Proletarischer Tourismus – HUch#90

| Von Joana Splieth |

Ein Blick in die Geschichte der Arbeiter_innenbewegung reicht aus, um unsere Vorstellungen vom Reisen weit über die engen Grenzen des kommerziellen Tourismus hinaus zu erweitern.

»Egal wo Sie Ihren TUI Urlaub verbringen, das Urlaubsziel Ihrer Wahl hat viel zu bieten: Kultur, Land und Leute und die örtliche Kulinarik warten nur darauf, von Ihnen entdeckt zu werden!«[1] – Nicht nur in seinen Werbeslogans reproduziert der touristische Mythos koloniale Sichtweisen und Strukturen: Allein der Anspruch vieler Backpacker_innen, »andere Länder und sich selbst zu entdecken«, hängt mit Narrativen und Begehren zusammen, die frühere Kolonialherren mit ihren »Expeditionsreisen« verbanden. Auch ist es nichts Neues, dass viele Urlaubs-Praktiken den Verhaltensmustern der alten weißen Unterdrücker gleichen.

Die aktuelle Diskussion über Tourismus, ausgelöst durch die Debatte zur Klimakatasrophe, weist zudem auf weitere Probleme in der Sache hin: Tourismus ist umweltzerstörend. Flugzeuge und Kreuzfahrtschiffe pumpen Unmengen von CO2 in die Umwelt und riesige touristische Bauprojekte werden meist ohne Rücksicht auf Flora und Fauna umgesetzt. Auch führt boomender Tourismus zu einer Konzentration ökonomischer Aktivität, die andere lokale Wirtschaftszweige absterben lässt. Verbunden mit steigenden Lebenshaltungskosten macht dies ganze Regionen vom Tourismus-Business abhängig und verändert sie grundlegend. Und so zeigt sich selbst bei dieser kurzen Kritik: Tourismus ist ein Problem. Er ist der Urlaubsstil einer reichen, meist weißen Klasse, die sich um den Globus bewegt und diesen dabei zerstört oder in jedem Fall verändert.

Es ist neben dieser richtigen und berechtigten Kritik jedoch auch wichtig, zu erkennen, dass Tourismus nicht einfach Tourismus ist. Er ist auch Urlaub oder Freizeit und folgt nicht zwingend einer kapitalistischen Verwertungslogik. Um also zu erfassen, wie er sich in all seiner Destruktivität entwickeln konnte, kann es helfen, die Potenziale seines progressiven Erbes zu beleuchten.

Reisen, Urlaub, Wanderfahrten, Kuraufenthalte und Ausflüge sind spätestens seit dem 19. Jahrhundert ein umkämpftes Anliegen und erkämpftes Anrecht von Proletarier_innen, wie beispielsweise Susan Barton in ihrem Buch über den Tourismus und die Organisationen der Arbeiterklasse hervorhebt.[2] Es sind Forderungen nach einem Achtstundentag, nach Ruhetagen, nach Bildung, Rente und Sozialismus, die im Zuge der aufkommenden Industrialisierung verstärkt formuliert werden.

Denn schon vor Entstehung der Formen des heutigen Massentourismus, schon vor den Landfahrten der Jugend und den Autoreisen ans Mittelmeer, ist es nicht allein die Bourgeoisie, die sich in Europa und um den Globus bewegt – was nicht nur Hans Magnus Enzensberger in seiner viel zitierten Tourismuskritik zu erwähnen vergisst.[3] In diesen Analysen tritt die proletarische Klasse in der ganzen Geschichte des Tourismus erst nach dem ersten Weltkrieg auf den Plan, als sie es schafft, sich den bezahlten Urlaub zu erkämpfen. Der Blick bleibt dabei allerdings oberflächlich, denn Reisen von Staatsmännern und Händlern – oder gar Bildungsreisen á la Goethe im Italien des 18. Jahrhunderts – sind nur der eine, privilegierte Teil der Geschichte des Tourismus. Auf der anderen Seite stehen eine sich formierende Klasse, die sich ein schönes Leben greifbar machen will, sowie Agitator_innen, die Reisen nutzen, um solidarische Netze zu spannen. Es gibt eine Seite des Tourismus, die mit Gemeinschaft, mit Klassenbewusstsein, mit Offenheit und internationaler Solidarität zu tun hat. Sie wurde von Proletarier_innen, Queers, Gesellen und Genossenschaften geprägt und hat ihre Wurzeln im 19. Jahrhundert.

»Obwohl es schon immer Menschen gab, die reisten, ist die signifikante Eigenschaft des modernen Tourismus, die ihm mehr Bedeutung verleiht als bloß von zu Hause weg zu bleiben, dass er generell zur Vergnügung unternommen wird«, schreibt Barton. Häufig liest man die Erzählung, dass das Proletariat aufgrund der schlimmen ökonomischen Verhältnisse nur aus Not reist – auf der Flucht, vertrieben oder auf der Suche nach einem besseren Leben in einem anderen Teil der Welt. Hier soll nicht bestritten werden, dass dies unter Bedingungen der globalisierten Ausbeutung zumeist so ist – es gibt allerdings noch eine andere Seite des proletarischen Reisens, denn »man sollte nicht annehmen, dass arbeitende Menschen nie aus Vergnügen gereist wären«, stellt Barton klar. Historisch kann man zum Beispiel an das Wandergesellentum erinnern. Schon damals gab es gelernte, männliche Handwerker, die sich durch Europa bewegten und sich dabei auf ein Netzwerk von Meisterbetrieben und Werkstätten anderer, niedergelassener Gesellen verlassen konnten, das sie mit Kost und Unterkunft gegen Arbeit versorgte. Barton schreibt darüber, dass diese Art der Absicherung – in manchen Zünften besser als in anderen – in vielen Männern die Lust zum Reisen um des Reisens willen entfachte. Es ermöglichte ihnen ein Herumkommen außerhalb der Familie, deren Institution sie somit entfliehen oder deren Zwänge sie zumindest auf später im Leben verschieben konnten. Dabei entstanden Netzwerke von Arbeiter_innen, die sich Informationen über Arbeitsbedingungen, Bezahlung und mögliche Notbehelfe für konfliktreiche Zeiten zukommen ließen. Barton hebt weiter hervor, dass diese Struktur bei der Transformation der Handwerkszünfte in Gewerkschaften durchaus hilfreich war und auch Patrick Eiden-Offe betont die Wichtigkeit dieser Bewegung und ihrer literarischen Werke, die für ihn einen romantischen Antikapitalismus verkörpern und Wegbereiter des Konzepts einer vereinten Arbeiterklasse waren.[4]

Zwei andere Bereiche der westlichen Gesellschaften des 18. und 19. Jahrhunderts, in denen das Reisen zunächst zweckgebunden unternommen, dabei aber auch für neue Bedeutungen frei wurde, und in denen sich Proletarier_innen bewegten, waren der Zirkus und die Schifffahrt. Bei allen drei Phänomenen kann man beobachten, dass Reisen oft an eine (Berufs-)Gemeinschaft gebunden war, die ein solidarisches Miteinander und eine außerfamiliäre oder außerstaatliche Absicherung versprach. Je nachdem waren diese einzelnen Netzwerke mehr oder weniger solidarisch oder auch inklusiv gegenüber weiblich gelesenen und Schwarzen Personen. Thomas C. Buchanan z.B. hebt in seinem Buch über Schwarze Arbeiter_innen auf Mississippi-Dampfern im 18. und 19. Jahrhundert hervor, dass das mit dieser Arbeit verbundene Reisen einen Anteil daran hatte, Communities zu etablieren, Geld und Wissen in diesen Communities zu verteilen, in Städten wie New Orleans oder St. Louis politisch gegen die Sklaverei zu arbeiten oder sich dort schlicht zur Vergnügung aufzuhalten. Dieses spezielle Netzwerk half, Widerstände auf Plantagen zu unterstützen und versklavten Personen im Konflikt zwischen Nord- und Südstaaten der Sklaverei zu entkommen.[5]

In Europa hatten sich bis 1840 weite Teile der etwas besser gestellten Proletarier_innen daran gewöhnt, Exkursionen mit dem Dampfschiff oder der Eisenbahn zu unternehmen – auch wenn es sich nur um kurze Trips handelte. So begannen sich in Großbritannien in der Mitte des 19. Jahrhunderts immer mehr Proletarier_innen für Wochenendausflüge zu organisieren, wobei die ersten Vereine zur gemeinsamen Unternehmung von Reisen und Kongressen entstanden.

Ein Beispiel ist die 1851 in London stattfindende Weltausstellung: A Great Exibition of the Works of Industry of all Nations. Proletarische Verbände hofften darauf, nicht nur die handwerklichen und intellektuellen Fähigkeiten der arbeitenden Bevölkerung präsentieren zu können, sondern auch deren Respektabilität und Verantwortungsbewusstsein. Was diesen Kongress ausmacht, ist die aufwendige und professionelle Organisation der Exkursionen. Vereine wie The Peoples Exhibition Club of Bolton arrangierten Schlafplätze für Genoss_innen bei Genoss_innen, Hin- und Rückfahrt mit dem Zug sowie Verpflegung. Aber auch Reiseorganisatoren wie Thomas Cook entdeckten, dass sich bei einem angemessenen Pauschalpreis und einer Masse an Arbeiter_innen durchaus Profit herausschlagen ließ. Und so begannen bei der Gelegenheit dieses Kongresses nicht nur genossenschaftliche Organisationen damit, ihren Mitgliedern zu kurzen Urlauben zu verhelfen. Auch der moderne Tourismus, wie wir ihn heute kennen, stützte sich bei seiner Etablierung auf die vernetzte Arbeiter_innenbewegung.

Denn der Massen-Tourismus war von Beginn an mit der proletarischen Klasse verflochten. Dass das Bewusstsein über diese Verflechtung nicht vergessen werden darf, rufen Organisationen der proletarischen Bewegung wie die Naturfreunde sich bereits Anfang des letzten Jahrhunderts in Erinnerung: »Niemals, auch auf unseren Wanderungen nicht, dürfen wir vergessen, daß um uns eine Welt des Alltags ist mit rauen, bitteren Kämpfen, das in der Gesellschaft der Menschen ein Kampf aller gegen alle herrscht, daß sich Klassen in schärfstem Gegensatze gegenüberstehen.«[6] Die Falken und die Naturfreunde sind heute in Deutschland zwei der letzten Gruppen, die aus einer proletarischen touristischen Infrastruktur hervorgegangen sind.

Der moderne Massentourismus kann zwar ab und zu auch die Bedürfnisse nach Ruhe und Auszeit befriedigen – jedoch nicht die nach Vernetzung, Gemeinschaft, Internationalismus und grundlegender Erholung. Es soll nicht bestritten werden, dass es diese Art vernetzend-solidarischen Reisens auch punktuell im Rahmen von Backpacking-Trips, Trampingurlauben, Airbnb-Reisen oder All-Inclusive-Urlauben gibt – allerdings wird sie fortwährend verdrängt und durch kapitalistische, koloniale und umweltzerstörende Verhaltensweisen und Strukturen ersetzt. Ein proletarischer Tourismus kann andere Formen der Solidarität außerhalb der Institution Familie ermöglichen; er wird von den Menschen für die Menschen organisiert und nicht für den Profit; er versucht – wie bei den Naturfreunden – sanft mit der Umwelt umzugehen; er birgt Möglichkeiten des Widerstands in sich, verbindet reisen mit Klassenkampf und zielt auf eine Welt, in der ein Urlaub vom Alltag nicht mehr notwendig ist.


[1]Werbeanzeige auf der Internetseite von TUI, online unter: https://www.tui.com/.

[2]Susan Barton: Working-class organisations and popular tourism 1840-1970, 2005.

[3]Hans Magnus Enzensberger: Vergebliche Brandung der Ferne. Eine Theorie des Tourismus, in: Merkur Nr. 126, 1958.

[4]Patrick Eiden-Offe: Die Poesie der Klasse – Romantischer Antikapitalismus und die Erfindung des Proletariats, 2017.

[5]Thomas C. Buchanan: Black life on the Mississippi – Slaves, Free Blacks and the Western Steamboat World, 2004.

[6]Albert Maurüber: Die Touristik und der Klassenkampf, in: Der Naturfreund Nr. 32, 1928.