| von Tilman Bärwolff |
Ein aktives linkes Erinnerns ist wichtig, um die Geschichtsschreibung nicht den Herrschenden zu überlassen. Ebenso relevant ist es, dass dieses Erinnern allen zugänglich ist – und also auch in der Gegenwart entsprechenden, digitalen Formaten stattfindet.
In Gesprächen über die Relevanz der Geschichte und Vergangenheit linker Bewegungen wird immer wieder ein ähnlicher Einwand angebracht: Warum sollten wir uns mit Ereignissen beschäftigen, die bereits hunderte Jahre zurück liegen? Dieser Einwand kann als symptomatisch dafür verstanden werden, welchen Stellenwert die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte heute in linken und emanzipatorischen Kreisen hat. Eine kurze Einschätzung würde an dieser Stelle lauten: keinen besonders hohen. Im selben Zusammenhang steht, dass linke Politik heute oftmals in einem geschichtslosen Raum agiert. Gruppen und Kampagnen fangen in ihrer Arbeit immer wieder bei null an, ohne auf die Erkenntnisse des vergangenen Jahrhunderts linker Geschichte zurückzugreifen. So bietet sich erst gar nicht die Möglichkeit einer kritischen Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte, bei der Erfolge und Misserfolge evaluiert werden. Vielmehr wird die bürgerliche Geschichtsschreibung, welche – Überraschung – an der linken Historie oft kein gutes Haar lässt, oftmals unkritisch übernommen. Damit stellt sich also die Frage, warum es heute überhaupt noch linke Erinnerungsarbeit braucht. Was kann sie bewirken und welchen Stellenwert sollte sie in unserer politischen Arbeit einnehmen?
Für eine linke Erinnerungskultur
Warum es wichtig ist, sich der eigenen Geschichte bewusst zu machen, beschrieb der linke Historiker Howard Zinn bereits 1970 in seinem Essay What is Radical History?.1 Der Autor des Bestsellers A People’s History of the United States zeigt hier, ausgehend von der Fragestellung, wie die Geschichtsschreibung Menschen in eine humanistische Richtung weisen könne, fünf grundlegende Annahmen einer radikalen Geschichtsschreibung, welche bis heute fundamental für eine linke Erinnerungskultur sein können.2
Zunächst biete sie die Möglichkeit, unsere Wahrnehmung dafür zu schärfen, dass wir alle gleichermaßen Opfer desselben Systems sind. Denn auch, wenn unsere Probleme global oft dieselben sind – Ausbeutung, patriarchale Unterdrückung, Abbau von Bürger_innenrechten, um nur einige zu nennen – machen die eigenen Privilegien oder regionale Besserstellung das geteilte (Klassen-)Interesse oft vergessen. Nach Zinn könne es durch den Blick in die Geschichte einfacher sein, diese Trennung zu durchstoßen. Ein Blick in die Vergangenheit gebe Problemen, die heute vergänglich wirken, Tiefe und Intensität. Nach Zinn: »If the same situation appears at various points in history, it becomes not a transitory event, but a long-range condition, […] a structural deformity requiring serious attention«.3 Man denke hier nur an den Kolonialismus, welcher hierzulande erst seit einigen Jahren im öffentlichen Diskurs angelangt ist und dort kritisch reflektiert wird, aber schon seit Jahrhunderten die Lebensrealität der Menschen im globalen Süden prägt, was ein kurzer Blick in die Geschichte leicht bestätigen wird.
Darüber hinaus kann es eine radikale Geschichtsschreibung schaffen, subtile Ideologien, die unsere Kultur durchziehen, zu exponieren. Ideen wie jene, dass wir in der besten aller Gesellschaften leben, der Westen der Verteidiger der Freiheit auf der Welt sei, oder dass jede_r es gleichermaßen schaffen könne, durch individuelle Anstrengung zu Ruhm und Reichtum zu gelangen. Mit einer radikalen Geschichtsauffassung seien wir in der Lage, die Natürlichkeit des status quo, der uns umgibt, zu durchbrechen und sie im historischen Kontext in ihrer Lächerlichkeit zu entlarven, so Zinn.
Demgegenüber biete eine radikale Geschichtsschreibung uns die Chance, die wenigen Momente in der Zeit greifbar zu machen, in denen die Möglichkeit einer besseren Welt gezeigt wurde: »History cannot provide information that something better is inevitable; but it can uncover evidence that it is conceivable«4, so Zinn.
Digitalisierte Erinnerung
Die Beschäftigung mit linker Geschichte kann heute mehr sein, als sich durch staubige Archive zu wälzen, sondern lässt sich perfekt in das tägliche Scrollen durch die eigenen Social-Media-Kanäle integrieren. Vorreiter dieser digital-kompatiblen Erinnerungsarbeit dürfte ohne Zweifel der Kanal Working Class History (WCH)5 sein. Schon seit 2014 hat sich das Kollektiv der emanzipatorischen Geschichte (lohn-)arbeitender Menschen – der Working Class – verschrieben. Und das in Form von leicht verdaulichen Posts, Podcasts, einem YouTube Kanal und auch in physischer Gestalt von Kalendern oder Büchern. Von der Geschichte der Gewerkschaft International Workers oft the World, kurz IWW, in Kanada, über ein Zeitzeugengespräch mit einem Mitglied der Group 43, einer Gruppe britischer Antifaschist_innen in der Nachkriegszeit, bis zur herzerwärmenden Erzählung vom griechischen ›Riot Dog‹ Loukanikos, welcher in Athen über Jahre hinweg Demonstrationen und Riots6 begleitete – quer über das (links-)politische Spektrum hinweg ordnet WCH diese Erzählungen und Augenzeugenberichte in die Geschichte weltweiter emanzipatorischer Bewegungen ein und macht sie so auch aus heutiger Perspektive greifbar. Unter dem Motto »History isn’t made by kings and politicians, it is made by us«7 setzt WCH einen Gegenpol zur Geschichtsschreibung bürgerlicher Historiker_innen, bei denen die Perspektive von unten oft zu kurz kommt oder gar nicht in der offiziellen Geschichtsschreibung erscheint.
Ein Beispiel für digitale linke Geschichtsarbeit in Deutschland ist das Portal Autonome Geschichte8, das hauptsächlich auf Twitter linksradikale und außerparlamentarische Geschichte dokumentiert. Ein Schwerpunkt ist hier vor allem die (primär west-)deutsche Autonome Bewegung der 1980er und 90er Jahre. Gespickt mit vielen originalen Demo-Plakaten, Dokumentationen von Mitteilung der mannigfaltigen Kleingruppen und Zeitungsausschnitten ergibt sich auf dem Kanal ein lebendiges Bild dieser Periode jüngerer linker Zeitgeschichte.
Man muss nicht alles an dieser modernen Form linker Geschichtsarbeit gutheißen. Oftmals verkürzen diese sehr kondensierten Beiträge den Kontext, in welchem sich ein geschichtliches Ereignis zugetragen hat. Ein Like ersetzt eben nicht die intensive Beschäftigung mit einer historischen Begebenheit. Bei aller Kritik bilden die digitalen Formen der Erinnerung vielen (oftmals nur anpolitisierten) Menschen dennoch einen guten Ausgangspunkt, um eine Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte zu beginnen.
Aus alt mach neu
Auffällig dabei ist: Mit vielen, aber sicherlich nicht allen Problemen, denen emanzipatorische Bewegungen heute gegenüber stehen, hatten auch lange vor uns schon Menschen zu kämpfen. Sei es die Schwierigkeit, den richtigen Weg zur Organisierung von arbeitenden und unterdrückten Menschen zu finden, der exzessiven Gewalt staatlicher Strukturen zu begegnen oder einfach die leidliche innere Spaltungs- und Zerpflückungstendenz der politischen Linken, welche uns schon seit Anbeginn begleitet. Trotz allem zeigt die Geschichte aber auch: Der Kampf für eine bessere, eine gerechtere Welt wird nicht erst seit gestern geführt. Er ist schon zahllose Generationen alt.
In der Geschichte der politischen Linken können wir dabei auf einen breiten Fundus ebendieser Momente zurückgreifen: nämlich solche, in denen Solidarität vor Vereinzelung stand, in denen versucht wurde, ein Zusammenleben unter der Maßgabe der Menschlichkeit und nicht dem des Profits zu ermöglichen. Dieser Momente sollten wir uns erinnern – und uns nicht ausschließlich der Geschichtsschreibung nach bürgerlich-kapitalistischer Façon bedienen. Denn wenn wir nicht unsere eigene Geschichte schreiben, werden es andere für uns tun.
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1 Howard Zinn: What is Radical History?, in: The Politics of History, 1970, online unter: www.historyisaweapon.com
2 Angemerkt sei, dass sich Zinn in seinem Text v.a. auf die Vereinigten Staaten bezog. Ich halte seinen Essay nichtsdestoweniger relevant für den deutschen und europäischen Kontext.
3 Übersetzung d. Autors: »Wenn dieselbe Situation an verschieden Punkten der Geschichte erscheint, ist sie kein vergängliches Ereignis, sondern eine langanhaltende Bedingung, […] eine strukturelle Deformität, welche dringende Aufmerksamkeit benötigt.«
4 Übersetzung d. Autors: »Die Geschichte kann keine Informationen darüber bieten, dass etwas Besseres unvermeidbar ist, aber sie kann Belege dafür enthüllen, dass es vorstellbar ist.«
5 Online unter: www.workingclasshistory.com
6 Zu Deutsch: (gewaltsamer) Aufstand
7 Übersetzung: »Geschichte wird nicht von Königen oder Politiker_innen geschrieben, sondern von uns.«
8 Twitter: @RadicalPast, online unter: www.radicalpast.blogsport.eu