| von Elio Nora Hillermann |
Materialistischer Feminismus und Queerfeminismus werden häufig gegeneinander ausgespielt. Dabei wäre es für beide Theorietraditionen von Vorteil, stattdessen gemeinsame Stoßrichtungen auszumachen.
Ein hartnäckiges Hirngespinst durchzieht die feministischen Diskurse der Gegenwart: Queere Theorie, queere Handlungsweisen und queerer Feminismus erscheinen immer wieder im grellen Gegensatz zu den Perspektiven eines materialistischen Feminismus, der sich auf ökonomische und strukturelle Fragen konzentriert. Historisch gewachsene Konflikte zwischen zwei divergent erscheinenden Positionen werden verschärft, statt hinterfragt, und beide werden so sehr auf bestimmte Aspekte reduziert, dass die eine Position die andere auszuschließen scheint, wo dies gar nicht der Fall sein müsste. Zwei Fronten werden aufgezogen, wo Allianzen geschmiedet werden könnten, Verachtung und Zurückweisung werden geschürt, wo Menschen Seite an Seite gegen das Patriarchat kämpfen könnten. Auf theoretischer wie praktischer Ebene bedeutet das ein Kreisen um die immergleichen Differenzen und einen Rückzug in die eigenen Kreise – kurz, einen lähmenden Stillstand, der blockiert, anstatt voranzubringen.
Gräben zuschaufeln
Dieser Text soll ein Versuch sein, an den Rand der scheinbar unüberwindbaren Gräben zu treten, einen Spaten in die Hand zu nehmen, und damit zu beginnen, sie zuzuschaufeln. Ich möchte dies tun, indem ich anhand zweier Aspekte – Prekarität und Care-Arbeit – zeige, dass Themen, die zumindest in der Theoriebildung bisher vornehmlich vom materialistischen Feminismus in den Blick genommen wurden, eigentlichebenso zentrale Anliegen queerer Perspektiven sind. Dabei soll deutlich werden, dass es einerseits keinen Sinn ergibt, dem Queerfeminismus die Fähigkeit abzusprechen, ökonomische Fragestellungen mitdenken zu können, und dass es andererseits feministischen Debatten und Kämpfen wenig dienlich ist, den materialistischen Feminismus zu verwerfen, nur weil er auch problematische – beispielsweise essenzialisierende [1] – Positionen beinhalten kann. Diese abstrakten Überlegungen möchte ich an queeren Lebensrealitäten konkretisieren, indem ich Leslie Feinbergs Stone Butch Blues, den vermutlich bekanntesten queeren Roman, zurate ziehe. Dass Feinberg sich selbst als Kommunist_in bezeichnet, den Roman nach einem langen Kampf um Urheber_innenrechte vom kapitalistischen Markt genommen und ihn „den Arbeiter_innen und Unterdrückten dieser Welt zurückgegeben“ hat, indem er online frei zugänglich gemacht wurde, unterstreicht das Anliegen dieses Beitrags, klassenkämpferische und queere Perspektiven zusammen zu denken. [2]
Prekarität
Fragen materieller Ungleichheit und ökonomisch bedingter Marginalisierung werden klassischerweise eher von materialistischen und klassenpolitischen Ansätzen verhandelt. Dabei wird der Kapitalismus als wirtschaftliches System, das auf der Ausbeutung von Arbeitskraft beruht, auch hinsichtlich der Kategorie Geschlecht hinterfragt. Es wird untersucht, inwiefern sich das Geschlecht von Menschen auf ihre Positionierung in der Produktions- oder Reproduktionssphäre auswirkt, welchen Einfluss unterschiedliche Klassenzugehörigkeiten auf Menschen desselben Geschlechts haben usw. Diese Untersuchungen machen zum Beispiel sichtbar, dass Frauen und weiblich gelesene Personen im Kapitalismus mit einer größeren finanziellen Prekarität konfrontiert sind, oder dass Frauen bzw. weiblich gelesene Menschen mit Migrationshintergrund häufig einer Doppelbelastung ausgesetzt sind, weil sie Care-Arbeit als Lohn- und als Hausarbeit leisten.
Prekarität und ihre Gründe werden bei diesen Ansätzen häufig entlang von Kategorien wie »Mann« und »Frau« erklärt, da sich mit diesen Zuordnungen die dominierende Struktur der Gesellschaft hinsichtlich Geschlecht erfassen lässt. Die Gefahr dabei ist jedoch, nur noch von »Frauen« und »Männern« zu sprechen, also auszuklammern, dass diese vorherrschenden Geschlechtskategorien nicht die einzigen sind. Natürlich gilt es, diese Kategorien in ihrer Funktionsweise weiterhin zu kritisieren (und damit eben auch zu verwenden), wenn sie aber ausschließlich genutzt werden, werden die Lebensrealitäten von denjenigen Menschen ausgeklammert, die diesen Kategorien nicht entsprechen. Umgekehrt bedeutet die Adressierung von nicht den Normen entsprechenden Geschlechtsidentitäten und queeren Perspektiven keinesfalls, nicht mehr über systemische oder ökonomische Fragen zu sprechen – im Gegenteil: Gerade queere Menschen bekommen die Gewalt des Systems oft besonders hart zu spüren und sind überproportional von Prekarität und kapitalistischer Ausbeutung betroffen.
Ein Grund für diese Prekarität ist, dass sich queere Menschen häufig nicht auf ihre biologische Familie als ökonomische Absicherung verlassen können. Viele queere Personen haben ein schwieriges Verhältnis zu Eltern und Familie, häufig weil sie deren Erwartungen nicht erfüllen und daher nicht verstanden, nicht anerkannt, nicht geliebt oder nicht unterstützt werden. Manche werden nach ihrem Coming-out verstoßen, viele entscheiden von sich aus, zu gehen. Nicht wenige erleben physische und psychische Gewalt, die sie ein Leben lang prägt. Diese homophoben und transfeindlichen Muster der Zurückweisung sind strukturelle Mechanismen des Kapitalismus, der historisch auf einer naturalisierten und zwanghaften Heterosexualität und cisgeschlechtlichen Binarität beruht. Dabei ist natürlich nicht das Problem, dass Menschen cis und hetero sind, sondern dass alle Menschen, die es nicht sind, abgewertet und ausgeschlossen werden, weil sie die herrschende Ordnung in Frage stellen. Jedenfalls entziehen diese systemischen Mechanismen der Zurückweisung jungen queeren Menschen oft sowohl die ökonomische, als auch die psychische Grundlage, um in kapitalistischen Gesellschaften zurecht zu kommen.
Strukturelle Hindernisse wie die in vielen Ländern notwendige elterliche Unterstützung bei der Studienfinanzierung sind beispielhaft für diese aus der Normabweichung entstehende Prekarität, da solche Regelungen Menschen von besseren Abschlüssen und damit höheren Einkommen ausschließen. Der Familienausschluss aufgrund von Normabweichung, gepaart mit der Abhängigkeit von familiärer Unterstützung führt also zu einer strukturellen Prekarisierung queerer Personen. Und gerade weil diese Prekarisierung häufig an Ausschlusserfahrungen geknüpft ist, impliziert sie Subjektivierungsformen, die geprägt sind von einer Ablehnung des Systems und der Mehrheitsgesellschaft, die queeren Subjekten wiederholt einredet, dass sie nicht dazugehören.
Am Beispiel von Jess, Protagonist_in von Stone Butch Blues, lässt sich dieser Aspekt sehr deutlich aufzeigen. Jess wächst in den 50er Jahren in Buffalo auf und kämpft durch Kindheit und Jugend hindurch mit der Weiblichkeit, die Jess immer wieder zu- und vorgeschrieben wird, sowie mit der gewaltsamen Ausgrenzung und Abwertung, die mit der eigenen Abweichung von den herrschenden Geschlechternormen einhergeht. Eines Tages wird Jess von den Eltern dabei erwischt, wie Jess den Anzug des Vaters anprobiert. Die Eltern stecken Jess daraufhin in eine geschlossene Anstalt und lassen Jess ohne Unterlass spüren, dass sie das eigene Kind weder lieben noch akzeptieren. Das bewegt Jess zu dem Entschluss, von zu Hause abzuhauen. Zu einer Umsetzung kommt dieser Plan erst einige Jahre und eine ganze Reihe traumatischer Erfahrungen später, als Jess einen Job in einer Druckerei hat. Mit der Flucht von Zuhause bricht Jess den Kontakt zu den Eltern vollständig ab und kämpft sich von da an ohne deren Unterstützung durchs Leben. Mit 15 Jahren vollständig von der Lohnarbeit abhängig, wird die Arbeit in der Fabrik zu einem bestimmenden und immer auch belastenden Faktor, der sich durch das ganze Leben von Jess zieht. Gleichzeitig ist die Erfahrung der Fabrikarbeit für Jess Motor für eine – zwar langsame und nicht immer bewusste, aber konstante – Politisierung, denn die Ungerechtigkeiten am Arbeitsplatz und die Möglichkeit, sich mit Menschen gewerkschaftlich zu organisieren, führen Jess immer wieder dazu, sich an Arbeitskämpfen zu beteiligen. Sowohl der Mechanismus der Zurückweisung aufgrund von Normabweichung durch die Eltern, der eine ökonomische und soziale Prekarisierung nach sich zieht, als auch die Widerständigkeit, die damit einhergeht, finden sich also in Jess‘ Lebenslauf wieder.
Ein weiterer Aspekt, der die Prekarisierung queerer Menschen verdeutlicht, ist die Frage medizinischer Versorgung. Beständiger Teil queerer Lebensläufe sind Kosten für Operationen und Hormone, sowie das Bedürfnis nach psychologischer Unterstützung im Umgang mit Fragen wie Dysphorie, Alltagsdiskriminierung oder Gewalterfahrungen. Da der Zugang zu diesen medizinischen Leistungen entweder an ausreichende finanzielle Ressourcen oder gut funktionierende und inklusive Gesundheitssysteme gebunden ist, beides im Kapitalismus gerade für marginalisierte Gruppen aber kaum gegeben ist, bedeutet dies für queere Subjekte häufig einen enormen finanziellen Druck, der insbesondere psychologische Belastungen erhöht. Viele Personen finden sich so in einem Teufelskreis, in dem sie kaum wirklich arbeiten können, weil es ihnen psychologisch schlecht geht, aber arbeiten müssen, um beispielsweise eine Therapie finanzieren zu können.
In Bezug auf Transitionen ergeben sich ähnlich prekäre Bedingungen. Alle Personen, die nicht krankenversichert sind, oder deren Transidentität im pathologisierenden Prozess der Antragstellung für Geschlechtsumwandlungen [3] nicht anerkannt wird, sind darauf zurückgeworfen, das Geld für die kostspieligen Operationen und Hormone selbst zu beschaffen. Nicht wenige trans Personen entscheiden sich vor diesem Hintergrund und dem gleichzeitigen Leidensdruck dann häufig für Sexarbeit, da dies ein Arbeitsbereich ist, in dem ohne große bürokratische Hürden verhältnismäßig viel Geld in kurzer Zeit verdient werden kann – mit der entsprechenden psychischen Belastung. Die Notwendigkeit medizinischer Versorgung und ihr beschränkter Zugang führen also zu einem zusätzlichen Abdrängen queerer Menschen in prekäre Lebens- und Arbeitsverhältnisse, denen sie kaum entkommen können, wollen sie nicht ihre eigene Identität leugnen und unter den kaum erträglichen psychologischen Folgen einer solchen Negation leiden.
In Jess‘ Fall zeigt sich dieser Punkt sehr deutlich an der Entscheidung für eine Transition und ihren Umständen. In den USA der 50er Jahre als Butch [4] zu leben, bedeutet eine ständige Alltagsdiskriminierung sowie die regelmäßige Erfahrung von Polizeigewalt, da es nicht erlaubt ist, als Frau bzw. weiblich gelesene Person weniger als drei Teile »Frauenkleidung« zu tragen und die Polizei bei jeder Gelegenheit von der eigenen Macht Gebrauch macht und Butches beispielsweise bei Razzien in queeren Bars festnimmt, vergewaltigt und brutal zusammenschlägt. Vor dem Hintergrund dieser ständig drohenden Gefahr im öffentlichen Raum entscheidet sich Jess irgendwann, Testosteron zu nehmen und eine Brustentfernung durchführen zu lassen – obwohl beides zu dem Zeitpunkt medizinisch kaum erforscht, bekannt oder regulär zugänglich, also risikoreich und prekär ist. Um das Geld für die Behandlungen zusammenzukratzen, nimmt Jess mehrere Jobs gleichzeitig an und verzichtet über Monate auf jegliches Leben außerhalb der Lohnarbeit. Der operative Eingriff selbst geschieht unter dubiosen Bedingungen, in einem Krankenhaus, in dem Jess nicht erwünscht ist, nicht über die Operation informiert wird, direkt nach der OP mit einer Handvoll Schmerztabletten wieder nach Hause geschickt wird und ohne Folgebehandlung bleibt. Jess‘ Geschichte macht also kenntlich, welche enormen Belastungen für queere Personen durch medizinische Fragen entstehen und wie sehr sie den Alltag prekarisieren können.
Die vielleicht am eindeutigsten ökonomische Dimension queerer Prekarität ist der Arbeitsmarkt. Auch hier ist die strukturelle Diskriminierung queerer Identitäten der Hintergrund für die erhöhte Wahrscheinlichkeit ihrer Prekarisierung. Den herrschenden Geschlechternormen nicht zu entsprechen oder eine als inkohärent gelesene Genderperformance zu verkörpern, bedeutet auf der Jobsuche sowie am Arbeitsplatz regelmäßig diskriminiert, nicht respektiert, nicht ernst genommen, nicht anerkannt oder ausgeschlossen zu werden. All dies erschwert einerseits, überhaupt an anständig bezahlte Jobs zu kommen, und andererseits, am Arbeitsplatz Aussichten auf Beförderung zu haben. Die herrschenden Geschlechternormen führen also dazu, dass queere Personen nicht nur oft prekär sind, sondern auch mit großer Wahrscheinlichkeit prekär bleiben. Gerade für trans Personen bedeutet die häufig bestehende Diskrepanz zwischen zugewiesenem Geschlecht und der eigenen Genderperformance bei jeder Bewerbung, bei jedem Vorstellungsgespräch und an jedem Arbeitsplatz ein hohes Risiko, abgewiesen zu werden.
In Stone Butch Blues zeigt sich diese Problematik an einer Situation nach Jess‘ Transition. Jess arbeitet – als Mann angeheuert – in einer Plastikgießerei. Nach einigen Vorfällen in der Fabrik entscheidet sich die Belegschaft für einen Streik. Es wird sich um gewerkschaftliche Unterstützung bemüht und dabei taucht ein alter Bekannter auf, der Gewerkschafter Duffy, mit dem Jess Jahre zuvor erfolgreich einen Streik geführt hatte. Da er Jess als Frau kennengelernt hatte, rutscht Duffy in einem Moment ein »sie« heraus, als er in Anwesenheit der ganzen Belegschaft über Jess spricht. Dadurch fliegt Jess‘ zum eigenen Schutz angelegte männliche Geschlechtsperformance auf und Jess verliert im Anschluss direkt den Job in der Gießerei. Die Wahrheit über die Transgeschlechtlichkeit führt hier direkt zur Arbeitslosigkeit und zeigt, wie unsicher der eigene Platz in der Arbeitswelt für queere Menschen ist.
All diese Punkte zeigen, dass ganz grundsätzliche, materielle Aspekte queerer Lebensrealitäten von einer hohen Wahrscheinlichkeit der Prekarisierung geprägt sind, die queere Personen unabhängig von ihrer ursprünglichen Klassenzugehörigkeit proletarisiert. Entsprechend wichtig ist es, ökonomische Fragen in queere Theorie zu integrieren, und nicht in einen Individualismus zurückzufallen, der genau die Anonymisierungen des Kapitalismus reproduziert, die ein jeder Feminismus als revolutionäre Bewegung abzulehnen hat. Dass queerer Feminismus diese materiellen und systemischen Fragen so häufig außer Acht lässt, hängt sicherlich auch mit seiner Akademisierung zusammen. Wenn nämlich diejenigen, die queere Theoriebildung und damit einen queeren Feminismus prägen, bürgerliche, weiße Personen sind, dann führt dies zu einer ganz anderen Schwerpunktsetzung, als wenn beispielsweise BIPoC-Personen [5] aus der Unterschicht in diesen Debatten federführend sind. Solche Dynamiken gilt es aufzubrechen und andere Perspektiven in die Theoriebildung miteinzubeziehen.
Care-Arbeit
Fragen und Analysen, die sich rund um Caredrehen, umschreiben ein zweites Feld, das vornehmlich vom materialistischen Feminismus bespielt wird. Als zentrales Konzept innerhalb dessen, was in der Regel als Reproduktionssphäre bezeichnet wird, ist die Theoretisierung von Care-Arbeit eng mit feministischen Ansätzen verbunden, die Fragen der geschlechtlichen Arbeitsteilung in den Blick nehmen. Dabei wird Care-Arbeit entweder als schlecht bezahlte Lohnarbeit oder als unentlohnte Reproduktionsarbeit verstanden, unter die klassische Haushaltstätigkeiten ebenso fallen wie emotionale Arbeit. Entsprechend der Verankerung in Analysen der Arbeitsteilung wird Care-Arbeit häufig an Weiblichkeit oder Frauenrollen gekoppelt. Damit wird einerseits benannt, was in unseren Gesellschaften der Fall ist: Es leisten überproportional häufig Frauen und weiblich sozialisierte Personen Care-Arbeit. Andererseits wird mit solchen Ansätzen eine Verquickung von Care-Arbeit und Weiblichkeit reproduziert, die es aufzubrechen gilt, wenn diese Formen der Unterdrückung zerstört werden sollen.
Ein Blick auf queere Lebensrealitäten kann Wege aufzeigen, wie Care-Arbeit gefasst werden kann, ohne in essenzialisierende Muster zurückzufallen. Da in queeren Communities der Reproduktionsbereich der heteronormativen Familie oder der traditionellen, heterosexuellen und cisgeschlechtlichen Paarbeziehung wegfällt, verlagert sich die Übernahme von Care-Arbeit auf ein Kollektiv an Menschen, die als Freund_innen, Wahlgeschwister oder Wahleltern in einer Community füreinander Sorge tragen und Care-Tätigkeiten unabhängig von starren oder zugewiesenen Rollen übernehmen. Als Gruppen an Menschen, die nicht in das misogyne Care-System des Patriarchats passen, wird füreinander gesorgt, ohne dass diese Arbeit an ein bestimmtes Geschlecht gebunden sein muss. Damit wird einerseits Care-Arbeit, die vom Sexismus des Systems abgewertet oder totgeschwiegen wird, wieder aufgewertet, da sie nicht mehr Last für einige sondern kollektiv getragene Arbeit von allen für alle ist. Andererseits wird Care-Arbeit dadurch von Weiblichkeit entkoppelt, sodass es nicht mehr nur darum geht, zu kritisieren, dass Frauen und weiblich sozialisierte Personen mehr Care-Arbeit leisten, sondern auch darum, Care-Arbeit unabhängig vom männlich-weiblichen Paradigma der ungleichen Belastungen zu denken. Die Sorge füreinander nimmt so eher die Form der Solidarität an, die darauf beruht, die persönlichen, aber systemisch bedingten Kämpfe der anderen als die eigenen zu begreifen – und sie gemeinsam zu führen. Indem Care-Arbeit also in der queeren Praxis nicht so sehr als Last oder Leistung, sondern als intime Solidarität gelebt wird, erlebt sie zudem eine Politisierung, die dem feministischen Anliegen, dass das Politische vom Privaten nicht getrennt werden kann, Rechnung trägt.
Auch diese Perspektive lässt sich an Stone Butch Blues aufzeigen. Der Ort, an dem sich Jess zum ersten Mal aufgehoben und in den eigenen Sorgen verstanden fühlt, sind die Freundeskreise, die sich in den queeren Kneipen tummeln, die Jess irgendwann entdeckt. So nehmen Butch Al und ihre Freundin Jacqueline Jess direkt unter ihre Fittiche, als Jess zum ersten Mal in der queeren Bar Tifka‘s auftaucht. Auf ihre jeweils unterschiedliche Art nehmen in diesem Freundeskreis Femmes, Butches und Tunten Care-Rollen ein, um einander zu unterstützen und zu schützen, und um eine Art Ersatzfamilie zu bilden, in der keine Person allein gelassen wird.
Den Hammer rausholen
Care-Arbeit ist also eindeutig kein Thema, das allein im Kontext eines klassischen materialistischen Feminismus diskutiert werden sollte. Wie auch hinsichtlich Prekarität zeigt eine queere Perspektive auf Care-Arbeit, dass materielle und systemische Fragen für einen queeren Feminismus unabdingbar sind – und gleichzeitig, dass es fruchtbar ist, einen materialistischen Feminismus um queere Perspektiven zu erweitern. Das bedeutet nicht, aus den Augen zu verlieren, dass Queerfeminismus in pure Identitätszelebration und materialistischer Feminismus in einen regressiven Essenzialismus zurückfallen können. Es bedeutet, gemeinsame Fluchtlinien zweier Ansätze auszumachen, die häufig als einander ausschließend verstanden werden. Es bedeutet, gemeinsam einen großen, mächtigen Hammer zu schmieden, mit dem wir in vielen kleinen und großen Hieben das Patriarchat und den Kapitalismus zertrümmern können.
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[1] Als essenzialistisch werden im Feminismus solche Positionen bezeichnet, die im Zuge einer Ablehnung von Männlichkeit, die als Inbegriff des unterdrückenden Patriarchats verstanden wird, Weiblichkeit affirmieren und an Körper mit Uterus binden, wodurch Weiblichkeit naturalisiert und als inneres Wesen von »Frauen« proklamiert wird. Diese Behauptung einer weiblichen Essenz, die mit körperlichen Gegebenheiten in Zusammenhang gebracht wird, schließt jedoch alle jene Personen aus, die sich als weiblich identifizieren, allerdings keinen Körper haben, der vom Patriarchat – und essenzialistischen Feminist_innen – als weiblich verstanden wird. Letztendlich handelt es sich also um transfeindliche feministische Positionen.
[2] Der Roman ist auf Feinbergs Blog https://www.lesliefeinberg.net/ als PDF verfügbar. In dem Dokument findet sich auch Feinbergs Stellungnahme zu der Entscheidung, das Buch nicht mehr kommerziell zu vertreiben.
[3] Der Prozess beinhaltet – in Deutschland – die Voraussetzung, dass die Person, die eine Geschlechtsumwandlung oder -angleichung über eine Krankenkasse finanzieren lassen möchte, ein Gutachten vorlegt, das ihr den nach der Internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD-10) geführten »Transsexualismus« (F64. 0) attestiert – eine »Krankheit« die gemeinsam mit psychischen Erkrankungen wie Schizophrenie geführt wird.
[4] Selbstbezeichnung vieler Lesben, die sich männlich kleiden und männliche Codes aneignen.
[5] BIPoC ist eine Selbstbezeichnung und bedeutet »Black, Indigenous, People of Color«.