| von Kesire Xelef |
Das theoretische Hauptwerk von Abdullah Öcalan gewährt Einblick in die zugrundeliegende (Geschichts-)philosophie des in Rojava praktizierten Demokratischen Konföderalismus.
Mit dem Einmarsch der türkischen Armee und ihrem Fußvolk jihadistischer Milizionäre in Rojava wurde die sogenannte »Kurdenfrage« in all ihrer Brutalität wieder auf die politische Welttagesordnung gesetzt. Die internationale Solidarität mit den Kurdinnen erwächst allerdings nicht nur aufgrund ihrer rassistischen Unterdrückung. Denn der von Abdullah Öcalan entworfene und unter den widrigen Bedingungen des Bürgerkriegs in Nordsyrien realisierte Demokratische Konföderalismus beansprucht keineswegs nur die falsch gestellte »Kurdenfrage« zu lösen, sondern zugleich die der allgemeinen Emanzipation der Menschheit. Dabei ist der Demokratische Konföderalismus, der die instrumentelle Logik von Mittel und Zweck zurückweist, gleichzeitig Form und Inhalt der Emanzipation. Nah- und Fernziel der Befreiung greifen in vier Paradigmen unauflöslich ineinander: Basisdemokratie, Kommunismus, Feminismus und Ökologie.
Mit diesem ambitionierten und umfassenden Entwurf einer befreiten Gesellschaft gilt es sich eingehend auseinanderzusetzen. Einerseits, weil er in Rojava bereits den Schritt von der Idee zur Wirklichkeit gegangen ist, wenngleich eben diese gerade in den Territorialkämpfen der Großmächte ausgelöscht zu werden droht. Andererseits, weil es der gedanken- und fantasielosen westlichen Linken an Entwürfen mangelt, die das abstrakte »eine andere Welt ist möglich« konkretisieren, ohne sich in einer kleinteiligen Realpolitik zu erschöpfen, für die sich außer Bürokraten niemand erwärmen mag.
Allerdings steht hinter dem politischen Entwurf des Demokratischen Konföderalismus ein viel umfassenderer philosophischer Ansatz. Denn Öcalan hat seit seiner Inhaftierung im Jahr 1999 ein beachtliches philosophisch-politisches Werk geschaffen. Dessen theoretisch ambitioniertester Teil – man könnte auch sagen Öcalans opus magnum – trägt den Titel Manifest der demokratischen Zivilisation. Der Titel führt in die Irre, denn hier liegt kein Manifest vor, sondern ein fünfbändiges Werk der Philosophie, welches inspiriert vom Historischen Materialismus und Walter Benjamins Geschichtsphilosophie die Geschichte der menschlichen Zivilisation von ihren mesopotamischen Anfängen bis heute gegen den Strich bürstet, um der Entstehung der staatlich-kapitalistischen Herrschaft an die Wurzel zu gehen und jene Momente freizulegen, die ihr bis heute zu widerstehen vermochten.
Von diesem Werk ist inzwischen bereits der zweite Band Die Kapitalistische Zivilisation – Unmaskierte Götter und nackte Könige auf Deutsch erschienen – und zwar bei Unrast anstatt im Mezopotamien-Verlag, der nämlich im Februar 2019 auf Geheiß des selbsternannten Heimatministers Horst Seehofer aufgrund vermeintlicher Verbindungen zur PKK und d.h. zur Freude des autoritären Regimes in der Türkei verboten wurde. Die deutsche Schützenhilfe für die rassistische Lösung der »Kurdenfrage« beschränkt sich also nicht allein auf millionenschwere Waffenlieferungen und öffentlichkeitswirksames Stillhalten auf der weltpolitischen Bühne, sondern ergeht sich darüberhinaus in der absurden Zensur eines gesamten Verlagsprogramms, die unterschiedlos Kinder-, Sach- und Wörterbücher, Romane, Musik und politisch-philosophische Schriften unter Terrorverdacht stellt – darunter auch das Werk von Öcalan. Dessen Kerngedanke – aus dem wie bei jeder ernstzunehmenden Philosophie ein Weltbegriff erwächst – ist zu größter Kürze konzentrierbar: »Kapitalismus ist nicht Wirtschaft, sondern Herrschaft.« (S. 150)
Diese Formel enthält bereits das dialektische Verhältnis kritischer Treue zum Historischen Materialismus von Marx und Engels. Laut Öcalan barg der Marxismus den fatalen Mangel, das Kapital allein als ökonomisches Ausbeutungsverhältnis zu fassen und gegenüber den Kategorien von Macht, Herrschaft und Staat einen blinden Fleck zu lassen. So konnte der Staat als Mittel, das die Ausbeutung abschaffen könnte, missverstanden werden. Das Scheitern des Staatssozialismus an sich selbst war in der Folge unausweichlich. Aus der Erfahrung des Scheiterns der kommunistischen wie der nationalen Befreiungsbewegungen des 20. Jahrhunderts heraus will Öcalan ihren blinden Fleck erhellen, um eine Wiederholung dieses Scheiterns in künftigen Befreiungsversuchen zu vermeiden. Das impliziert für ihn die Auflösung der Fixierung auf die politische Ökonomie zugunsten eines Ansatzes, der die Gesamtheit der Macht- und Herrschaftsformen der kapitalistischen Moderne in den Blick bekommt.
Inspiriert vor allem von Adornos und Horkheimers Ansatz aus der Dialektik der Aufklärung verfolgt Öcalan die Urformen der kapitalistischen Moderne bis zu den Ursprüngen der menschlichen Zivilisation. Die elementare Kategorie der Kritik, aus der er die je spezifischen, historischen Herrschaftsformen ableitet, bildet dabei nicht mehr die Ware, sondern der »starke Mann«. Der »starke Mann« ist das an dem Übergang vom Matriarchat zum Patriarchat lokalisierte Prinzip der Naturbeherrschung, das jene Dialektik der Aufklärung lostrat, die in der aufgeklärten Barbarei der Moderne ihren Kulminationspunkt gefunden hat. Aus dieser Kategorie entfaltet Öcalan historisch wie logisch die maßgeblichen Formen gewaltsamer Herrschaft und Ausbeutung. In Form einer ersten ursprünglichen Akkumulation unterwirft sich der »starke Mann« die Frau, reduziert sie auf Sexual- und Reproduktionsfunktionen und eignet sich die vorher um sie gruppierte gesellschaftliche Akkumulation an. Die Natur geriet analog zur Frau zu einem ausschließlich auszubeutenden und mit Vernunft und Technik, nicht Magie, zu beherrschenden Gegenstand. Generell ist die Kategorie des »starken Mannes« nicht so sehr an das biologische Geschlecht gebunden, als vielmehr auf diese Art ausbeuterischen Weltbezugs und herrschaftlicher Lebensweise bezogen, der letztlich jeder Mensch anheim fallen kann. Mit Marx ließe sich sagen, dass es sich beim »starken Mann« also nicht um einen Wesenszug, sondern um eine »Charaktermaske« handelt.
Mit der Aufrichtung göttlicher Vaterfiguren, die als Schöpfer und Beherrscher der Welt inthronisiert wurden, gelangte die Spaltung der Gesellschaft in Herrscher und Beherrschte zu ihrer religiösen Sanktionierung. Gleichzeitig institutionalisiert sich erstmals im sumerischen Priesterstaat um den Tempel herum nicht nur die ideelle, sondern auch die materielle Herrschaft und Abschöpfung des Mehrproduktes. »Wenn wir den Tempel als ersten Prototypen, als Gebärmutter der Stadt, des Staates und der Klassen bezeichnen, haben wir damit die Systematik der gesamten Zivilisation in eine Formel gegossen.« (S. 144) Für Öcalan stellt die in Europa entsprungene kapitalistische Moderne nur eine Radikalisierung dieser Herrschaftselemente dar, die sich bereits in den ersten mesopotamischen Staaten konzentrierten. Das Zusammenspiel von brutaler Kolonisierung und Plünderung, Ausdehnung des Handels zum Welthandel, Entstehung der modernen Nationalstaaten, Industrialisierung und Weiterentwicklung der analytischen Intelligenz zu Positivismus und Rationalismus lässt schließlich aus der staatlichen Zivilisation die heute global herrschende kapitalistische Moderne entspringen.
Den Kapitalismus konzipiert Öcalan nicht als Wirtschaftsform, sondern als deren Gegenteil: die Ausplünderung der Gesellschaft insbesondere durch staatliche Macht- und Gewaltmittel. Die Befreiung vom Kapitalismus kann sich Öcalan zufolge daher nicht vollziehen, ohne alle seine Herrschaftsformen, insbesondere aber den Staat zu überwinden. Als Negation der vom »starken Mann« ausgehenden Herrschaft umfasst sie vier Paradigmen: nicht-staatliche Basisdemokratie, Befreiung der Frau, Aufhebung der Klassenspaltung (Kommunismus) und Abkehr von der Naturbeherrschung. Dieser Befreiung springt allerdings keine objektive Entwicklung der Produktivkräfte mehr helfend zur Seite, auf deren sprengende Wirkung man vertrauen könnte, wie es beispielsweise die Freunde des Akzeleraitionismus tun. Die Revolutionärinnen sind letztlich ganz auf ihren Zusammenschluss und ihre kritische Einbildungskraft angewiesen. Denn selbst die bisherige Konzeption der Revolution als »Ergreifung der Macht« oder »Erlangung der Hegemonie« sowie die ihnen entsprechenden Mittel erwiesen sich als unbrauchbar, weil sie dem Paradigma des »starken Mannes« in der Wahl ihrer Waffen verhaftet blieben und so dessen Herrschaft nur in anderer Form erneuerten.
Auch gegen überstürztes und blindes Handeln, das als Alarmismus gerade in der ökologischen Linken grassiert, wendet sich Öcalan. Selbst wenn »das System an sein Ende gelangt« ist und nur noch Katastrophen in Form der ökologischen Krise, dauerhaftem Bürgerkrieg und daraus resultierenden massenhaften Fluchtbewegungen produziert, müssen »wir beim Aufbau der Gesellschaftlichkeit besonders sorgfältig vorgehen«. (S. 35) Die Gefahr, durch Ausfälle von Analyse, Reflexion und Einbildungskraft das Alte einfach zu reproduzieren, ist zu groß – denn der bloße Untergang des Kapitals bedeutet keinesfalls automatisch die befreite Gesellschaft.
Was dem Staat und dem Kapital widersteht und einen Ausweg aus ihrer Ordnung von Herrschaft und Plünderung zu weisen vermag, nennt Öcalan die »demokratische Zivilisation«. Für ihn stehen »die Gesellschaft«, »die Demokratie« (und übrigens auch »die Wirtschaft«) »als ein völlig anderes System« der staatlichen Zivilisation gegenüber – ja der Kampf zwischen Staat und Demokratie bildet den »Hauptwiderspruch, der im Innern aller Gesellschaften existiert.« Dabei bleibt die Demokratie in diesem Band – verständlicherweise, denn sie ist nicht sein Gegenstand – stark unterbestimmt. Letztlich ist es die Selbstverwaltung der »kommunalen Ordnung«, die die Demokratie vor allen Formalismen wie etwa Wahlen auszeichnet: »Die Demokratie […] schlägt vor oder gewährleistet, dass diese gemeinsamen Angelegenheiten von der Gesellschaft selbst erledigt werden. Das ist der grundlegende Unterschied zwischen staatlicher Zivilisation und demokratischer Zivilisation.« (S. 358)
Was mit Öcalans Manifest der demokratischen Zivilisation vorliegt, ist nichts weniger als ein systematischer philosophisch-politischer Entwurf der Befreiung. Dies macht seinen schlagenden Vorteil gegenüber fast allen aktuellen linken Ansätzen aus. Denn diese bestehen, ob in Praxis oder Theorie, zumeist in entweder nur disparat oder gleich gar nicht zusammenhängenden Versatzstücken. Isoliert voneinander oder dürftig in Bündnissen zusammen geschlossen, wurschtelt jedes Grüppchen in seinem Themenfeld vor sich hin und glänzt meist durch Ideen- und Phantasielosigkeit. Diesem Elend der Linken auf allen Ebenen begegnet Öcalan mit einem Ansatz, der in kategorialer Weise all diese verstreuten Elemente des Kampfes – von der Ökologie über den Feminismus und Antifaschismus sowie die Selbstverwaltung bis hin zu Fragen der Geschichtsschreibung, Staatskritik, Kulturindustrie und letztlich sogar der Metaphysik – zusammen bindet, die vergangenen Befreiungsversuche einer Kritik unterzieht und so einen neuen Blick auf die zu bewältigende Aufgabe der Befreiung ermöglicht. Was Öcalan damit gleichzeitig gesetzt hat, ist der Imperativ, dass sich jeder Befreiungsversuch auf das Niveau eines solch umfassenden Ansatzes erheben muss, wenn er nicht zum Scheitern verurteilt sein will.
Das bedeutet auch, dass sich sämtliche Kritiken, die an seinem Ansatz zu formulieren sind – und derer gibt es nicht wenige – ebenfalls auf dieses Niveau erheben müssen. So zieht sich, um nur die größte und gefährlichste Unzulänglichkeit zu nennen, ein struktureller, wenn auch nicht expliziter Antisemitismus durch das gesamte Werk. Zwar tritt Öcalan etwas gönnerhaft »entschieden für einen Platz der Juden im Mittleren Osten« ein. (S. 258) Allerdings erklärt er gleichzeitig rundheraus, die Jüdinnen seien quasi selbst am Holocaust schuld, da sie den Nationalismus in und über die Welt gebracht hätten – quasi eine linke Spiegelverkehrung des antisemitischen Wahns von der jüdisch-kosmopolitischen Weltverschwörung gegen die einzelnen Nationalstaaten: »Der jüdische Nationalismus ist nicht der Nationalismus einer kleinen Nation, er ist der Weltnationalismus, der Urahn aller Nationalismen und Nationalstaaten. Tragischerweise wurden die Juden sein größtes Opfer, das in der Weltgeschichte unvergleichbar ist.« (S. 256) Dergleichen strukturell antisemitische Motive sollten jedoch nicht zum Anlass genommen werden, das gesamte Werk zu disqualifizieren. Vielmehr muss mit ihnen auf dieselbe Weise verfahren werden, in der Öcalan selbst mit den linken Altlasten des Etatismus, Ökonomismus und Machismus umgeht – nämlich indem man die Fehler des emanzipatorischen Projekts beseitigt, dessen universelle Ambition jedoch aufnimmt und fortschreibt. Öcalans eigene Fortschreibung seines Projekts, der dritte Band des Manifests der Demokratischen Zivilisation, ist unter dem Titel Soziologie der Freiheit für März 2020 angekündigt.
Abdullah Öcalan: Manifest der demokratischen Zivilisation – Bd. II: Die Kapitalistische Zivilisation – Unmaskierte Götter und nackte Könige, Unrast Verlag, 384 Seiten, 18 Euro.