charakter erhalten und hinüberretten kann.
Der eigensinnige Zug Deiner Poesie der Klasse besteht ja darin, dass Du Dich im Angesicht der gesellschaftlichen Umwälzungen, die wir heute erleben, nicht etwa in Ausführungen ergehst, welche sensationell neuartigen Formen der Kapitalismus heute annimmt und welche nie dagewesenen Folgen er zeitigt, sondern dass Du ziemlich nüchtern feststellst: Sowas in der Art hatten wir schonmal. Und damals sind die Leute so und so damit umgegangen. An welchen Stellen ist die Analogie am greifbarsten, wo kann sie uns wirklich weiterhelfen, und wo hört die Vergleichbarkeit auf?
Ich würde ja auch nicht sagen, dass da irgendwas eins zu eins wiederkehrt. Nur bin ich tatsächlich etwas voreingenommen gegenüber dieser Faszination von Linken und durchaus auch radikalen Linken für das Innovationspotential des Kapitalismus. Das ist ja zum Teil auch ein Erbe des Kommunistischen Manifests. Da gibt es also so eine merkwürdige, aus Angst und Ekel, aber eben auch aus Lust gespeiste Faszination und zugleich einen Drang, immer Schritt halten zu wollen mit der Entwicklung des Kapitalismus, weil man denkt, was der Kapitalismus mache sei zu jeder Zeit immer das neueste und aktuellste. Und entsprechend müsse man ihn beschleunigen, oder ihn überholen oder ihn beschleunigen, um ihn zu überholen – und da bin ich skeptisch. Wenn ich mir die großen Umbrüche ansehe, die sich ohne Zweifel in den letzten Jahren und Jahrzehnten vollzogen haben, dann habe ich oft eher den Eindruck, dass es sich dabei sozusagen um einen Remix handelt, dass also alte Sachen in neuen Konstellationen wieder auftauchen, und dass es dabei im Prinzip gar nichts, auch keine große Reformen oder Umwälzungen gibt, die nicht auch wieder partiell zurückgenommen werden können, solange das der Wertverwertung keinen Abbruch tut. Das ist vielleicht das einzige, was man am Kapitalismus bewundern kann – dass er mit einer unglaublichen Sturheit an seinem Prinzip festhält: Der Wert muss sich verwerten. Und wenn es darum geht, das zu gewährleisten, ist der Kapitalismus unglaublich flexibel.
Zum Beispiel wurde ja von der Marxschen Theorie her angenommen, dass es historisch zuerst eine Phase gab, in der es um die Steigerung des absoluten Mehrwerts durch Verlängerung des Arbeitstages ging, die dann aber abgelöst wurde von der sogenannten relativen Mehrwertproduktion durch technologische Entwicklung. Diesbezüglich kann man in den letzten Jahren wieder vermehrt und überall auf der Welt beobachten, dass es sich dabei nicht so sehr um eine strenge Stufenfolge handelt, sondern dass der Kapitalismus dieses Verhältnis von absolutem und relativem Mehrwert relativ flexibel handhaben kann. Gegenwärtig geht er also wieder dazu über, mit Vorliebe die absolute Mehrwertrate zu erhöhen, indem er die Arbeitszeiten wieder verlängert und die Leute überausbeutet. Das passiert vor allen Dingen im globalen Süden, aber teilweise auch hier. Es gibt also eine Reihe von Fällen, bei denen eine gewisse marxistische Orthodoxie sagen würde: Das sind notwendige Entwicklungsstufen, die dann auch nicht mehr wieder rückgängig zu machen sind. Ich dagegen finde interessant, zu sehen, was dann nicht doch alles wieder rückgängig gemacht werden kann.
Etwa auch anhand der These, dass sich nach und nach alle arbeitenden Klassen in die industrielle Arbeiterschaft auflösen und sich unfreie Arbeitsverhältnisse, Schuldknechtschaft, Sklaverei usw. von selbst erledigen würden durch eine vermeintliche interne Dynamik des Kapitals, alle Menschen als freie und gleiche zu setzen.
Genau. Diese Vereinheitlichungsthese in Bezug auf das Proletariat hat sich ja auch nicht bewahrheitet. Also sicherlich in der Form, dass sich mittlerweile tatsächlich fast alle Arbeiten in irgendeiner Weise in Lohnarbeit verwandelt haben. Nur wie freiwillig diese Arbeitsverhältnisse eingegangen werden und wie genau diese Arbeit gestaltet ist, das ist dann wieder wahnsinnig flexibel. Die These von der inversen Aktualität des Vormärz lautet ja, dass man in Anbetracht der letzten 20 Jahre, also in der Phase, die immer als neoliberale Revolution bezeichnet wird, beobachten kann, dass Arbeitsverhältnisse wiederkehren, die man für überwunden gehalten hat. Denn das, was unter dem Stichwort des Prekariats und der Prekarisierung debattiert wird, ist im Wesentlichen eben eine Rückkehr zu entgarantierten, ungeregelten und zersplitterten bis hin zu unfreien Arbeitsverhältnissen, die jedenfalls nicht diesem Ideal des doppelt freien Arbeiters entsprechen, der in einer geregelten Lohnarbeit steht.
Oder wenn man sich so Internetklitschen ansieht: Da können die Leute durchaus selbst Eigentümer ihrer Produktionsmittel sein, insofern ihre Rechner ihnen selbst gehören und sie womöglich sogar die Software, mit der sie arbeiten, selbst geschrieben haben. Aber dem Kapitalismus sind sie trotzdem auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Da könnte man zum Beispiel Parallelen zum Verlagssystem der Weber ziehen, denen ja auch ihre Webstühle gehört haben, die aber über das Stücklohnsystem trotzdem dem Markt unterworfen waren. Es ist also interessant, zu sehen, dass da in großem Maßstab Arbeitsverhältnisse wiederkehren, von denen man gedacht hatte, dass sie überwunden seien, und die auch tatsächlich rund 150 Jahre nicht mehr so dominant gewesen sind. Damals sind sie hinter der massiven Präsenz der Industriearbeit verschwunden. Aber heute, da die Dominanz der Industriearbeit zurück geht, kommen sie wieder zum Vorschein und gewinnen wieder an Bedeutung. Und da sind wiederum die Entwicklungen an der Universität mindestens beispielhaft und manchmal vielleicht sogar avantgardistisch gewesen, was diese Prekarisierung und Entgarantierung angeht.
Die Prekarisierung, die für die Handwerker von damals mit der Auflösung des Zunftsystems einherging, versuchten nun einige unter ihnen durch selbstverwaltete Formen gemeinschaftlicher Subsistenz und Versicherung zu kompensieren. Du erwähnst da zum Beispiel den sogenannten Verein der jungen Deutschen des Gewerbstandes in Genf, der es 1841 unternahm, sein Vereinslokal in Selbstverwaltung zu überführen, um nicht nur kostengünstiges Essen und Trinken anzubieten, sondern darüber hinaus von dem im Lokal erwirtschafteten Profit unter anderem Arbeitslosengeld, Rente und Reisegeld für die Mitglieder stellen zu können. Zunächst die Frage: Handelt es sich dabei um einen exemplarischen Fall, der in irgendeiner Art Schule gemacht hat, oder eher um eine Ausnahme?
Zunächst einmal ist uns dieser Verein dadurch bekannt, dass Wilhelm Weitling, der wohl auch an der Gründung beteiligt war, in seiner Zeitschrift Der Hülferuf der deutschen Jugend darüber berichtet hat. Von daher wissen wir auch, dass es vielerorts Selbstorganisation von Gesellen gab, die eben mitunter die Funktion hatte, diese zuvor von den Zünften gestellten Sicherungssysteme zu ersetzen. Was aber diesen Genfer Verein besonders macht, ist dass wir durch Weitlings Aufzeichnungen sehr genau wissen, welche Vorstellungen damit verbunden waren. Und das ist einmal, wie Du sagtest, die soziale Sicherung. Also vieles von dem, was später dem Sozialstaat anheimfiel, war hier schon angelegt. Was ich aber besonders interessant finde, ist, dass die Vereinswirtschaft von Anfang an auch als ein Ort der Selbstbildung und der kulturellen Selbstvergewisserung aufgefasst wurde. Es ist ja eine schöne Anekdote, dass von den ersten Überschüssen unter anderem die Bibliothek vergrößert und auch ein eigenes Pianoforte angeschafft werden sollte, weil man zusammen singen wollte. Und das wurde von Weitling als ein integraler Bestandteil aufgefasst. Also nicht als das Sahnehäubchen, das oben draufkommt, wenn alles andere gewährleistet ist, sondern als das, worum es eigentlich geht: dass die Arbeiter nicht nur von Brot leben, sondern sich auch bilden können. Da steht tatsächlich ein ganz emphatischer Bildungsbegriff dahinter, der darauf zielt, vollständige Menschen auszubilden, entgegen einer Gesellschaft, die sie zu bloßen Arbeitsmaschinen machen will – zu »Händen«, wie es ja auch Marx in kritischer Absicht zitiert. Sie wollen also nicht nur ausgebildete Hände, sondern auch Köpfe und Herzen sein. Darum ging es ihnen.
Auf den ersten Blick mutet dieses Modell der Vereinswirtschaft vielleicht als eine Vorstufe zur modernen Gewerkschaft an. Und da ist sicher auch etwas dran. Dennoch scheint mir da auch ein bedeutender Unterschied zu bestehen. Denn anders als eine Gewerkschaft, die ihre Mitglieder auf Grundlage einer Gemeinsamkeit des Berufs organisiert, wodurch sie auch eine gewisse Exklusivität aufweist, scheint der Zusammenhang der Vereinswirtschaft auf gemeinsame Reproduktion gegründet zu sein, auf das gemeinsame Essen und Trinken und auch die Befriedigung von kulturellen Bedürfnissen, was zumindest der Möglichkeit nach um einiges inklusiver erscheint. Könnte es sich nicht auch dabei um etwas zukunftsweisendes handeln: die volle Anerkennung des Bereichs der Reproduktion als eines Raums politischer Organisation – eines Bereichs, den die Arbeiterbewegung lange Zeit ausgeblendet hat und der ihr vielleicht erst über feministische Einwände und Kämpfe wieder zu Bewusstsein gekommen ist?
Ja, das wird man mit Sicherheit sagen können. Wobei das in gewissem Maße natürlich auch ein Erbe der Idee des Handwerks darstellt, die nunmal die gesamte Existenz erfasst, im Guten wie im Schlechten, und der es nicht nur um das gemeinsame Arbeiten, sondern auch um das gemeinsame Leben geht. Ein weiterer Unterschied zum modernen Verständnis von Gewerkschaften, das sich erst im späteren 19. Jahrhundert ausgebildet hat, besteht darin, dass sich auch nicht nach Branchen organisiert wurde, sondern eben nach der Hierarchiestufe. Also was es da nicht gibt, ist diese Fiktion, wonach letztendlich alle Beschäftigten einer Branche an einem Strang ziehen. Sondern man hat mit dem eigenen Meister am Ende weniger zu tun als mit einem Gesellen aus einer ganz anderen Branche. Vom Branchensystem ist es ja auch nicht mehr weit zum sozialpartnerschaftlichen Modell, bei dem man sich dann auch mit den eigenen Kapitalisten zusammenschließt, um sich etwa gegen Industrien anderer Länder durchzusetzen. Das alles ist also nicht der Fall in der Organisation der Gesellen. Wenn nun vom deutschen Gesellenverein die Rede ist, oder wenn Weitling „alle Gesellen deutscher Zunge“ anspricht, so geht es dabei nicht um nationale Aufteilungen, sondern um die Gemeinsamkeit der Sprache, worin neben den Gesellen aller damaligen deutschen Länder etwa auch Österreicher und Schweizer inbegriffen sind.
Dann ist da noch die Frage, ob das danach wirklich erst wieder mit dem Feminismus auf die Tagesordnung gekommen ist. Es gab ja auch in der Zwischenzeit, im späteren 19. Jahrhundert, mit der Sozialdemokratie den Versuch, eine ganze Gegengesellschaft zu organisieren, wo es eben auch proletarische Kleingartenvereine gab und Gesangsvereine, oder auch Taubenzüchter und das gesamte Genossenschaftswesen. Dabei handelt es sich ja auch um eine lange Zeit unterbelichtete Tradition, die angetreten war, die ganze Reproduktion gemeinsam zu organisieren. Und das bis ins 20. Jahrhundert, beispielsweise mit den Gemeindebauten in Wien, in denen auch gemeinsam gekocht und gewaschen wurde.
Den kulturellen Bereich – Garten, Gesang, Tauben – hat die Sozialdemokratie allerdings nicht als einen eigentlichen Bereich des politischen Kampfes wahrgenommen, sondern gewissermaßen als Freizeitprogramm. Allerdings ist diese Unterscheidung häufig nicht so leicht zu treffen. Ich bin zum Beispiel bezüglich des von Georg Werth beschriebenen proletarischen Blumenfests, das ich in meinem Buch erwähne, gefragt worden, inwiefern sich das den stringent von späteren sozialdemokratischen Veranstaltungen unterscheiden lässt. Aber ich glaube schon, dass es einen bedeutenden Unterschied gibt. Und zwar teilt auch Werth diese Einstellung von Weitling, wonach es sich dabei eben nicht nur um Freizeit handelt, in der man sich von der Arbeit und von den Kämpfen in der Produktion erholt, also dass es dabei nicht darum geht, sich zu entspannen, um nachher wieder ernsthaften politischen Kämpfen nachgehen zu können. Sondern diese Zeit der Reproduktion ist selbst Teil des politischen Kampfes. Und zwar nicht einfach aus dem Grund, dass man mitunter politische Lieder singt, sondern weil diese kollektive kulturelle Bildung Teil des politischen Programms ist. Das mag im Einzelnen vielleicht schwer zu unterscheiden sein, von der Idee her sind das aber zwei sehr verschiedene Sachen.
Du sprichst ja nun von einer „inversen“ Aktualität des Vormärz. Also unsere Situation und die damalige ähneln sich zwar, aber es handelt sich nicht um eine einfache Wiederholung, sondern in gewisser Weise um eine Wiederkehr mit umgekehrtem Vorzeichen. Denn während die Tendenz damals in Richtung Homogenisierung des Proletariats durch die Industrie ging, erleben wir heute eine entgegengesetzte Entwicklung hin zur Diversifizierung, und zwar ohne Aussicht auf ein neues Normalarbeitsverhältnis am anderen Ende. Ist es das, was Du damit meinst? Und was folgt politisch daraus, wie haben wir mit diesem invertierten Vormärz umzugehen?
Ja. Das habe ich in meinem Buch so zu veranschaulichen versucht, dass sich Momentaufnahmen aus dem Vormärz und von heute teilweise zum verwechseln ähnlich sehen können, dass sie jedoch gegenläufigen Sequenzen entstammen. Es gab also im Vormärz diesen Dekompositionsprozess der alten Gesellschaftsformation, aus dem jedoch eine neue Gesellschaft mit relativ stabilen Koordinaten erwuchs, auf deren Grundlage ein relativ kohärenter und kontinuierlicher Kampf einer relativ homogenen Arbeiterbewegung geführt werden konnte. Zum Beispiel um den Normalarbeitstag, der ja nicht einfach vom Himmel gefallen ist, sondern der über Jahrzehnte und Jahrhunderte hinweg erkämpft wurde. Und das löst sich jetzt wieder alles auf. Wobei aber auch dieser Auflösungsprozess wieder kein naturgeschichtlicher Prozess ist, sondern von Maßnahmen aktiver Deregulierung gespeist wird, die in weiten Teilen ganz zutreffend als Klassenkampf von oben bezeichnet werden können. Und dabei sieht es so aus, zumal aus einer globalen Perspektive, dass erstmal kein neues Regulationssystem, also kein neues, in sich stabiles System in Aussicht steht, auf die diese Entwicklung hinausliefe. Daraus folgt natürlich, dass die Parallele zwischen damals und heute auf Ebene der Formen des Widerstands nur sehr beschränkt gezogen werden kann. Bei Marx ist ja der ganze Pathos, mit dem er auf die Industriearbeiter setzt, erstmal auf der sehr richtigen Beobachtung gegründet, dass die Gesellschaft damals tatsächlich dahin tendierte, immer mehr Leute in genau dieser Art uniformierter, abstraktifizierter Arbeit zu organisieren, womit auch eine Vereinheitlichung der Lebenswirklichkeiten und -perspektiven, der Chancen und Interessen einherging. Das gibt es heute in dieser Form nicht mehr. Und so ähnlich verhält es sich auch mit der entscheidenden Annahme von Marx, wonach diese zunächst geknechteten und depravierten Gestalten, die sie im Einzelnen waren, zusammengenommen die kommende Macht der Gesellschaft in der Hand hätten. Dieser berühmte Satz von Georg Herwegh – „Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will!“ – das ist ja keine Hyperbel, keine Übertreibung, sondern erstmal ganz zutreffend. Im Gegensatz zu früher ist allerdings hinter unserer heutigen Machtlosigkeit keine geheime Macht verborgen. Es bleibt uns also nichts anderes übrig, als unsere neuen solidarischen Bande auf Basis einer geteilten Machtlosigkeit zu schließen.
Und da kann wiederum ein Blick in diese Übergangszeit des Vormärz lohnen, um bestimmte Kampfformen zu identifizieren, die heute vielleicht nochmal an Relevanz gewinnen können. Nun ist es für lange Zeit so gewesen, dass der Streik als das privilegierte Mittel im Zentrum stand, der ja seine Plausibilität daher bezieht, dass die Leute sagen: Ich kann etwas, das kann nur ich, und wenn ich das nicht tue, dann stehen alle Räder still. Da lassen sich heute vielleicht andere Formen wiederentdecken, die nicht so sehr an Fertigkeiten geknüpft sind. Das entspricht dann wiederum den von Dir angesprochenen Weisen der Solidarisierung und Identifikation, die sich nicht ausschließlich über den Bereich der Produktion vollziehen, sondern ganz wesentlich über die geteilten Bedürfnisse und die gemeinsame Reproduktion. Dass das an Bedeutung gewinnt, lässt sich ja auch seit den Siebzigern beobachten, was wiederum mit der zweiten Welle der Frauenbewegung zusammenhängt.
Aus dieser Prognose einer invertierten Rückkehr des Vormärz ließe sich ja auch ableiten, dass es zum Zweck der Schaffung einer standfesten Basis für sozialen Widerstand heute möglicherweise aussichtsreicher sein könnte, diesen Sturz aus den Sozialsystemen in einen Sprung in die Selbstverwaltung zu verwandeln, also dem drohenden und vielleicht unvermeidlichen Wegbrechen sozialstaatlicher Leistungen und lebenstauglicher Anstellungsverhältnisse organisatorisch noch zuvor zu kommen, indem man schon vorsorglich solche Formen gegenseitiger Absicherung in kleineren oder größeren Kollektiven von Verbündeten entwickelt.
Das ist sicherlich sinnvoll. Und das wird ja auch gemacht. Große Teile dessen, was sich in den Siebzigern im Nachgang des großen Aufbruchs von 68 etabliert hat, und was man Alternativwirtschaft genannt hat – von Kollektivbetrieben bis hin zu tatsächlich vereinswirtschaftlich betriebenen Kneipen oder selbstverwalteten linken Buchläden – könnten unter diesem Gesichtspunkt nochmal interessant werden. Aber leider muss man da in vielen Fällen beobachten, dass diese Aufbrüche scheitern, die Leute sich aufreiben und zum Teil in einer schlimmeren Selbstausbeutung landen, als es ein Kapitalist je leisten könnte. Es besteht immer eine Gefahr der Reintegration. Aus kleinen, ambitionierten Kollektivbetrieben können ganz einfach neoliberale Klitschen mit flachen Hierarchien werden.
Andererseits lässt sich an dieser Zeit der großen Transformation des feudalen ins kapitalistische System auch beobachten, dass es häufig auch bremsende Kräfte sind, die sehr zum Tragen kommen. Das beschreibt Polanyi und auch E. P. Thompson, dass die radikalen Maschinenstürmer, Musterbeispiele rücksichtsloser Militanz, in Wirklichkeit ganz häufig eine Agenda hatten, die wir vielleicht als reformistisch bezeichnen würden. Die sind also nachts herumgezogen und haben Fabriken angezündet und Maschinen zertrümmert – aber was sie damit bezweckten, war nicht, den Einsatz von Maschinen insgesamt zu verhindern, sondern sie wollten lediglich, dass das nicht unreglementiert geschieht, und forderten, diese Entwicklung solle verlangsamt werden, um sie unter Kontrolle zu behalten und sozial verhandeln zu können, was da technologisch passierte. Das ist zum Beispiel eine Perspektive, die ich extrem interessant und aktuell finde, auch wenn das, was sie im Schilde führt, erstmal sehr viel weniger radikal ist als es ihre militante Kampfform vermuten lässt. Man kann ja auch heute beobachten, dass zum Teil Leute, die extrem militant auftreten, eine Agenda vertreten, die erstmal bloß nach Entschleunigung klingt, also abbremsen, um überhaupt erstmal zu reflektieren, was da geschieht, und das dann politisch gestalten zu können. Daraus sollte man ihnen aber keinen Vorwurf machen, sondern das hat schon seinen Platz. Von daher würde ich sagen: Man kann beides machen. Also der Sprung in autonome Strukturen kann sinnvoll sein. Und es kann auch sinnvoll sein, sich erstmal bremsend – oder, wenn man so will: reformistisch – auf das zu beziehen, was noch da ist, über Forderungen nach dem Erhalt bestimmter sozialstaatlicher Leistungen und dergleichen. Da muss man jeweils schauen, was realistisch möglich und strategisch sinnvoll ist und wofür man Verbündete findet.
Das würde dann bedeuten, dass wir uns auf eine multistabile Strategie verständigen, bei der wir einerseits die sozialen Errungenschaften in Sozialstaat und Arbeitswelt verteidigen, ihren Abbau nach Möglichkeit bremsen, und andererseits zugleich ein zweites Standbein in Form autonomer Organisationen aufbauen, die uns für alle Eventualitäten absichern und unsere Reproduktion so weitgehend wie möglich von den Launen des Kapitals und der Gunst des Staates unabhängig machen.
Genau. Auch das ist etwas, das man von den Erfahrungen des Vormärz lernen kann: dass verschiedene Strategien einander durchaus auch zuarbeiten können. Das ist ein Gedanke, der der Arbeiterbewegung später ja ausgetrieben worden ist über die Debatten um Reform versus Revolution. Da sah es lange Zeit so aus, als ob man sich entscheiden müsste und sich sogar gegenseitig zu verdächtigen habe, dass die jeweils anderen dem eigentlichen Gegner in die Karten spiele. Sodass die Reformisten zu den Revolutionären sagten: Solange ihr immer nur von der großen Revolution sprecht, ändert sich gar nichts. Und dass umgekehrt die Revolutionäre zu den Reformisten sagten: Ihr wirkt doch im Endeffekt bloß systemstabilisierend mit den kleinen Verbesserungen, die ihr vornehmt. Und da ist ja auch an beidem etwas Wahres dran. Aber vielleicht ist das gar nicht so relevant. Vielleicht ist von größerer Bedeutung, dass beide Strategien weiterkommen könnten, wenn sie, anstatt einander zu bekämpfen, sich gegenseitig ergänzen und stärken würden.
Du betrachtest in Deiner Poesie der Klasse auch Zeitschriften wie etwa den Hülferuf von Wilhelm Weitling, über den wir bereits sprachen. Welche Rolle nahmen damals solcherart kleine Publikationen bezüglich der politischen Selbstvergewisserung ein? Und welche Rolle könnten ähnliche Projekte – wie etwa auch die HUch – heute spielen?
Ich persönlich war diesen Zeitschriftenmacherinnen natürlich wahnsinnig dankbar, weil das über weite Strecken fast die einzigen Quellen sind, die man aus dieser Zeit hat bezüglich dieser Fragen. Es handelt sich also um eine große Dokumentationsleistung. Aber selbstverständlich haben sie ihre Arbeit nicht für uns, sondern in erster Linie für einander dokumentiert. In einer Zeit, in der es die Bewegung noch nicht gab und über die erst im Nachhinein gesagt werden kann, dass sich damals etwas konstituierte, war das eine extrem wichtige Aufgabe: gegenseitige Selbstvergewisserung durch Dokumentation dessen, was andere Leute anderenorts tun. Heinrich Heine hat das einmal sehr schön auf den Punkt gebracht, in dem gespielt-größenwahnsinnigen Gestus, der ihm oft eigen ist. Im Vorwort zu der Lutetia – das ist eine Sammlung von Korrespondenzartikeln aus seiner Pariser Zeit in den 1830er und 40er Jahren – da schreibt er, dass die kommunistische Bewegung ihm dankbar sein müsse, weil durch ihn überall verstreute Einzelne lesend erfahren konnten, dass es anderswo auch verstreute Einzelne gab und so überhaupt erst begriffen, dass sie Kommunisten waren. Und das gilt eben nicht nur für Einzelne, sondern beispielsweise auch für kleine Vereine oder andere, in Arbeitskämpfe und andere Reproduktionskämpfe verwickelte kleinere Gruppen.
Einerseits wurden also die Erfahrungen der Selbstorganisation über diese Zeitschriften verbreitet, andererseits ist die Herstellung einer solchen Zeitschrift selbst auch schon ein kollektives Unterfangen. Zwar gibt es da auch immer einige hervorstechende Figuren, die eine ganze Menge im Alleingang erledigen, aber in aller Regel und zumal wenn man mit einbegreift, die Zeitschrift auch wirklich physisch herzustellen und sie zu verbreiten, also dort hin zu bringen, wo sie gelesen wird, handelt es sich dabei doch um etwas, das der Kooperation und eines Knüpfens von Verbindungen bedarf. Insofern ist dann die Herausgabe einer Zeitschrift nicht nur nützlich zur Dokumentation proletarischer Selbstorganisation, sondern auch selbst ein Teil davon. Man gründet also eine Zeitung, die Selbstorganisation dokumentiert und macht dabei selbst Erfahrungen von Selbstorganisation, die man wiederum dokumentieren kann – eine gewissermaßen zirkuläre Veranstaltung, die dann endgültig dadurch komplementiert wird, dass solche Zeitschriften damals auch häufig kollektiv gelesen wurden. Man darf sich das nämlich nicht so vorstellen, dass da der einzelne Proletarier in seiner Wohnung saß und Zeitung las, sondern man musste eben ins Vereinslokal gehen oder zu dem Gastwirt, der diese Zeitschriften ausgelegt hat, oder in Leihbibliotheken, wo man sie dann zum Teil in Gruppen in Lesekammern gelesen und besprochen hat. So hatte diese ganze Struktur einen durchgängigen Zug zum Kollektiven und zur Kollektivierung letztlich nicht nur von Meinungen, wie man es heute mit Medien und Öffentlichkeit verbindet, sondern in erster Linie von Praktiken und Erfahrungen.
Ich bin in den 80ern und 90ern noch in einer linken Zeitschriftenkultur sozialisiert worden, in der das so ähnlich gehandhabt wurde, in der man also nicht so sehr geschaut hat, was es schon gab an Zeitungen und da seine Texte hingeschickt hat, sondern auch einfach eine eigene Zeitschrift für die eigenen Texte gründen konnte, wenn man wollte. Das hat sich durch Digitalisierung und Internet sicherlich etwas verschoben. Die Praktiken verändern sich natürlich durch das Medium. Was mich zum Beispiel am Bloggerwesen nervt, ist, dass das eben häufig solche vereinzelten Einzelnen sind, die da nachts vor ihrem Rechner sitzen und in die Tasten hauen. Und das ist den Texten, die dabei herauskommen, häufig anzumerken. Die sind dann zwar oft klug und gut informiert, aber eben nicht diskutiert. Wenn sie dann hinterher in irgendwelchen öffentlichen Kommentarspalten diskutiert werden, ist das etwas ganz anderes als wenn ein Text bereits durch einen Diskussionsprozess durchgegangen ist, bevor er überhaupt erscheint. Diesen Zug zur Kollektivität zu pflegen, ist heute sicherlich genauso wichtig wie im Vormärz: Die Geburt der Arbeiterbewegung aus dem Geist des Zeitschriftenlesekreises.
Das Interview führte Thomas Zimmermann