Solidarität mit Bengt oder die Frage der Gewalt

Als Studierendenzeitung können wir nicht leise bleiben, wenn an der Humboldt-Universität wieder einmal mit zweierlei Maß gemessen wird und Studierende diffamiert werden, während ein sich selbst als »wertekonservativ« bezeichnender Professor, der sowohl verbal, als auch tätlich bereits Studierende attackierte, weiterhin unterrichten darf.

Nachdem Bengt Rüstemeier, ein Studierender und Mitglied des akademischen Senats an der Humboldt-Universität zu Berlin, mehrere sogenannte »Shitposts«[1] zu Vermieter_innen, Jeff Bezos und rechten Jungliberalen auf Twitter abgesetzt hatte, entbrannte am vergangenen Wochenende ein von der Springerpresse und einschlägigen rechten und liberalen Twitter-Accounts angeheizter Shitstorm gegen den 21-jährigen Jungsozialisten. Dies ging so weit, dass er inklusive Foto und Hetzparolen auf der Titelseite der B.Z. platziert wurde. Sogar Teile der eigenen Partei (SPD) schlossen sich dem an. Auch die Leitung der HU reagierte mit Drohgebärden gegen Rüstemeier, indem sie twitterte: »Die Humboldt-Universität verurteilt verbale Beleidigungen, diffamierende Äußerungen und Kommentare oder Tweets, die zu Gewalt aufrufen, auf das Schärfste. Hatespeech hat keinen Platz an der HU und ist für uns in keiner Weise akzeptabel.«[2]

Die Entsolidarisierung der Universität von den eigenen Studierenden ist untragbar und macht uns wie viele andere – die zahlreichen empörten Kommentare unter dem Tweet zeugen davon – wütend. Leider ist sie aber nicht neu und dementsprechend auch wenig überraschend. Denn die Leitung der HU verurteilt systematisch schnell und direkt jedes ›linke Fehlverhalten‹, übt sich jedoch regelmäßig im Schweigen zu Übergriffen, wenn sie von rechten Positionen an der Uni ausgehen. So blieb jegliche Kritik an Jörg Baberowksi aus, nachdem dieser im vergangenen Jahr einen linken Studierenden tätlich anging[3] und auch nach seinen diffamierenden Äußerungen gegenüber Vertreterinnen der Studierenden der HU, die er unter anderem als »unfassbar dumm« bezeichnete, schwieg die Uni-Leitung. Desweiteren weigert sie sich, Stellung zu beziehen zu den antisemitischen Äußerungen, die von rechten Studierenden in WhatsApp-Gruppen verbreitet wurden.[4]

Die Gegenüberstellung des Falls Baberowski mit den Ereignissen um Bengt Rüstemeier zeugt einmal mehr von einer strukturellen Ungleichheit zwischen Studierenden und Professor_innen. Der Statusunterschied und die Hierarchisierung dieser zwei Gruppen wird von der Unileitung der HU nicht etwa reflektiert und ausgeglichen, sondern im Gegenteil bestärkt.

Dass die Uni sich zu einer Bagatelle wie einer Handvoll Shitposts überhaupt äußert, ist im Grunde allerdings unüblich und erstaunlich, umsomehr sich Rüstemeier hierfür bereits entschuldigt hat. Im Sinne einer fehlbarkeitsoffenen Pädagogik hat die Hochschule eine solche Entschuldigung zu akzeptieren. Nur dadurch, dass die rechte Presse Rüstemeiers Posts künstlich aufbläst, fühlt sich die Universitätsleitung im Zugzwang, sich von den Äußerungen ihres Studenten zu distanzieren. Es ist immer wieder auffällig, wie Universitäten dazu tendieren, ihre linke Student_innenschaft dem rechten Mob auszusetzen, aber rechte Studierende mit ihrem Schweigen schützen. So äußerte sich zum Beispiel Benedikt Brechtken, Student der Universität Bochum und öffentlicher Vertreter der Jungen Liberalen unter dem Jubel seiner Anhänger_innenschaft affirmativ zum Mord an Rosa Luxemburg[5] oder drohte Sozialist_innen »ironischerweise« mit ihrer Auslöschung durch Raketenwerfer.[6] Die Reaktionen Rüstemeiers auf solche Veröffentlichungen mag man als geschmacklos betrachten, im Vergleich zu den tatsächlichen Aufrufen, auf die er reagiert hat, sind sie jedoch offensichtlich ironisch gemeint.

An diesen erschreckenden Ereignissen um Bengt Rüstemeier wird das grundlegende Verhältnis der bürgerlichen Ideologie im Kapitalismus zur Frage der Gewalt deutlich. Dieses Verhältnis offenbart sich auch in diesem Fall zunächst als Doppelstandard: Die bürgerliche Presse und andere systemstützende Institutionen ziehen linke Personen durch den Dreck und schützen gleichzeitig rechte Propaganda mit ihrem Schweigen. Der Doppelstandard entsteht dadurch, dass sich die bürgerliche Gesellschaft aufgrund ihrer tragenden Rolle für die kapitalistische Ökonomie in der Aufgabe sieht, linke radikale Kritik, die den status quo angreift, zu delegitimieren und rechte Drohgebärden gegen u.a. Frauen, Migrant_innen, Armen, Rassifizierten, queeren und disabled people zu akzeptieren oder gar zu fördern. Denn nur mithilfe einer strukturellen Abwertung bestimmter Personengruppen und Positionen ist die für den Kapitalismus notwendige Ausbeutung möglich. Dass gegen diese Gruppen verbale und physische Gewalt ausgeübt wird, ist also im Interesse des Kapitals und damit der bürgerlichen Klasse.

Um die eigene Existenz und Position in der Gesellschaft zu sichern, ist es daher nicht erstaunlich, dass die ›neutrale Mitte‹ – ob nun bürgerliche Presse oder Universitätsleitung – die Artikulation oder Befürwortung von Gewalt der einen legitimiert und die Reaktionen der anderen darauf hart sanktioniert, auch weil letztere die bestehenden Verhältnisse in Frage stellt und strukturelle Gewalt kritisiert. So erscheint es im Interesse der Uni-Leitung, Studierende nicht vor rechten Angriffen zu schützen,[7] sondern im Gegenteil gegen linke Studierende vorzugehen, um ihre eigene Position und kommende interne Wahlen abzusichern.

Hinter dem erwähnten Doppelstandard verbirgt sich jedoch eine weitere Dimension der Gewaltfrage. Dabei geht es darum, wessen Gewalt im Kapitalismus grundsätzlich legitim ist, sowie gegen wen legitimerweise Gewalt ausgeübt werden darf. In der bürgerlichen, kapitalistischen Ideologie ist die Ausübung von Gewalt gegenüber all denjenigen Personen legitim, die zum Zweck der Mehrwertproduktion ausgebeutet werden. Hierbei ist der Aspekt der strukturellen Gewalt zentral. Vollkommen legitim ist es nach bürgerlich-kapitalistischer Ideologie, dass materielle Ungleichheiten bestehen, dass Menschen in Armut leben, dass Personen Aufenthaltstitel verweigert werden, dass Geflüchtete im Mittelmeer sterben – und so weiter. All dies sind Formen struktureller, weitgehend unsichtbarer Gewalt. Diese Mechanismen sorgen dafür, dass sich für die betroffenen Personen in vielen Fällen das Leben langfristig in Leiden verwandelt oder allzu früh ein Ende findet. Hinzu kommt die stille Unterstützung offener (also nicht struktureller) physischer oder verbaler Gewalt, die gegen Minderheiten zur Anwendung kommt, und systemisch gesehen die Funktion hat, Menschen an ihrem Platz zu halten. Dass rechte Menschen und Gruppen diese Form der Gewalt ausüben, stützt das kapitalistische System und seine Profiteur_innen – weshalb sie weder diskursiv noch rechtlich kaum je wirklich negative Folgen für die Täter_innen hat.

Legitim ist also die Gewalt des Kapitals und der Privilegierten gegen Minderheiten, Prekäre sowie gegen Linke, die diese Zustände anprangern. Damit kommen wir zur notwendigen Gegenfrage, nämlich wessen Gewalt in der bürgerlichen Gesellschaft nicht legitim ist, und wogegen Gewalt illegitim ist. Wehren sich Betroffene von struktureller oder offener Gewalt im kapitalistischen System auch nur auf irgendeine Art und Weise gegen die Angriffe, die ihnen zugefügt werden, wird diese »Gewalt« delegitimiert, kritisiert und mit Repression überzogen. »Gegengewalt« ist also aus Perspektive des Kapitals und der bürgerlichen Ideologie immer illegitim. Seien es Kolumnen, die mit empowernder, gewaltvoller Sprache gegen Diskriminierung anschreiben, oder physische, selbstverteidigende »Gegengewalt« beispielsweise bei gewaltsamen Polizeikontrollen: Jegliche Handlung, die eine Gefahr für die Aufrechterhaltung und Perpetuierung des Systems darstellt, wird im öffentlichen Diskurs dämonisiert und vonseiten der Justiz reprimiert. Sich als linke Person im öffentlichen Diskurs gegen die Gewalt des Kapitals zu positionieren, provoziert also eine Repressionsreaktion der herrschenden Klasse. Damit ist einerseits erklärt, weshalb die bürgerliche Presse auf diese Art und Weise mit linken, radikalen Aussagen umgeht, und andererseits wird damit aufgezeigt, dass diese Vorgehensweise ein weiterer Mechanismus zur Stabilisierung von Herrschaft ist.

Mit Rufmordkampagnen wie der aktuellen gegen Bengt Rüstemeier wird ein Exempel statuiert, das allen von Prekarität, Diskriminierung und Gewalt betroffenen Personen und jenen, die dagegen ankämpfen, klar macht, dass eine Äußerung, die das System in Frage stellt, nur unter Eingehen des Risikos formuliert werden kann, die eigene Existenz dabei massiv zu gefährden oder gar zu verlieren. Es handelt sich um eine Herrschaftsform, welche den Gehorsam der Masse reproduziert. Bengt ist durch diese Kampagne nicht nur öffentlich diffamiert worden, sondern wurde mit wiedererkennbarem Bild Rechtsradikalen auf dem Präsentierteller vorgesetzt. Dies kann im schlimmsten Fall für ihn zur Folge haben, dass er sich gegen Neonazi-Angriffe, rechte Drohbriefe und dergleichen wappnen muss. Schon jetzt treffen Linke auf Twitter Gegenmaßnahmen und rufen sich in Erinnerung, dass Rechte nur auf solche unbedachten Momente, wie sie Rüstemeier passiert sind, warten.[8]

Das Gesagte macht deutlich, dass es sich bei der Gewalt, die das kapitalistische System trägt und als Herrschaftsinstrument fungiert, qualitativ um eine andere Gewalt handelt, als bei jener, die dieses Herrschaftssystem in Frage stellt oder angreift. Der Moment, in dem »Gegengewalt« zur einzigen Lösung wird, ist ein Moment der Verzweiflung, des Am-Boden-Liegens, der Alternativlosigkeit gegenüber einem übermächtigen Gegner, der eine Transformation hin zu einer strukturell gewaltlosen Gesellschaft versperrt. Zu erkennen, dass »Gegengewalt« – entgegen der bürgerlich-kapitalistischen Räson – legitim ist, ist eng verbunden mit dem emanzipativen Begehren nach einer Gesellschaft, in der wir gewaltfrei leben können. Es geht also darum, dass wir in jedem Moment versuchen müssen, die herrschaftliche Gewalt zu kritisieren und zu bekämpfen, und die eigene Gegenwehr im Wunsch nach Gewaltlosigkeit in jedem Moment sorgfältig auf ihre Legitimität zu prüfen, ohne sie grundsätzlich zu verwerfen. Oder wie es Erich Fried so eindrücklich formulierte: Die Gewalt kann man vielleicht nie // mit Gewalt überwinden // aber vielleicht auch nicht immer // ohne Gewalt.

Die Huch-Redaktion

#SolidaritätMitBengt #BengtRüstemeier

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[1] Erläuterung zum Begriff des »Shitposts« unter: https://www.urbandictionary.com/define.php?term=Shitpost (zuletzt aufgerufen: 10.02.2021)

[2] Statement der Humboldt-Universität zu Berlin zu Rüstemeiers Tweets: https://twitter.com/HumboldtUni/status/1358403907295334400 (zuletzt aufgerufen: 10.02.2021)

[3] Der Vorfall ist dokumentiert: https://youtu.be/QptQWEsR5Hk (zuletzt aufgerufen: 11.02.2021)

[4] Betroffene äußerten sich zuletzt in der Studierendenzeitung UnAuf zu den Vorfällen: https://www.unauf.de/2021/diskriminierung-antisemitismus-humboldt-universitaet-hu-berlin/ (zuletzt abgerufen: 10.02.2021)

[5] Screenshot des bereits gelöschten Posts: https://twitter.com/H4nzWurst/status/1358518023540375554 (zuletzt aufgerufen: 10.02.2021)

[6] Screenshot des bereits gelöschten Posts: https://twitter.com/_janschiffer/status/1358830351863451648 (zuletzt aufgerufen: 10.02.2021)

[7] Vgl.: https://twitter.com/MoBleibt/status/1356195130294861829 (zuletzt aufgerufen: 10.02.2021)

[8] Linke auf Twitter treffen Vorsichtsmaßnahmen: https://twitter.com/hexis1949/status/1358792097638326274 (zuletzt geöffnet: 10.02.2021)