Von Matthias Ubl
Eckhart Nickel thematisiert in seinem Roman Hysteria das Verhältnis von Mensch und Natur in Zeiten unbegrenzter technologischer Möglichkeiten und hat dabei ein großes Kunstwerk geschaffen.
Eckhart Nickels Roman Hysteria, der im Herbst 2018 bei Piper erschien, ist ein seltsamer Text. Eigensinnig, einzigartig, auch undurchschaubar und unheimlich. Der Roman beginnt mit einer Beobachtung Bergheims, des Protagonisten, der auf einem Biomarkt feststellt, dass mit den Himbeeren etwas nicht stimmt. Diese sind nicht mehr knallig rot, sondern haben sich, wenn auch fast unmerklich, leicht bläulich verfärbt. Dem studierten Kulinariker Bergheim fällt auch sofort auf, dass die Himbeeren anders als gewohnt schmecken.
Nickel lässt seinen Protagonisten daraufhin durch eine unwirkliche Welt wandern, die den Bildern einer Landlust-Zeitschrift entnommen scheinen. So wie dort paradoxer Weise gerade hochmoderne Kameras und Bildbearbeitungsprogramme ›Natürlichkeit‹ konstruieren, so scheint auch Nickels Öko-Dorf-Landschaft technologisch durchdrungen und dadurch anfällig für ›Bugs‹ zu sein – also Programmierfehler. Fällt den Kühen da auf der Weide gerade etwa die Haut ab?
Um der Sonderbarkeit der Himbeeren auf die Spur zu kommen, besucht Bergheim die Öko-Kooperative ›Sommerfrische‹, wird dort aber an das mysteriöse kulinarische Institut weiterverwiesen. Dort angekommen trifft der Protagonist dann zu seiner großen Überraschung auch noch seine Jugendliebe Charlotte wieder, die sich in ihrer Jugend der Öko-Terrorgruppe ›spurloses Leben‹ angeschlossen hat und dann untergetaucht war. Das ›spurlose Leben‹ war angetreten, um die Menschheit auf Dauer verschwinden zu lassen, damit die Natur wieder ganz ›natürlich‹ für sich sein könne.
Die Jugend von Charlotte, Bergheim und ihren Freunden, wird in lang ausgeschmückten Rückblenden erzählt. In ihrer Universitätstadt, irgendwo zwischen Hogwarts und Heidelberg, geht es ziemlich gesittet zu. Man trifft sich am liebsten in der Buchhandlung von Hinrich Weiss (dem intellektuellen Lokalmatador und Kleinstadtweisen) oder in der ›Aromabar‹, wo man einen 100% clean-organischen Rausch erleben kann, der nur durch Duftstoffe erzeugt wird. Alkohol und Tabak sind längst verboten und Kaffee (für konzentriertes Lernen) muss man sich beim Dealer besorgen. Ideologiekritik des ›Prenzlauer-Berg-Milieus‹ durch Überzeichnung – so könnte man das nennen.
Zurück aber zur Buchhandlung von Weiss – denn hier gibt Nickel den entscheidenden Hinweis, was das eigentlich alles soll. Kirsten Ofen, Mitarbeiterin von Weiss und heimlich in Bergheim verliebt, hat eine ausgefallene Leidenschaft für hochkomplizierte Schaufensterdeko. So werden in der Auslage der Buchhandlung in Puppenhausmanier Szenen aus den literarischen Klassikern dargestellt, mal aus dem Zauberberg und mal aus E.T.A. Hoffmanns Sandmann. Nachdem Kirsten entdeckt, dass Bergheim ihre Liebe nicht erwidert, vernichtet sie mit akribischer Genauigkeit ihr selbst gebautesSandmann-Schaufensterbild, wobei der Sandmann (wenn man so will) restlos ›verdrängt‹ wird – denn nicht ein Sandkorn darf übrig bleiben. Und wie das so ist mit dem Verdrängten, kehrt dieses in anderer Gestalt wieder – hier etwa als strukturgebende Referenz des Romans, der wie eine Aktualisierung von Hoffmanns Erzählung wirkt und zahlreiche Bezugnahmen enthält.
Der Sandmann von Hoffmann gilt als eines der bedeutendsten Werke der Schwarzen Romantik und ist als hochkomplexes Kunstmärchen konzipiert. Der Text erzählt von einem traumatischen Erlebnis in der Kindheit Nathanaels, der von dem Advokaten Coppelius, einem Freund seines Vaters, missbraucht wird. Coppelius wird dabei mit der Figur des Sandmanns aus dem Ammenmärchen identifiziert, der den Kindern Sand in die Augen streut, bis diese »blutig herausspringen«. Das kindliche Trauma verfolgt Nathanael sein Leben lang – und immer wieder glaubt er, dass Coppelius ihn in Gestalt des Wetterglashändlers Coppola heimsucht. Was die Einbildung Nathanaels und was gesicherte Auskunft über die realen Begebenheiten ist, verwischt der Text dabei von Anfang an auf kunstvolle Weise. Am Ende wird Nathanael verrückt werden. Verhandelt werden in diesem Werk nichts weniger als die Grenzen der Aufklärung.
Bei Hoffmann bewegen sich die zentralen Metaphern daher immer wieder im semantischen Feld des Blicks, des Sehens und der Augen (die das Licht der Aufklärung empfangen). Gerade deren Funktionieren wird aber radikal in Frage gestellt. Die Grenzen der Aufklärung scheinen bei Hoffmann dabei gerade aus deren technologischer Bedingtheit zu stammen. So ist es das Fernrohr (das Nathanael von Coppola erhält), das den Blick verstellt und durch das Nathanael den Automaten Olympia beobachtet, in den er sich verliebt und den er mit seiner wirklichen Verlobten verwechselt.
Der berühmteste Interpret des Sandmanns ist Sigmund Freud, der seine Konzeption des Unheimlichen mit Blick auf Hoffmanns Text entwirft. Freud bemerkt: »Das Unheimliche wäre eigentlich immer etwas, worin man sich sozusagen nicht auskennt.« Auch in Nickels Welt kennen wir uns nicht aus. Allerdings kommt das Unheimliche, dessen Register der Autor meisterhaft bedient, in Hysteria nicht mehr aus der (traumatischen) familiären Konstellation, sondern aus der scheinbar restlosen technologischen Manipulierbarkeit der Natur durch den Menschen. Nickel knüpft direkt an die Metaphorik von Hoffmann an, wenn er seinem Protagonisten im Institut für Kulinarik die erste künstlich hergestellte und ihre Gattung reproduzierende Fliege ins Auge schwirren lässt. Immer wieder wird Bergheims Blick, so wie der Nathanaels, radikal verunsichert – und damit natürlich auch der Blick der Leser_in.
Doch worin besteht diese Verunsicherung? Sie betrifft die Opposition von Künstlichkeit und Natürlichkeit, von Mensch und Natur. Die Ideologen vom ›spurlosen Leben‹ wollen die menschlichen Einflüsse auf die Natur maximal einschränken, ja den Menschen am liebsten ganz abschaffen. »Die Existenz der Menschen auf der Erde ist biologischer Zufall und steht der uneingeschränkten Entfaltung der Natur im Weg« – so heißt es in ihrem Manifest. Das scheint aber gerade noch mehr Zerstörung (Überschwemmungen, Naturkatastrophen) hervorzurufen – also muss der Plan geändert werden. Das ›spurlose Leben‹ – das wird am Ende klar – hat ihre radikalen Ideen moduliert und den Marsch durch die Institutionen angetreten. Das kulinarische Institut, so erfahren wir, war einmal selbst Teil des ›spurlosen Lebens‹ und ist nun staatstragend geworden. Lakonisch stellt ein Mitarbeiter des Instituts fest: »Die Natur, die wir in ihren ursprünglichen Zustand zurückversetzen wollten, war gerade dabei, sich selbst aufzulösen.« Es musste also ein Plan B her. Und Plan B, man erinnere sich an die ›verbuggten‹ Kühe und die Himbeeren, schien die Schaffung einer eigenen, perfekten ›Kunst-Natur‹zu sein. Hier ist also eine eigentümliche Dialektik am Werk. Da die Auslöschung des Menschen nicht zur optimalen Entwicklung der Natur führt, muss jener technisch die perfekte ›Natur‹ erschaffen. Moment mal, ist das nicht wieder Kunst?
Dr. Haupt, der ominöse Leiter des Instituts, kreiert Himbeeren, Kühe, vielleicht sogar Menschen. Dabei scheint die Welt in Hysteria komplett überwacht zu sein, denn die Mitarbeiter_innen des Instituts wissen immer schon, was Bergheim getan hat, wo er war, welche Gespräche er führte. Doch das ist nicht alles. In einem grandiosen Finale eröffnet der Roman noch einmal ganz neue Ebenen der Deutung. Denn wie das so ist in einer guten Erzählung, wird keine Figur umsonst eingeführt und die Jugendfreunde des Protagonisten finden alle wieder zusammen. Gut konstruiert wirkt das ›natürlich‹, hier aber? Sagen wir es so: Ob das Institut und die Kühe nur eine Phantasie Bergheims waren, bleibt sehr offen. Oder ist er umgekehrt sogar selbst eine von Dr. Haupts Kreaturen? Und Nickel setzt am Ende sogar noch einen drauf: Ist es möglicherweise die Sprache, die Schrift selbst, die Erkenntnis immer schon ermöglicht und sie zugleich verstellt? Immerhin ist sie die erste aller Techniken. Bei solchen Fragen kann man schon mal irre werden. Und das soll Kunst ja bewirken. Sie ist die Krise im Innern der Vernunft, im besten Fall eine produktive.
Eckhart Nickel: Hysteria. Piper Verlag. 240 Seiten, 22 €