| von Tilman Bärwolff |
Netflix und Co gelten als die Zukunft. Die schlechten Arbeitsbedingungen bei den Plattformen fallen dabei oftmals unter den Teppich. Um dem eine Alternative entgegenzusetzen, versuchen Sozialist_innen in den USA nun einen linken Streamingservice aufzubauen.
Netflix ist aus unserer Freizeit nicht mehr wegzudenken. In scheinbarer Ermangelung anderer Beschäftigungen zu Zeiten der globalen Pandemie zieht es tagtäglich Millionen Nutzer_innen auf die bekannteste Streamingplattform der Welt. So gibt es nach Berechnungen des Verbraucher_innenportals Comparitech bereits 7,26 Millionen zahlende Netflix-User_innen in Deutschland.1 Da sich meist mehrere Personen einen Account teilen, ist davon auszugehen, dass die eigentliche Zahl noch höher liegt. Streamingplattformen haben bereits eine solche Größe erreicht, dass die EU-Kommission Netflix und andere Anbieter zu Beginn der Coronakrise bat, ihre Streamingqualität zu drosseln, um eine Überlastung des europäischen Netzes zu vermeiden.2
Eine solche Dominanz von Streamingplattformen bei gleichzeitigem Rückgang der Zuschauer_innen traditionellen Kabelfernsehens ist Grund genug, sich die Inhalte und Struktur der Plattformen genauer anzusehen.
Denn auffällig ist, dass vor allem Netflix, als weltweit größter Streaminganbieter, neben unzähligen Trash-Serien eine große Bandbreite progressiver Serien und Filme vorzuzeigen hat. Ein Beispiel ist die Serie Dear White People, in der im Szenario einer fiktiven US-amerikanischen Universität politische und zwischenmenschliche Spannungen zwischen BIPoC und weißen Studierenden dargestellt werden. Am Beispiel des Mikrokosmos Universität werden hier die rassistischen Normalzustände der USA greifbar. Darüber hinaus schafft es Dear White People wie kaum eine andere Serie, gesellschaftliche Diskurse um das Thema Rassismus anschlussfähig und spannend darzustellen.
Auch andere »Netflix Originals«, also Eigenproduktionen des Streamingservices, wie Sex Education fallen positiv auf. So schafft es die Serie, das bereits hundertfach durchgekaute High-School-Setting zu unterwandern, indem es diesem mit klischeebehafteten und reaktionären Stereotypen durchsetzten Szenario eine unverkrampfte und vielfältige Darstellung sexueller Orientierungen entgegenstellt.
Angesichts dieser Positivbeispiele wundert es kaum, dass Netflix in der öffentlichen Darstellung oftmals als freiheitlicher Gegenspieler zu den alten und verkrusteten Strukturen öffentlich-rechtlicher Rundfunk- und Fernsehanstalten gesehen wird, der abseits von Einschaltquoten auch unkonventionellen Serien eine Chance gibt. Ein faires Argument, bedienen ARD, ZDF und Co doch oftmals eher den Bedarf nach seichten Feierabendkrimis, als nach wirklichen Qualitätsserien und Filmen.
Doch so sauber und frei, wie Netflix oftmals dargestellt wird, ist es längst nicht. Hinter der hübschen Fassade türmen sich Berichte über toxische Arbeitsbedingungen und unfaire Bezahlung.
Der Schein trügt
Kürzlich machte der Autor und freie Journalist Harald Keller in einem Bericht für die Jungle World auf die massive Kritik von Filmemacher_innen an dem Vertragsmodell von Netflix aufmerksam.3 Denn die Plattform gilt die erworbenen Rechte an einer Serie – im Gegensatz zu US-amerikanischen Produktionsfirmen – zu Vertragsbeginn ab. Filmschaffende müssen also nicht in Vorleistung für ihre Produkte treten, sondern bekommen oftmals zum Vertragsbeginn eine gewisse, sicherlich nicht unbeträchtliche Summe ausgezahlt. Eine solche Vorauszahlung schließt aber oftmals auch eine spätere Beteiligung an den Gewinnen der Serie aus, unabhängig davon, wie groß deren Erfolg sein mag. Zwar einigte sich die Gewerkschaft ver.di Anfang diesen Jahres mit Netflix auf eine Regelung, durch die Künstler_innen erfolgsabhängig an den Gewinnen ihrer Produktionen beteiligt werden müssen.4 Keller zufolge würden Gewinne unabhängig davon aber nur dann »fließen«, wenn die Produktionen auch im Programm bleiben, wofür es keine Garantie gebe. Denn die Rechte an ihrem geistigen Eigentum geben die Macher_innen vertraglich an Netflix ab – und das Unternehmen entscheidet dann, ob eine Produktion abgesetzt wird oder nicht.
Dass die Löhne für viele Mitarbeitende von Netflix-Produktionen zumindest in den USA ansteigen, liegt dem Journalisten Andrew Rickert zufolge auch nur daran, dass Filmschaffende im US-amerikanischen Vergleich ungewöhnlich gut gewerkschaftlich organisiert und streikfreudig seien.5 Dies zeige die anhaltende Bedeutung von Gewerkschaften für die Aufrechterhaltung von guten Arbeitsbedingungen bei modernen Streamingservices, so Rickert.
Doch auch wenn die von den Mitarbeiter_innen erkämpften Löhne sich durchaus bessern – die Arbeitsbedingungen bleiben weiterhin fürchterlich. Ein Blick auf die offizielle Website zur Unternehmenskultur von Netflix offenbart schmackhafte Passagen wie:
»Being on a dream team is not right for everyone, and that is OK. Many people value job security very highly, and would prefer to work at companies whose orientation is more about stability, seniority, and working around inconsistent employee effectiveness. Our model works best for people who highly value consistent excellence in their colleagues.«6
Einer Reportage des Wall Street Journals zufolge hat Karen Barragan, eine hochrangige Führungskraft im Unternehmen, gegenüber einigen Mitarbeiter_innen behauptet, es sei gut, jeden Tag in der Erwartung zur Arbeit zu kommen, gefeuert zu werden – denn Angst sei ein guter Antrieb.7 Weiter heißt es in der Reportage, dass Kolleg_innen kürzlich gekündigten Angestellten oftmals keine emotionale Hilfe anbieten, da sie Angst haben, dann selber ins Visier ihrer Chefs zu geraten.8
Was tun?
Während Netflix nur ein einzelnes Beispiel innerhalb der Filmbranche darstellt, sind toxische Arbeitsbedingungen und fehlende Beteiligung an den Gewinnen des Unternehmens kein Einzelfall, sondern über alle Tätigkeitsfelder hinweg Symptom der menschenfeindlichen kapitalistischen Produktionsweise.
Doch mit dieser auf das Gesellschaftssystem verweisenden Antwort wollen sich nicht alle zufrieden geben. Anstatt sich mit der kapitalistischen Realität der Streamingbranche abzufinden und auf ein »nach der Revolution« zu warten, will seit diesem Jahr ein kleines Team von künstlerisch begabten Sozialist_innen im Rahmen ihrer Möglichkeiten Giganten wie Netflix eine Alternative entgegensetzen. Der Name dieses Projekts lautet »Means TV«.
»Means« bezieht sich dabei auf die »means of production«, also die Produktionsmittel. Diese befinden sich bei dem Projekt, in guter sozialistischer Tradition, in Händen der Angestellten des Unternehmens – der Streamingdienst versteht sich als Arbeiter_innenkooperative9. Die Arbeiter_innen besitzen den Service, wählen dessen Vorstand und bekommen vom erzielten Gewinn so viel ab, wie sie an Arbeit in die Kooperative einbringen. Means TV ist dabei in drei Stufen der Mitgliedschaft aufgeteilt, die über die Beteiligung am Gewinn entscheiden: Fest Angestellte im Unternehmen erhalten gemeinsam 70 Prozent, Auftragnehmer_innen der Kooperative 20 Prozent und »Royalty Members« 10 Prozent der Gewinne. Mittlerweile haben etwa 5000 Personen Means TV abonniert10 Der Bezug des Streamingdienstes kostet 10 Dollar im Monat. Das Projekt finanziert sich nach eigenen Angaben vollständig durch die Beiträge der Abonnent_innen.11
Die Vordenker_innen von Means TV, Naomi Burton und Nick Hayes, wurden zuerst als Produzent_innen der viralen Werbekampagne für die linke demokratische Kongressabgeordnete Alexandria Ocasio-Cortez bekannt. Means TV soll laut Burton und Hayes ein Projekt für den Wiederaufbau linker Medieninstitutionen sein und als alternative Plattform Filmemacher_innen ermöglichen, ihre politische Einstellung in der eigenen Kunst auszudrücken.12
Tatsächlich ist das Angebot der linken Plattform ganz anders, als man es von herkömmlichen Streamingservices kennt. Anstelle von Blockbustern und Sitcoms finden sich hier Formate wie Art House Politics, wo in kurzen, bizarren und gleichsam real gefilmten und animierten Episoden die kapitalistische Welt in ihrer ganzen Verrücktheit dargestellt wird. Auch weitere ungewöhnliche Serien, wie Wrinkles & Sprinkles, die das Leben zweier marxistischer Katzen darstellt, welche sich gegen ihren Besitzer auflehnen, finden sich im Programm.
Ein Großteil des Streamingangebotes von Means TV besteht, wie bei einem linken Projekt zu erwarten, aus politischen Dokumentarfilmen. Diese zeichnen sich durch ihre konsistente filmische Qualität, inhaltliche Tiefe und spannende Themenwahl aus. Aufgelockert werden solche ernsthaften Angebote durch wöchentlich erscheinende Formate wie Means Morning News oder die linke Gamingshow Left Trigger.
Alle Formate zeichnen sich durch eine hohe Qualität der Produktion und Innovation in der Vermittlung linker Inhalte aus. Fraglich ist jedoch, ob es mit den aktuellen Inhalten realistisch ist, ein »Netflix for the 99 percent« zu schaffen. Denn viele Zuschauer_innen wollen sich nach einem harten Arbeitstag schlichtweg von ihrem Streamingservice berieseln lassen, statt sich ernsthaft mit politischen Formaten auseinanderzusetzen. Mit seinem filmisch-fiktionalen Angebot kann Means TV derweil noch nicht überzeugen und es ist fraglich, ob es hier jemals mit milliardenschweren Unternehmen wie Netflix mithalten können wird. Aktuell bedient der Streamingservice wohl vor allem die Nische des linken Publikums, dem Netflix und Co nicht politisch genug sind.
Trotz aller Kritik ist Means TV im durchkapitalisierten Film-, Fernseh- und Streamingmarkt aber ein Lichtblick. Allein der Versuch, in diesem Umfeld eine linke, selbstverwaltete und arbeiter_innenfreundliche Plattform zu etablieren, lässt hoffen, dass in Zukunft Means TV und nicht mehr Netflix und HBO die erste Anlaufstelle für kreative und progressive Filmemacher_innen sein wird.
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1 Christian Erxleben: »Nutzer, Umsatz und Co: So dominant ist Netflix in Deutschland«, online unter: www.basicthinking.de
2 Jörn Brien: »Wegen Corona Krise: Netflix drosselt Streaming-Qualität in Europa«, online unter: www.t3n.de
3 Harald Keller: »Mythos Netflix«, online unter: www.jungle.world
4 »Filmkreative werden am Erfolg von deutschen Netflix-Produktionen beteiligt«, online unter: www.verdi.de
5 Andrew Rickert: »When the Stream Runs Dry: Labor Rights for the Netflix Generation«, online unter: www.brownpoliticalreview.org
6 Online unter: www.jobs.netflix.com/culture
7 Shalini Ramachandran und Joe Flint: »At Netflix, Radical Transparency and Blunt Firings Unsettle the Ranks«, online unter: www.wsj.com
8 Maya Kosoff: »Working at Netflix sounds absolutely terrifying«, online unter: www.vanityfair.com
9 Online unter: www.means.tv/pages/cooperative-structure
10 Tweet von @means_tv, online unter: https://twitter.com/means_tv/status/1265634505756413952
11 Online unter: www.means.tv/pages/about
12 Kate Knibbs: »A ›Netflix for the 99 Percent‹ Enters the Streaming Wars«, online unter: www.wired.com