Gelb sehen in grün – HUch#90

| Von Elio Nora Hillermann |

Rückblickend auf die Mobilisierungen der Gilets Jaunes lassen sich individuelle Politisierungsprozesse ausmachen, die Perspektiven für neue politische Handlungsspielräume offenlegen – und Anknüpfungspunkte für die Klimafrage darstellen. 

Seit mehr als einem Jahr widersetzen sich die Gilets Jaunes der bürgerlichen Hoffnung sowie der revolutionären Angst, dass sie vom Fenster der politischen Auseinandersetzungen in Frankreich verschwinden werden. Zeit für ein Update also: Im Anschluß an meinen in der HUch#89 erschienenen Text zu den Gilets Jaunes, in dem ich deren Charakter einer sozialen Bewegung in der langen – und andauernden – Sequenz von Protesten, Aktionen und lokaler Organisation aufzuzeigen versuchte, möchte ich die soziale Frage, welche die Gilets Jaunes auf den Plan gerufen haben, hier wieder aufnehmen und sie in den Kontext der allgegenwärtigen Klimaproteste stellen. Anschließend an erste Überlegungen zur Verortung der Gilets Jaunes im Feld der Klimafragen- und kämpfe möchte ich eine These zu Prozessen politischer Subjektivierung in der Bewegung der Gilets Jaunes vorschlagen, diese dann auf die Klimabewegung beziehen, um schließlich Parallelen und Divergenzen zwischen Klimabewegung und Gilets Jaunes auszumachen – und das Potential einer Konvergenz einzuschätzen.

Systemsprenger_innen fürs Klima

Zunächst einmal mag es durchaus merkwürdig erscheinen, die Bewegung der Gilets Jaunes überhaupt mit den rasant wachsenden Klimakämpfen in Verbindung zu setzen. Denn die sich seit November 2018 unter dem Symbol der gelben Weste mobilisierenden Massen richteten sich zunächst gegen eine Erhöhung der Kraftstoffsteuer, einen Gesetzesentwurf der französischen Regierung, der einer Verringerung von Treibhausemissionen dienen sollte. Auf den ersten Blick wendeten sich die Gilets Jaunes also gegen eine klimapolitische Maßnahme, weshalb die Bewegung von der medialen Öffentlichkeit als Anti-Klima-Protest gebrandmarkt wurde. Es ist jedoch wichtig, zu unterstreichen, dass die Kritik der Gilets Jaunes an der Kraftstoffsteuer nicht den Klimaschutz in Frage stellte, sondern die neoliberale und anti-soziale Politik Emmanuel Macrons und seiner Regierung. Denn die Reform der Kraftstoffsteuer zielte letztlich darauf, über höhere Benzinpreise die Reduzierung des nationalen CO2-Fußabdrucks auf die Autofahrer_innen in Frankreich abzuwälzen – eine Maßnahme ganz im Sinne des Green Capitalism, d.h. dem irrationalen Versuch, die Klimakrise innerhalb des Systems der auf Wachstum und Ressourcenausbeutung angewiesenen freien Marktwirtschaft zu bewältigen.

Dieser grundsätzliche Widerspruch zwischen Aufrechterhaltung kapitalistischer Wirtschaftsformen und dem Anspruch, unseren Planeten zu retten, lässt sich in Bezug auf die geplante Gesetzesänderung konkret aufzeigen – denn diese Maßnahme zum Klimaschutz zu ergreifen, ist in ökologischer Hinsicht doppelt unsinnig. Erstens ist nämlich der größte Teil der Emissionen von Treibhausgasen nicht auf den Bereich der Konsumtion zurückzuführen, sondern auf jenen der Produktion, weshalb der erste Schritt zu ihrer Reduzierung eine scharfe Kontrolle der Industrie und der sie dominierenden großen, oft multi- oder internationalen Unternehmen beinhalten müsste. Eine Erhöhung von Kraftstoffsteuern ist zweitens insofern ökologisch unsinnig, als der größte Anteil der von Konsumverhalten – nicht von Produktion – herrührenden Emissionen auf einkommensstarke Schichten entfällt, auf soziale Gruppen also, denen höhere Kraftstoffpreise mehr oder weniger egal sein können, und die ihr Konsumverhalten entsprechend auch mit einem restriktiveren Gesetz nicht ändern würden.[1] Die Steuerreform repräsentierte also vornehmlich einen klimapolitisch sinnfreien Schritt einer Regierung, die ihr Image über die Klimafrage aufpolieren will, dabei aber an ihrer neoliberalen Schiene festhält und die Rechnung ohne die Bevölkerung macht, von der sie einfach erwartet, die Kosten ihrer Sperenzchen zu tragen.

Entsprechend stellte sich das Unterfangen der Steuerreform als politischer Suizidversuch heraus. Denn die bereits vor der neu angesetzten Steuererhöhung unglaublich hohen Benzinpreise hätten für alle prekär angestellten und auf ihr Auto angewiesenen Personen mit der neuen Steuer eine massive Existenzbedrohung dargestellt. Es handelte sich nämlich vornehmlich um Menschen, die ihr Auto entweder zur Ausübung ihres Berufs benötigen (beispielsweise Pflegekräfte, die den ganzen Tag von einem Privathaushalt zum nächsten fahren), oder nur mit dem Auto zur Arbeit kommen können, da sie in ländlichen, schlecht angebundenen Gegenden wohnen.[2] Und da für sie der Lohn gerade so ausreicht, um Grundbedürfnisse und das notwendige Benzin für einen solchen Arbeitsalltag zu bezahlen, war die Perspektive eines aufgrund von Benzinpreisen immer größer werdenden Lochs in der Tasche eine so terrorisierende Vorstellung, dass sie sich zusammengeschlossen und gelbe Westen angezogen haben, dass sie massenhaft das Land blockiert und in spektakulären Demonstrationen ihrer Wut Ausdruck verliehen haben. Die geradezu regierungsverachtende Dynamik, welche die Gilets Jaunes damit entfesselt haben, zeigt, dass eine Klimapolitik, die bloß an kleinen Stellschräubchen innerhalb des Systems dreht, die eine Einhegung von Emissionen über Konsum erreichen will und damit die ohnehin schon zu prekären Schichten zusätzlich belastet, grundsätzlich falsch angelegt ist. Es positionierten sich also nicht die Gilets Jaunes gegen den Klimaschutz, sondern die neoliberale Regierung Macrons entschied sich sowohl gegen eine Politik, welche die Bedürfnisse der eigenen Bevölkerung ernst nimmt, als auch gegentatsächlich sinnvolle klimapolitische Maßnahmen.

Mit dieser Kritik an der Steuerreform im Hinterkopf und damit auch mit einer über Konsumregulierung hinausgehenden Perspektive auf sinnvolle Klimapolitik, kann das Verhältnis der Gilets Jaunes zum Klimakampf neu gedacht werden. Es können so nämlich Dinge, welche die Gilets Jaunes in ihrer Praxis als soziale Bewegung angreifen –  Knotenpunkte der kapitalistischen Warenzirkulation bei Blockaden, Symbole nationalstaatlicher Herrschaft bei Demonstrationen – als stellvertretend betrachtet werden für das System, welches bekämpft werden muss, wenn die endgültige Zerstörung der Erde aufgehalten werden soll. Und insofern können die Gilets Jaunes vielleicht sogar viel eher als die Climate Marches und Freitagsstreiks als eine Bewegung bezeichnet werden, welche das Klimaproblem an der Wurzel angeht. Denn die Gilets Jaunes haben sich insbesondere im Zuge der voranschreitenden Mobilisierungen über die Monate hinweg zunehmend zu einer Bewegung entwickelt, die das System – sowohl das wirtschaftliche, als auch das politische – ganz grundsätzlich in Frage stellt und anzugreifen versucht. Und dabei ist es keinesfalls so, dass die Rolle der Gilets Jaunes im Hinblick auf den Klimakampf eine unbewußte, nur aus einer prekären ökonomischen Situation heraus erwachsene wäre. Sie formulieren ganz deutlich, dass der Kampf gegen die Zerstörung des Planeten Teil ihres Kampfes ist. Auf unzähligen gelben Westen, Transparenten und Protestschildern liest man die Parole »Fin du monde, fin du mois, même système, même combat« (Ende der Welt, Ende des Monats, gleiches System, gleicher Kampf). Damit sind zwei politische Herausforderungen – Klimakampf gegen den Weltuntergang und sozialer Kampf gegen das finanzielle Zittern am Ende des Monats – in einer Formel auf den Punkt gebracht. Beide Probleme sind vom kapitalistischen System generiert, also kann der Kampf nur ein gemeinsamer sein – gegen das System.

Politische Subjektivierung in Gelb

Dass die Gilets Jaunes nicht nur in ihrer radikalen, praxisverankerten Kritik an liberaler Demokratie und kapitalistischem Wirtschaftssystem eine politische Kraft im Klimakampf darstellen, sondern dies auch aktiv auf ihre Fahnen schreiben, ist eine Beobachtung aus den vergangenen Monaten der Mobilisierung. Weshalb dem so ist, soll im Folgenden nachvollziehbar werden. Die Menschen, die als Gilets Jaunes auf die Straße gehen, waren vor Beginn der Proteste mehrheitlich wenig politisiert, bezeichneten sich mitunter sogar als unpolitisch, und ihr Interesse an klimapolitischen Kämpfen war entsprechend gering. Um ihre Entwicklung hin zu dezidierten Klimaaktivist_innen zu verstehen, macht es Sinn, die Ebene individueller Subjektivierungsprozesse zu betrachten, die einzelne Personen als Teilnehmer_innen an dem kollektiven Geschehen durchlaufen haben.

Ein großer Teil der Gilets Jaunes ging ganz zu Anfang der Mobilisierungen mit der Überzeugung auf die Straße, dass die Regierung sich Ihrer Anliegen annehmen würde, dass sie als Bürger_innen gehört und ernst genommen werden würden. Doch die angestaute Wut über die Politik der Regierung unter Macron, welche konsequent die Bedürfnisse der Bevölkerung übergangen hatte, brach sich von Anfang an in so heftigen und gewaltvollen Handlungsweisen seitens der Protestierenden Bahn, dass einerseits die Regierung eine harte Abwehrhaltung einnahm und die Proteste mit einer erbarmungslosen Repression niederzudrücken versuchte, dass sich aber andererseits in dieser Konfrontationsstellung die Gilets Jaunes den Raum nahmen, den sie sich eröffnet hatten, und Forderungen weit über den Rückzug der Kraftstoffsteuer hinaus auf den Plan riefen – allen voran jene nach einer direkteren Partizipation an politischen Entscheidungen, d.h. einem Abbau der repräsentativen Demokratie. Damit gingen sie weit über das hinaus, was die Regierung auch nur im Traum zuzugestehen bereit gewesen wäre. Entsprechend blieb die einzige Maßnahme der Regierung, die den Gilets Jaunes auf rechtlicher bzw. ökonomischer Ebene tatsächlich entgegenkam, der Rückzug der geplanten Kraftstoffsteuer. Alle weiteren Anliegen, die auf der Straße, in Fernsehshows, in veröffentlichten Forderungen von den Gilets Jaunes geäussert wurden, ignorierte die Regierung, ohne sich in ihrem neoliberalen Programm beirren zu lassen. Den anfangs fast naiv auf eine Reaktion der Regierung wartenden Gilets Jaunes wurde also in kürzester Zeit bewusst, dass man nicht nur ihre Anliegen ignorierte, sondern auch mit Gummigeschossen und Granaten auf sie zu schießen bereit war, wenn sie ihren Protest weiterführten. Die Erfahrung dieser physischen Gewalt, die in der schockierenden Bilanz von 11 Toten[3], 25 Erblindungen, 5 zerfetzten Händen, und insgesamt zwischen 2 500 und 4 000 Verletzten ihren grausamsten Ausdruck findet[4], ging an den Menschen nicht spurlos vorüber, sondern wurde zu einem zentralen Motiv der Bewegung.

Und mit der physischen Repression war es natürlich nicht genug – auf juristischer Ebene zeichnete sich sehr schnell eine ähnliche Entwicklung ab. Anstelle von Reformen im Sinne der Gilets Jaunes nahm die Regierung mit der Zeit Gesetzesänderungen vor, die sich spezifisch gegen die Gilets Jaunes richteten. Darunter fanden sich vornehmlich Einschnitte in die Versammlungsfreiheit und in das Recht auf freie Meinungsäußerung. So wurde etwa mit der sogenannten Loi anti-casseurs vom 10. April 2019 den Polizeipräfekturen ermöglicht, Einzelpersonen Demonstrationsverbote zu verhängen, und Menschen wegen Vermummung (die oft zum Schutz vor Tränengas notwendig ist) festzunehmen. Ein weiteres Element bestand darin, massenhaft von der Möglichkeit präventiver Festnahmen Gebrauch zu machen.[5] Diese letztere Form juristisch-polizeilicher Repression geht so weit, dass es heute weitgehend unmöglich ist, in gelber Weste zu demonstrieren. Das Anmelden von Gilet-Jaunes-Demonstrationen wird von den Polizeipräfekturen selten gewährt, und wenn die Menschen versuchen, unangemeldet zu Demonstrieren, sorgen spezifisch für Demonstrationstage erstellte Erlasse dafür, dass die Polizei jede Person, die eine gelbe Weste trägt oder auch nur im Rucksack hat, präventiv festnehmen darf. Damit werden die Proteste zunehmend zum Verstummen gebracht und das Symbol, welches ein Jahr lang die politische Opposition in Frankreich verkörpert hat, wird aus dem öffentlichen Raum verbannt. Die Regierung räumt also den politischen Gegner, der auf der Straße agiert, mit Methoden, die sich von Grundrinzipien der Rechtsstaatlichkeit zunehmend entfernen, brutal aus dem Weg.

Es ist beinahe unglaublich, dass die Gilets Jaunes auf diese Kombination aus politischem Ignoriertwerden, juristischer Drangsalierung und immenser physischer Polizeigewalt nicht mit Resignation reagierten, sondern mit einer immer offenkundiger werdenden Radikalisierung und zunehmender Bestimmtheit, den Kampf weiterzuführen. Die Repression, die vom Staat ausging, hatte eine Politisierung im Sinne der Bildung einer radikalen Opposition gegenüber dem Staatsapparat zur Folge – aus der Opposition gegen eine Reform wurde eine Opposition gegenüber dem repräsentativen Parteiensystem der liberalen Demokratie als solcher. Die Stärke und das revolutionäre Potential der Gilets Jaunes scheinen also in genau diesem konsequenten Bestehen auf kompromissloser Kritik, und in der damit einhergehenden totalen Verweigerung von Kommunikation oder gar Kooperation mit der Regierung zu bestehen.[6] Insofern kann gerade das fehlende Eingelöstwerden der politischen Forderungen der Gilets Jaunes als Erfolg verstanden werden – als ein Hinausweisen über den status quo. Repression und Radikalisierung stehen somit in einem dialektischen Verhältnis zueinander, in dem sich beide notwendig und gegenseitig intensivieren. Dabei erzeugen sie ein revolutionäres Potential, das sich konkret darin niederschlägt, dass sich Menschen politisch neu ausrichten, Interesse an revolutionären und emanzipatorischen Ideen und Handlungsweisen entwickeln und sich für zukünftige soziale Bewegungen sensibilisieren.

Auf individueller Ebene haben diese Entwicklungen dazu geführt, dass einzelne Personen durch die prägenden Erfahrungen der Proteste und der Repression, durch die Einsicht in die Gewalt des Systems und durch die kollektiven Erlebnisse gegenseitiger Unterstützung und Solidarität zu politischen Subjekten geworden sind. Sie haben Prozesse politischer Subjektivierung durchlaufen, die nicht mehr ungeschehen gemacht werden können. Die kollektive Macht, welche diese Menschen in vielen Momenten ihres Widerstands erlebten, hat ihnen deutlich gemacht, dass Politik für sie nicht bloß Kreuzchen machen bedeuten muss, sondern dass sie gemeinsam demokratische Gewalt aufbauen und politisch etwas bewegen können. Dabei blitzte die Möglichkeit, dass alles anders sein könnte, in gemeinsamen Aktionen und in den Ansätzen horizontaler Organisation, in Blockaden und Besetzungen, in gegenseitiger Unterstützung bei Demonstrationen, in unzähligen kleinen und großen Momenten auf. Zudem hat gerade die Erfahrung der Polizeigewalt dazu geführt, dass unglaublich viele Gilets Jaunes sich beispielsweise mit antirassistischen Kämpfen in den Quartiers Populaires solidarisiert haben – mit Kämpfen in den französischen Vorstädten also, die von sozialer Segregation, von Kriminalität und dadurch von konstanter, rassistischer Repression durch die Polizei geprägt sind.[7]

Es hat sich also eine große Gruppe an Menschen formiert, die als ‚neue‘ politische Subjekte zu bereits existierenden emanzipativen Kämpfen hinzustoßen und damit ermöglichen, dass punktuell eine sogenannte convergence des luttes, eine Konvergenz der Kämpfe, möglich wird. Und es ist diese Perspektive, aus welcher die Involviertheit der Gilets Jaunes im Klimakampf zu betrachten ist. Die Erfahrung eines bestimmten, radikalen Protests hat einzelne Individuen einer subjektiven Politisierung unterzogen, die sie für andere Kämpfe sensibel gemacht hat. Die Frage, weshalb einige Gilets Jaunes sich ganz explizit den Klimaprotesten anschließen, kann also mit dieser Analyse politischer Subjektivierung beantwortet werden.

Gelbgrüne Parallelen?

Wenn die eben entwickelte These, dass ein bestimmter, auf ein spezifisches Thema fokussierter Protest die einzelnen an ihm teilnehmenden Individuen in einem Prozess politischer Subjektivierung radikalisieren und ihren politischen Handlungsraum erweitern kann, dann kann in der Folge die Frage gestellt werden, ob eben dieses Entwicklungsmuster nicht auch für die junge und bisher im Vergleich zu den Gilets Jaunes wenig radikale Klimabewegung gilt. Dies würde bedeuten, dass die jungen Menschen, die heute für den Planeten und für ihre Zukunft auf die Straße gehen, die streiken, sich organisieren und immer mehr Menschen mobilisieren – dass diese Individuen in ihrem kollektiven Handeln einen ähnlichen Prozess der Politisierung und potentiell auch der Radikalisierung durchlaufen, wie es bei den Gilets Jaunes der Fall war.

Nun gibt es zumindest einen Anhaltspunkt, der auf eine solche oder ähnliche Entwicklung verweist. Was bei den Gilets Jaunes als maßgeblicher Motor für die Politisierung der Bewegung gesorgt hat, war der Umstand, dass die Regierung ihre Anliegen weitgehend ignoriert hat, und dass mit diesem Ignoriertwerden eine Kritik an den institutionalisierten Mechanismen der repräsentativen Demokratie aufkam. Eine ähnliche Entwicklung zeichnet sich auch in der Klimabewegung ab – zumindest in Deutschland ist die Regierung weit davon entfernt, wirklich auf die Forderungen der Klimabewegung einzugehen, sondern hat beispielsweise mit dem an allen Enden defizitären Klimapaket gezeigt, dass sie der Dringlichkeit radikalen klimapolitischen Handelns, das seit Monaten auf der Straße gefordert wird, keine große Wichtigkeit beimisst. Insofern ist es durchaus plausibel, wenn nicht sogar bereits absehbar, dass die jungen Menschen beginnen, die Strukturen grundsätzlich zu hinterfragen, mit denen sie aufgewachsen sind, und von denen ihnen vorgegaukelt wurde, dass sie genauso richtig wie natürlich seien – dass Demokratie nur als repräsentative und Wirtschaft nur als kapitalistische funktionieren könne. Dass aus den Reihen von Fridays for Future und zuweilen auch von Extinction Rebellion zunehmend Kritik am Kapitalismus zu hören ist, scheint dies zu belegen; die kritische Auseinandersetzung mit dem Klimawandel hat diese Menschen zumindest zu einer dezidierten Kapitalismuskritik geführt. Ein Schritt ist also getan.

Nun verhält es sich aber mit dem zweiten großen Faktor, der bei den Gilets Jaunes zu einer ruckartigen, heftigen Politisierung geführt hat – der Repression nämlich – bei der Klimabewegung durchaus anders. Während die Gilets Jaunes durch die Erfahrung physischer und juristischer Gewalt in einen Prozess des Hinterfragens staatlicher Strukturen taumelten und sich für viele von ihnen eine über diese Erfahrung vermittelte Einsicht in die strukturelle Gewalt des Systems auftat, ist dieser substanzielle Motor der Radikalisierung in der Klimabewegung verhältnismäßig abwesend. Das liegt nicht zuletzt daran, dass die beiden Bewegungen durch Klassenunterschiede gekennzeichnet sind, aus denen sehr unterschiedliche Aktionsformen resultieren. Die Klimabewegung setzt sich überwiegend aus Personen der weißen Mittelschicht zusammen, aus Menschen der bürgerlichen Klasse also, die bei einem tatsächlich revolutionären Umsturz etwas zu verlieren hätten und entsprechend kein Interesse daran haben, das bestehende System grundsätzlich anzutasten. Ihre Forderungen bewegen sich also innerhalb des Rahmens der liberalen Demokratie, die das kapitalistische Wirtschaftssystem trägt, und dies schlägt sich in ihrer Praxis nieder. In den meisten Fällen demonstrieren sie in angemeldeten, legalen Demonstrationen und verurteilen Gewaltanwendung zur Durchsetzung politischer Ziele.

Dem gegenüber gehen die Gilets Jaunes, ihrerseits vornehmlich aus Menschen der unteren Mittel- und Unterschicht bestehend, aufgrund dringender materieller Zwänge auf die Straße, weil sie kollektiv festgestellt haben, dass sie nicht mehr über die Runden kommen, wenn sich nichts ändert. Es sind dies also Personen, die man einer Art heterogener proletarischer Klasse zuordnen kann: Menschen, die nichts mehr zu verlieren haben. Sie sind entsprechend zu sehr viel mehr bereit und halten nicht unbedingt am System der liberalen Demokratie fest. Und auch hier schlagen sich diese ökonomisch-sozialen Vorbedingungen in der Praxis nieder – die Wut über eine herablassende und bevormundende Regierung brach sich bei den Gilets Jaunes in gewaltsamen Protesten Bahn, in massenhaftem Ungehorsam und Widerstand.

Im Gegensatz zu den Gilets Jaunes werden die bürgerlichen Klimaprotestler_innen also aufgrund ihrer Klassenzugehörigkeit wohl kaum einfach so anfangen, Banken anzuzünden und Barrikaden zu errichten – dazu geht ihnen der Klimawandel nicht heftig genug an den Kragen. Gleichzeitig werden Polizei und Justiz keine Repression auf die Bewegung ausüben, solange sie keinen materiellen Druck ausübt, will heißen, solange sie die gegebene Ordnung nicht angreift und bei ihren pazifistischen Protestformen bleibt. Die Laufbahnen der Klimabewegung und der Bewegung der Gilets Jaunes scheinen also dort voneinander abzudriften, wo die Frage der (legitimen) Gewalt gestellt wird.

Die Frage nach der Möglichkeit einer Konvergenz der Kämpfe, die nötig ist, um eine möglichst große Schlagkraft gegen das System zu entfalten, welches unsere Lebensgrundlage zerstört, spitzt sich also an der Gewaltfrage zu. Das Zusammengehen von sozialem und ökologischem Kampf scheint dort auf der Kippe zu stehen, wo eine Seite zu Gewaltmitteln zu greifen bereit ist, und die andere diese ablehnt. Und doch erscheint es absurd, sich an dieser Frage zu scheiden, wenn es doch ein so eindeutiges gemeinsames Interesse gibt – nämlich das Aufhalten der Zerstörung dieses Planeten, um eine bessere Zukunft für alle zu ermöglichen. Einen Hauch von Hoffnung geben Situationen wie jene, in der Luisa Neubauer von Fridays for Future – Aushängeschild des friedlichen Klimaprotests – und Nike Mahlhaus von Ende Gelände – Gesicht des radikalen, antikapitalistischen Klimakampfes – in einem gemeinsamen Interview feststellen, dass sie sich über das Übel des Kapitalismus einig sind und deutlich machen, dass sie sich nicht spalten lassen.[8] Vielleicht braucht es also langfristig mehr junge Klimastreikende in weißen Anzügen – oder besser noch: in gelben Westen.


[1] Vgl. Guido Speckmann: Schweigt von Flugscham und Veggieday!, in: analyse & kritik – zeitung für linke Debatte und Praxis, Nr. 652, 16.9.2019, online unter: https://www.akweb.de/.

[2]Vgl. zur Rolle bestimmter Berufszweige in der Bewegung:Loïc Bonin und Pauline Liochon: Gilets Jaunes: Des Fractions de classes particulièrement mobilisées, comment l‘expliquer?,Lundi Matin, 23. September 2019, online unter: https://lundi.am/.

[3]Zehn der Todesfälle fallen in den Rahmen von Verkehrsunfällen bei Blockaden, lediglich eine Person starb bei einer Demonstration: während der Demonstration der Gilets Jaunes in Marseille am 1. Dezember 2018 schleuderte ein Polizist eine Tränengasgranate hinauf zu einem Fenster im vierten Stock, an dem Zineb Redouane stand. Die Granate explodierte in ihrem Gesicht und sie verstarb am Folgetag an den Folgen der Verletzungen.

[4]Die genaue Anzahl der Verletzten ist nicht eindeutig ermittelbar, die Dunkelziffer hoch. Die Angaben zu den Erblindungen und zerfetzten Händen sind von verschiedenen Quellen bestätigt, jene zu den allgemeinen Verletzungen (hauptsächlich an Kopf, Armen und Beinen) variieren je nach Quelle: Vgl. http://lemurjaune.fr/.

[5] Zu der sukzessiven Anwendung antiterroristischer Gesetze auf oppositionelle Bewegungen: Raphaël Kempf, Ennemis d‘état, La Fabrique, 2019.

[6] Vgl. Michaelis Lianos: Une politique expérientielle (III), Lundi Matin, 26. Juni 2019, online unter: https://lundi.am/.

[7] Vgl. Anna Mutelet: Marche pour Adama Traoré: avec les gilets jaunes, »l’union fait la force«, Libération, 21. Juli 2019, online unter: https://www.liberation.fr/.

[8] Vgl. Luisa Neubauer, Nike Mahlhaus: »Wir lassen uns nicht spalten«, Taz, 28.11.2019, online unter: https://taz.de/.