| von Julia Savchenko |
Der Tod eines Familienmitglieds ist der Anlass unserer Autorin über jüdisch-russische Identität, familiäre Wurzeln und rechtsextreme Bedrohungen nachzudenken. Dresden, der Dreh- und Angelpunkt dieser Reflexionen, dient dabei als wärmende und zugleich unheimliche Kulisse.
Ich öffne Twitter, gegen meine Intuition, die weiß, was gut für mich ist. Lese: In Dresden demonstriert zum 9. November PEGIDA, während die Gedenkveranstaltung zur Pogromnacht abgesagt wurde. Wie das wohl passieren konnte. Wegen Corona. Aber Details machen es nicht besser. Ich weiß nur, dass es etwas mit mir macht, und wenn ich ehrlich bin, will ich nicht einmal genau wissen, was. Ich denke nur an Gebäude.
Der Hauptbahnhof. Dort, wo ich ankomme, als ich Februar dieses Jahres nach Dresden fahre, um nach einem Jahr Kontaktpause und familiären Schwierigkeiten meine Großtante wiederzusehen. Das erste Mal allein, das erste Mal seit allem. Und von wo ich erst einmal nicht wegkomme, da alles abgesperrt ist und die Straßenbahnen nicht fahren, weder Nord- noch Südseite. Dann muss ich einer Pferdestaffel der Polizei ausweichen, erst danach sehe ich warum: Überall Rechtsextreme. Ich rufe an, dass ich mich verspäte und gehe zu Fuß, stelle mich kurz am Rand dazu, wo die Demonstrierenden ausgebuht und beschimpft werden. Später lese ich darüber und es heißt, die Polizei wäre recht gewaltsam durch eine Blockade geritten, ich finde irgendein Statement vom Bürgermeister oder Polizeichef.
Der Plattenbau. Alt und vertraut, aber diesmal fühle ich mich zum ersten Mal nicht angespannt, als ich ihn sehe. Das erst vor einigen Jahren renovierte Treppenhaus und der Flur riechen nach Linoleum und Farbe, für mich der Geruch dieser Stadt. Im Aufzug in den vierten Stock begegnen mir die alte Dame und der Pudel, wie jedes Jahr. Und schon im Flur sehe ich meine Großtante auf mich warten. Sie hat Pilzsuppe gemacht, wie jedes Jahr. Über der gewachsten Tischdecke sprechen wir über meinen Weg hierher, die Nazis und dass man da wohl nicht viel machen kann, weil Meinungs- und Versammlungsfreiheit herrscht. Ich kann aus dem Fenster die Synagoge, das Haus der Gemeinde, den Zwinger und die Elbe sehen. Und die große Straße direkt unter dem Balkon, wo noch mehrmals am Abend Teilnehmer_innen der Gegendemonstration entlang marschieren und sich über Lautsprecher gegenseitig vor Nazis warnen. Ich helfe meiner Großtante, deutsche Briefe zu übersetzen und irgendwas am Computer zu machen, bevor ich erschöpft ins Bett falle.
Der Netto gegenüber. Auf dem Weg dorthin habe ich früher oft versucht, meine Gedanken zu sammeln, wenn in der Wohnung die Stimmung schieflag; meist durch den Schnee stapfend, weil wir fast nur an Neujahr hier waren. Sie hat mir, wie immer, eine Einkaufsliste geschrieben. Letzte Woche habe ich den Zettel in meiner Tasche gefunden.
Der Park Pillnitz. Als ich klein war, war ich mit ihr zusammen hier, es kam mir vor wie ein großes Abenteuer. Wir sahen Eichhörnchen und einmal blieb sogar ein Spatz auf meiner Handfläche sitzen, als ich versucht habe Vögel zu füttern. Wir machten oft Spaziergänge und ich fragte immer nach neuen Wegen.
Der Plattenbau, Neujahr 2017. Ich liege im Klappbett, während im anderen Zimmer gestritten wird. Ich frage mich immer wieder, was Familie bedeutet. Ob wir, da wir hier in Deutschland nur uns haben, zusammenhalten müssen. Auch wenn es wehtut und auch wenn wir nicht wirklich miteinander klarkommen.
Das Krankenhaus, August 2020. Jedes einzelne Licht und jeder Piepton dieses Abends hat sich mir eingeprägt. Es ist eine laue Sommernacht, ich bin mit meiner Mutter hier. Wir haben ein schwieriges Verhältnis, und ich bin gerade erst dabei zu erahnen, welcher Balanceakt zwischen Trauer und Abblocken emotionaler Manipulation mir bevorsteht. Wir können nicht mehr mit meiner Großtante sprechen, dazu ist es zu spät, aber ein letztes Mal ihre Hand halten. Das ist das erste Mal seit über einem Jahr, dass wir alle drei in einem Raum sind.
Der Plattenbau, wieder. Die Bekanntheit des Ortes sticht mir in die Brustregion. Wir finden die Wohnung unaufgeräumt vor, aber vertraut, fast gemütlich. Alles so, wie sie es am Tag zuvor hinterlassen hat. Dann kommt der Anruf. Morgen bitte vorbeikommen und diese und jene Dokumente mitbringen und die Sterbebescheinigung abholen. In dieser Nacht wache ich von meinem eigenen Schrei auf, ohne mich an einen Traum erinnern zu können. In den folgenden Tagen erledigen wir die Dinge, die nach dem Tod erledigt werden müssen. Von uns, da wir ihre nächsten Verwandten sind. Verlorenheit. Manche Momente sind interessant – ich lerne beim Einpacken alter Fotos wieder etwas über meine Vorfahren, und beim Sortieren ihrer Aufzeichnungen die Zeitungsartikel und Themen, für die sie sich interessierte. Ich bin froh, im Februar noch ein paar schöne Tage mit ihr verbracht zu haben und doch scheint es nicht genug. In der Glasvitrine finde ich einen Mesusa-Behälter, den ich in meinen Koffer lege.
Das Trauerbüro neben der Klinik. Es herrscht unglaubliche Hitze. Die Sachbearbeiterin nimmt die Daten meiner Großtante auf und bei der Frage nach der Nationalität kommt es zu einer kurzen Diskussion. Erst schreibt sie »Jüdisch« auf. Ich werfe ein, dass es diese Kategorie nicht gibt, dass die Staatsbürgerschaft gemeint sein muss und wir ändern es in »Russisch«. Nationalität im Sinne von Abstammung in den Dokumenten ist ein Relikt des Stalin-Regimes in der UdSSR. Und gleichzeitig der Grund weshalb wir, als ich zwei Jahre alt war, als sogenannte Kontingentflüchtlinge nach Deutschland kommen konnten.
Das Haus der Gemeinde. Ein großer sandsteinfarbener Kubus mit Garten, eigentlich wegen Corona geschlossen. Aber wir haben einen kurzen Termin zum Besprechen von Formalitäten. Hier kennt man meine Großtante und auch uns, obwohl wir nicht, wie viele andere, hier geblieben sind. Ein oberflächliches Gespräch darüber, dass viele Menschen meiner Generation sich wieder dem Judentum zuwenden, bei anderen aber fast nichts mehr davon übrig bleibt. Die sind doch gar keine Juden mehr, scherzt meine Mutter mit einer Geste auf mich. Ich bin an diesem Tag wie benebelt und die Worte dringen nur dumpf in mein Bewusstsein.
Der Friedhof, die Kapelle. Es ist der einzige wolkenverhangene Tag in dieser Sommerwoche. Ich betrachte den großen goldenen Davidstern an der Wand und die flackernden Kerzen, bin ein bisschen nervös, weil es meine erste Beerdigung ist, und weil ich gleich zwischen Segnungen und Ansprachen des Rabbiners die Lebensgeschichte meiner Großtante vortragen werde, die ich aufgeschrieben habe. Eine schwere, bewundernswerte Geschichte; sie hat früh große Teile der Familie verloren. Ich muss spontan auf Russisch übersetzen, aber es funktioniert. Die Rituale und der Ablauf, sogar die Gebete bieten einen gewissen Trost und Halt, obwohl ich nie religiös war. Schon die letzten Tage habe ich viel über jüdische Beerdigungsbräuche gelesen. Vielleicht nur, um etwas zu tun zu haben, aber ich fand, dass es gut und richtig war und konnte mich an etwas festhalten. Erde werfen, eine letzte Bitte um Verzeihung, der Trostspalier. Der Weg zurück an der mit Moos bewachsenen Friedhofsmauer vorbei ist in meiner Erinnerung unendlich lang.
Frauenkirche. Wir machen einen letzten kurzen Spaziergang durch das Zentrum, durch diese Stadt, die so viele meiner Erinnerungen in sich gespeichert hat wie eine Kapsel, an deren Orten Geborgenheit, Depression, Angst, Trauer und Freude in stärkerer Intensität zusammengedrängt sind, als dort, wo ich lebe.
Jetzt sitze ich in meinem Zimmer und lese die Nachricht, dass, obwohl der Gemeinde vom Bürgermeister versichert worden ist, dass das nicht passiert, am Tag der Pogromnacht PEGIDA in der Stadt demonstrieren und ein bekannter Rechtsextremer sprechen darf. Meine Gedanken streifen Sandsteinmauern und ich denke an ein paar der Menschen, die ich dort im Sommer kennengelernt habe. In dem für Menschen mit meiner Familiengeschichte typischen Identitätskonflikt bin ich mir unsicher, wie real mein Bezug zu alldem ist. Meine Familie ist seit Langem sekulär, auch das ist Geschichte. Man hat eben irgendwo eine Davidsternkette herumliegen, aber was das wirklich bedeutet ist schwer zu sagen. Ich wurde oft ermahnt nicht über das Thema zu reden. »Das geht niemanden was an«, hieß es immer und »Was bist du schon für eine Jüdin?«
Ein roter Faden existiert nicht, lediglich eine lose Verkettung von persönlichen Schicksalen, überlieferten Redewendungen und Namen – und manchmal, ganz selten, die Umrisse einer Leerstelle.
Alles, was ich weiß, ist, dass für mich mit jeder solchen Nachricht ein Stück der Geborgenheit und Vertrautheit wegbricht, die ich mit dieser Stadt verbinde. Ein naives, beinahe besitzergreifendes Gefühl macht sich in mir breit – das hier ist auch unsere Stadt, für mich einer der wenigen Bezüge, die ich zum Jüdischsein habe. Und gerade hier soll Platz für ihren Hass sein, diese parallele Realität, die sich immer wieder bemerkbar macht.
Ein wenig später sagt mir jemand ins Gesicht, dass Sich-nicht-impfen-wollen so ist wie einen Judenstern zu tragen. Ich höre die Vergleiche mit Anne Frank auf Querdenken-Demonstrationen, lese von Anschlägen auf Synagogen – und zuletzt einen Rabbiner auf offener Straße. Ich denke daran, für wie viele Menschen diese Orte ein Zuhause waren und es ein bisschen weniger sind und wie viele solcher Umdeutungen noch passieren müssen. Wie viel Kultur – die vielleicht noch in meinem Leben existieren würde – verloren gegangen oder von Jüdinnen und Juden selbst verdrängt wurde, weil es so einfacher und sicherer war. Das, was religiöse jüdische Menschen empfinden und solche, die seit Generationen hier gelebt und überlebt haben, ist natürlich eine Erfahrung, die ich nicht kennen kann. Und doch frage ich mich, ob es nicht besser wäre, sichtbar zu sein, ob ich vielleicht allen von meinen Wurzeln erzählen sollte, damit Menschen, die in ihren Ansichten schwanken, durch die Präsenz einer zumindest säkularen jüdischen Person in ihrem Umfeld auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt werden. Wie auch immer es um meine Identität bestellt ist, mein anhaltendes Gefühl der Übelkeit ist zumindest eine klare Sache.