Von Joshua Schultheis
Die Ergebnisse der letzten Landtagswahlen zeigen: Die AfD ist im Begriff, sich fest im Parteiensystem der BRD zu verankern. Was es heißen könnte, wenn sie jemals Regierungsverantwortung bekäme, soll hier am Beispiel der Bildungspolitik veranschaulicht werden.
In der taz-Ausgabe vom 2. Oktober spielt Philipp Rausch, bekannt als Gründer des Zentrums für politische Schönheit, ein düsteres Szenario durch. Man stelle sich vor, die AfD würde in der Bundestagswahl 2025 mit 33 Prozent aller Stimmen zur stärksten Kraft im Parlament gewählt: Obwohl sich alle anderen Parteien zu einer »Rettungskoalition« zusammenschließen, versinkt das Land im Chaos, gibt es bürgerkriegsähnliche Zustände auf den Straßen. Als auch Neuwahlen nichts an der Lage ändern, knickt zuerst die Presse und danach die CDU ein. Mit dem Rückenwind der wichtigsten Meinungsmacher*innen gehen die Christdemokraten schließlich ein Bündnis mit der AfD ein. Der Faschismus ist wieder an die Macht gekommen – auf genau dieselbe Art wie schon 1933. Und so beschließt Philipp Rausch seinen Essay mit einer Beschwörung: »Die AfD darf niemals an einer Regierung beteiligt werden. Daran dürfen wir nicht einmal denken.«
Doch leider wird daran sehr wohl gedacht. Während sich die Bundespartei der CDU nach wie vor unzweideutig gegen die AfD als Koalitionspartnerin ausspricht, bekommt dieser Konsens auf Landesebene erste Risse. In Sachsen-Anhalt etwa verlieren einige CDU-Mitglieder, der ungeliebten »Kenia-Koalition« überdrüssig, zunehmend ihre Berührungsängste vor der AfD. Der Landtagsabgeordnete Frank Scheurell sagte unlängst, dass man mit allen demokratischen Parteien reden müsse und »dazu zählt auch die AfD«, und aus dem Kreisverband Harz kam ein Papier, in dem gefordert wird, dass die CDU zukünftig mit den Parteien koalieren solle, »mit denen die größten Schnittmengen vereinbar sind«. Diese bestehen allerdings in vielen Bereichen nicht mit Grünen oder Sozialdemokraten, sondern mit den Rechtspopulisten. Das gilt auch für das Politikfeld, mit dem man sich auf Landesebene am stärksten profilieren kann: der Bildungspolitik. Wenn in den nächsten Jahren die wackeligen Dreier-Bündnisse in den ostdeutschen Bundesländern scheitern sollten, wäre eine Regierungsbeteiligung der AfD durchaus denkbar. Um sich auszumalen, was es hieße, wenn die Rechten wieder über unsere Bildungsinstitutionen bestimmten, braucht es aber nicht das Gedankenexperiment eines Künstlers. Es reicht ein Blick in die Wahlprogramme der AfD, um eine Ahnung davon zu bekommen, was uns dann blüht.
Für die unbedarfte Wähler*in halten die Programme von Bundes- und Länder-AfD in Sachen Bildungs- und Wissenschaftspolitik einiges Unverfängliches bereit: Schulsanierungen, mehr Lehrer*innen, regionales Schulessen, Förderung ländlicher Kleinschulen, eine bessere Grundfinanzierung der Universitäten, größere Unabhängigkeit von Drittmitteln, mehr Festanstellungen im Mittelbau etc. Wer an einer Uni oder Schule arbeitet, kommt kaum umhin, genau so wie die AfD die Verschulung des Studiums oder eine verfehlte Inklusionspolitik zu beklagen. Die AfD legt den Finger dahin, wo es weh tut. Für die Schule heißt das: Fehlende Anerkennung für Lehrer*innen, eine blinde Technisierung der Schulen, abfallendes Leistungsniveau in den Gymnasien und die Geringschätzung aller Bildungswege, die nicht zum Abitur führen. Für die Hochschulen: Unterfinanzierung, schlechte Arbeitsbedingungen, überfüllte Hörsäle, die schlechte Bilanz der Bologna-Reform und die Entkernung der Humboldtschen Universitätsidee. Die AfD setzt, durchaus scharfsinnig, mit ihrem Bildungsprogramm an Defiziten an, die manch andere Partei in der Tat nicht wagt, mit derselben Drastik anzusprechen. Ihre vernichtende Diagnose einer »darbende[n] Bildung« mag für viele daher etwas Verführerisches haben. Die Maßnahmen aber, die die AfD daraus ableitet, lassen keinen Zweifel daran, dass ihre Bildungspolitik vor allem durch autoritäres Denken sowie rassistische und sozialdarwinistische Vorstellungen motiviert ist.
Die Antwort der AfD auf die steigenden Abiturquoten und voller werdenden Universitäten besteht in derRückkehr des dreigliedrigen Schulsystems und der alten Diplom- und Magister-Abschlüsse, höherenLeistungsansprüchen im Gymnasium sowie Aufnahmetests als zusätzlicher Hürde auf dem Weg zum Studium. Die Formeln hierzu lauten »Qualität vor Quantität« oder »Mut zu Leistung statt Akademisierungswahn«. Anstatt »Gleichmacherei« zu betreiben, sollen die Schüler*innen wieder gemäß ihrer individuellen Talente gefördert werden: das Studium soll nur noch für entsprechend »begabte und strebsame junge Menschen« offen stehen; für den größeren Teil der Schüler*innen hingegen, die »stärker praktisch als theoretisch begabt« sind, ist praxisorientierter Schulunterricht und eine Berufsausbildung vorgesehen. Der Umstand, dass »Inklusion« bisher vor allem als Vorwand benutzt wird, um durch die Zusammenlegung von Schulen Geld zu sparen, lässt die AfD nicht etwa kleinere Klassen und mehr Personal für die Regelschulen versprechen, sondern einen Ausbau der Sonderschulen. Während so einerseits Kinder mit Behinderungen wieder aus den regulären Schulen verschwinden sollen, plant die AfD andererseits eine stärkere Förderung »Hochbegabter«. Die krude Begründung für ein derart hierarchisiertes Bildungssystem: »Schüler haben ein Recht darauf, in einem nach oben und unten durchlässigen Schulsystem Erfolge und Niederlagen zu erfahren.«
Die Bildungspolitik der AfD ist getrieben von naturalisierenden Vorstellungen von »Veranlagungen und Begabungen« von Kindern und Jugendlichen. Das größte Manko des aktuellen Schulsystems sieht sie darin, dass es den Menschen nicht mehr die Plätze zuweist, auf die sie »natürlicherweise« gehören. Deshalb befürwortet die AfD auch »uneingeschränkt das Leistungsprinzip«, demgemäß permanent ausgesiebt werden muss, wer nicht mithalten kann. In der Summe stellt das Programm der AfD nichts anderes dar, als die Zurücknahme der teilweisen Demokratisierung, die in unserem Bildungssystem in den letzten Jahrzehnten stattgefunden hat. Aus den Gymnasien und Universitäten sollen jene Bevölkerungsteile wieder verjagt werden, die gerade erst dabei waren, sich ihr uneingeschränktes Recht auf Bildung zu erkämpfen. Die Partei, die sich »in der Tradition der beiden Revolutionen von 1848 und 1989« wähnt, will am liebsten die Zeit dahin zurückdrehen, wo akademische Bildung noch ein Privileg der Wenigen war, in der Schule noch die »klassischen preußischen Tugenden« galten und niemand die »natürliche, ordnende Autorität« des Lehrers in Frage stellte.
Wohlgemerkt sollen in den Genuss dieses – der menschlichen Natur endlich wieder zu ihrem Recht verhelfenden – Schulsystems nur die deutschen Kinder kommen. Für die Kinder von Geflüchteten und Migrant*innen hat die AfD etwas anderes vorgesehen. Es seien nämlich überhaupt erst »Massenimmigration und Familiennachzug«, die die Bildungsmisere in Deutschland zu verantworten hätten. Nicht nur würde dadurch der Lehrermangel noch verschärft; es habe sich auch gezeigt, »dass diese Kinder, nicht zuletzt wegen ungenügender Sprachkenntnisse, dem Unterricht schlecht folgen können und dadurch einheimische Schüler in ihrem Lernfortschritt behindern.« Während daher die Schule den autochthonen Schüler*innen »Heimatliebe vermitteln« soll, gelte es, die Kinder der »weitgehend illegalen« Migrant*innen »auf das Leben nach der Rückkehr in ihr Herkunftsland vorzubereiten.« Am wenigsten Zweifel daran, wem deutsche Schulen offen stehen sollten und wem nicht, lässt die Thüringen-AfD um den ehemaligen Geschichtslehrer Björn Höcke: »Thüringen braucht keine bildungsfernen Migranten. […] Wir werden daher unmittelbar nach Übernahme der Regierungsverantwortung eine massive Abschiebungsinitiative starten.«
Geht es um die hiesigen Universitäten, beschwört die AfD gerne den Mythos Humboldt. Sich den »Licht- wie auch Schattenseiten« der deutschen Geschichte stets bewusst, fühlt sie sich bemüßigt zu betonen, dass aufgrund der Ideen des preußischen Reformers »Deutschland jahrzehntelang die weltweit führende Bildungs- und Wissenschaftsnation war.« Wegen der unfähigen Studierenden, der Bologna-Reform und »planwirtschaftlichen Zielvorgaben« (etwa Frauenquoten) sei das heute aber nicht mehr so. Um den deutschen Hochschulen zu altem Glanz zu verhelfen, soll es in Zukunft vor allem weniger Studierende geben. Nur vor diesem Hintergrund lässt sich das Versprechen der AfD verstehen, eine bessere Grundfinanzierung zu gewährleisten und die Drittmittelabhängigkeit zu verringern. Nimmt man die teilweise Öffnung der Universitäten zurück, die für viele die Chance auf einen gesellschaftlichen Aufstieg bedeutet, hat man genug Geld, um die so selektierte Elite großzügig zu finanzieren. Da Wilhelm von Humboldt für die Freiheit der Wissenschaft steht, sollen auch die Zivilklausen abgeschafft werden, setzen sie der Forschung doch Grenzen. Und weil Wissenschaftsfreiheit auch bedeutet, »frei von ideologischen Zwängen« zu sein, sollen außerdem die Lehrstühle für Gender Studies eingestampft werden. Bei der Vorstellung dieser Zurück-zu-Humboldt-Universität der AfD würde sich ihre unfreiwillige Gallionsfigur – man kann der AfD da durchaus Leichenfledderei vorwerfen – im Grabe umdrehen.
In Sachsen wie in Brandenburg bahnt sich nach den Landtagswahlen eine Koalition aus CDU, SPD und Grünen an. Sachsen-Anhalt hat sie schon. Und die Wahlergebnisse in Thüringen machen ein Bündnis mit einer Mehrheit ohne die AfD praktisch unmöglich. Aller Voraussicht nach wird es also in fast allen ostdeutschen Bundesländern extrem instabile Regierungskoalitionen geben. Ohne Zweifel wird dann die Meinung, dass man das mit der AfD pragmatisch sehen müsse, nicht mehr nur von einigen CDU-Hinterbänklern gepflegt werden. Ist dieses Tabu erst einmal gebrochen, wird sich vermutlich zeigen, dass CDU und AfD eigentlich ganz gut miteinander können. In der Bildungspolitik etwa ließe sich einiges gemeinsam anpacken: dreigliedriges Schulsystem, Vermittlung konservativer Werte im Unterricht, Segregation von Kindern, »die nicht ausreichend Deutsch sprechen« (Regierungsprogramm der CDU Thüringen), Hochbegabtenförderung, weniger Akademiker*innen, Abschaffung der Zivilklausel. Selbstverständlich will die AfD noch deutlich weiter gehen als die CDU, begründet sie ihr bildungspolitisches Programm doch mit einem eindeutig rassistischen und verschwörungstheoretischen Weltbild. In der Sache aber sind für die Christdemokraten die Schnittmengen mit der AfD viel größer als etwa mit den »linksradikalen Grünen«, wie es jüngst in einer Erklärung der Werteunion hieß.
Das Szenario eines rechts-außen Kultusministers in mindestens einem dieser Bundesländer muss also nicht, wie in dem Essay von Philipp Rausch, ins Jahr 2025 verlegt werden. Auch wird die AfD dafür keine 33 Prozentbenötigen. Die Wahlergebnisse, die die Alternative für Deutschland in den letzten Landtagswahlen eingefahren hat, reichen bereits aus, und der Grundstein für eine Koalition mit der CDU wird heute schon von Christdemokraten und Rechtspopulisten gleichermaßen gelegt. Man muss damit rechnen, dass der parlamentarischen Rechten bald nicht mehr nur Portale zur Denunziation von Lehrer*innen oder Kleine Anfragen als politisches Gestaltungsmittel zur Verfügung stehen, sondern sie auch direkte Weisungsbefugnis über Schulen und Universitäten erhält. Anstatt diese Möglichkeit aus den Gedanken zu verbannen, gilt es jetzt darüber nachzudenken, wie unter solchen Bedingungen Widerstand aussehen könnte, wie sich in Schulen und Universitäten oppositionelle Strukturen stärken ließen und welche Möglichkeiten es für Schüler*innen, Lehrer*innen, Studierende und Dozierende geben wird, sich zur Wehr zu setzen.