| von Kofi Shakur |
Im post-abolitionistischen Zanzibar dienten Kultur und Oral History dazu, kritische Diskursräume zu errichten und sich so den kolonialen Hierarchien und Klassentrennlinien zu widersetzen.
Verschiedene Arten, Kultur auszudrücken und die eigene Identität zu definieren, waren hochgradig umkämpft, nachdem unter Herrschaft der Briten 1897 die Sklaverei als juristische Kategorie in Zanzibar abgeschafft worden war. In Pastimes & Politics. Culture, Community, and Identity in Post-Abolition Zanzibar, 1890-1945 analysiert Laura Fair Gedichte, Lieder und Oral History (über Mode, Tanz, Musik und Sport). Damit zeigt sie auf, wie Identitäten gewandelt, persönliche und politische Klagen und Hoffnungen ausgedrückt und als Werkzeug zur Schaffung von Zusammenhalt oder Spaltung der urbanen Gemeinschaft genutzt werden konnten. Eine besondere Rolle nehmen in ihrer Arbeit Siti binti Saad und deren Musik ein. Noch heute ist sie eine der bekanntesten Vertreterinnen des Taarab, eines Musikgenres, das unter den Einflüssen der Instrumente und Stilrichtungen Westasiens und der breiteren kulturellen Räume des indischen Ozeans entstand. Siti binti Saad und ihre Band haben das Genre wortwörtlich popularisiert, indem sie statt auf Arabisch, das vor allem der aus Oman und teilweise aus Yemen stammenden Elite und den islamischen Gelehrten Ostafrikas vorbehalten war, auf Swahili sangen und somit einen Diskurs etablierten, der verständlich und ansprechend für die Massen war.
Siti binti Saads eigene Biografie spiegelt den Wandel, dem die Gesellschaft Zanzibars mit der formellen Etablierung des britischen Protektorates unterzogen wurde. Wie viele ehemalige Versklavte, zog es Siti binti Saad nach der Abschaffung der Sklaverei auf der Suche nach Wegen ökonomischer und persönlicher Autonomie aus dem ländlichen Hinterland Zanzibars in die Stadt. Dort gelang ihr, was vielen verwehrt blieb: »Hier war eine Frau, die über ihre ärmlichen Verhältnisse hinauswuchs und die am meisten gefeierte Musikerin in der Geschichte der Kultur der Swahili wurde. Hier war die Tochter ländlicher Sklaven, die lokal und international als kulturelle Ikone der Swahili-Zivilisation wahrgenommen wurde.«1
Ein übergreifendes Thema sind dabei die Verhandlungen, die Aneignung und teilweise auch die Negation von ustaarabu – ein Begriff, der die kulturelle Nähe zu den als erstrebenswert empfundenen Werten und Traditionen der arabisch-islamischen Elite beschreibt. Während sowohl Zanzibar als auch weite Teile der ostafrikanischen Küste seit langer Zeit muslimisch waren, gab es eine eindeutige Hierarchie, die sowohl von der Omani-Elite, wie auch durch den deutschen und britischen Kolonialismus reproduziert wurde. In dieser Hierarchie wurden ‚afrikanische‘ Muslim_innen einer kulturell niedrigeren Stufe zugeordnet. Dabei sind, wie sich im Verlaufe des Buchs zeigt, ‚afrikanisch‘ oder ‚arabisch‘ und ‚muslimisch‘ keine sich gegenseitig ausschließenden Kategorien, sondern Resultat gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse. Es handelt sich zwar um Ergebnisse sozialer Dynamiken, die sich im historischen Kontext entwickelt haben, doch besonders in der Kolonialzeit wurde versucht, diese Kategorien nicht durch die Gesellschaft, sondern die Gesellschaft durch ihre Kategorien zu verstehen, wobei das zugrundeliegende Interesse immer Ordnung und Stabilität waren. Vor der Abolition war es Versklavten beispielsweise nicht gestattet, Schuhe zu tragen, den Kopf zu bedecken oder sich zu verschleiern. Dadurch wurden sie davon abgehalten, mit der Einhaltung islamischer Kleiderordnung ustaarabu und damit Respekt zu erlangen, konnten also durch ihr Äußeres klar ihrer sozialen Position zugeordnet werden. Nach der Abolition begannen viele, sich als ‚Swahili‘ zu identifizieren, oder zählten sich später zu den indigenen Gruppen Zanzibars. Andere adoptierten arabische Familiennamen und beanspruchten so einen höheren Status. So konnten Personen und Familien über Jahre hinweg in statistischen Erhebungen als Teil verschiedener Kategorien erscheinen.
Menschen, oft ursprünglich versklavt, die nicht nur vom tanzanischen Festland, sondern häufig aus dem Kongo oder Mosambik kamen, wurden mit diskriminierenden Begriffen bedacht, die sie als unzivilisiert kennzeichneten. So kursierten Schmähgedichte, die an Siti binti Saads Herkunft erinnerten und ihre afrikanischen Gesichtszüge verunglimpften. Siti binti Saad antwortete, indem sie die Verbindung von Status mit Herkunft und Beziehungen zur arabischen Halbinsel generell in Frage stellte. Kultur, schreibt Laura Fair, war das Mittel, mit dem die lohnabhängigen Mitglieder der Gesellschaft kollektiv in politische Diskurse eingreifen konnten, während sie formell keinerlei Möglichkeiten zur Partizipation besaßen. Zudem unterstreicht sie, dass Selbstbestimmung über die eigene Kleidung, musikalische Innovationen, Boykotte oder Gefangenenbefreiungen als verschiedene Mittel des gleichen Strebens danach gelesen werden müssen, den Zugang zum urbanen Raum und dem gesellschaftlichen Leben zu verteidigen.
Mit der Abolition begannen mehr und mehr ehemals Versklavte, ihre Freiheit im Rahmen von Ethnizität festzuhalten, indem sie sich als Swahili identifizierten und so die Assoziation mit ihrer Herkunft vom Festland auflösten. Dabei spielte die Übernahme der typischen Kleidung – Kanzu und Kofia für Männer, Kanga und später Buibui für Frauen – eine bedeutende Rolle. Einige Männer begannen außerdem, über ihren Kanzus westliche Anzugjacken zu tragen. Andere experimentierten mit Hüten und verschiedenen Accessoires, während Frauen eher arabische Kleidung adaptierten. Doch gerade in Verbindung mit dem Machtmissbrauch der kolonialen Bürokratie entwickelten sich ambivalente Gefühle gegenüber den neuen westlichen Einflüssen und deren vermeintlicher Respektabilität. Besonders für vormals Versklavte war mit der traditionellen Kleidung, die ihnen vorenthalten worden war, ein neues Selbstbild verbunden. Bald gab es Beschwerden darüber, dass Sklav_innen ‘respektlos‘ und ‚ungehorsam‘ waren und keine ‚Sklavenarbeit‘ mehr verrichten wollten.
In Bezug auf Landrechte versuchte Zanzibars arme Bevölkerung mit Boykotten und Streiks, Selbstbestimmung durchzusetzen. Die räumliche Trennung zwischen Zanzibars Stadtteil Ng’ambo und dem gegenüberliegenden kolonialen, von wohlhabenden Händler_innen und Sklav_innenenbesitzenden geprägten Stone Town, stellte ebenfalls die soziale Spaltung der Stadt dar. Zudem war die Stadt unter zwei konkurrierenden islamischen Rechtsschulen aufgeteilt. Viele der in Ng’ambo Ansässigen kamen auf der Suche nach Arbeit vom Land. Einige von ihnen hatten sogar noch Felder, zu denen sie zurückkehrten, nachdem sie in der Stadt überschüssige Waren verkauft oder für einige Zeit zusätzliche Beschäftigung gefunden hatten. Der Boden in Ng’ambo galt nach islamischem Recht als Waqf, als unveräußerlicher Grund, dessen Profite nur für religiöse oder wohltätige Zwecke verwendet werden durften, und war zunächst zu großen Teilen zur Nutzung durch Mittellose oder ehemals Versklavte gedacht. Die Kolonialverwaltung fing jedoch zugunsten der Besitzenden an, die strikteren Regeln zur Nutzung von Waqf, welche die shafi’itische Mehrheit befolgte, mit der einfacher zur Kommerzialisierung geeigneten Ibadhi-Auslegung omanischer Gelehrter auszuhebeln. Während bis dahin die ehemalig Versklavten als unauthentische Muslim_innen galten, waren es nun sie, die im Gegenzug die Landbesitzenden als unaufrichtige Muslime brandmarkten, die ihre Profitgier über die Religion stellten.
Während also gewisse Merkmale arabischer Kultur und Zivilisation für die Armen eine symbolische Bedeutung hatten, um ihnen einen Platz in der Gesellschaft und als Personen Respekt zu verschaffen, führten die sich verschärfenden Klassenunterschiede zu einem gemeinsamen Bewusstsein und einer Abgrenzung gegenüber den wohlhabenderen Bewohner_innen von Stone Town. In Berichten wurden die zwei Viertel gar als komplett unterschiedliche Städte und „verschiedene Welten“ beschrieben.
Auch wenn ihre Familien oder sogar sie selbst noch vom Festland stammten, sahen viele Bewohner_innen Ng’ambos sich nach jahrzehntelanger Arbeit als Zanzibaris und beanspruchten das Land, auf dem sie lebten und arbeiteten, für sich. Auf verschiedenen Wegen versuchten die Bewohner_innen des Viertels, Zahlungen von Grundrente zu umgehen. Im Jahr 1928 kam es nach immer weiteren Zuspitzungen zu einem Streik, bei dem das Viertel kollektiv die Zahlung verweigerte: „Das Land gehört uns! Warum sollten wir dafür zahlen?“
Ereignisse wie dieses fanden ihren Weg in die Musik von Siti binti Saad, deren Band oft in Ng’ambo spielte. Denn die Musik wurde nicht nur von den Musiker_innen komponiert, sondern auch von den Anwohner_innen, deren Kommentare, Geschichten, Erfahrungen, Beschwerden und Wünsche in die Lieder einflossen. Nicht zuletzt wurde auch die herrschende Klassenjustiz zum Gegenstand der Kritik. Dabei wurden Gerüchte, soziale Fragen und politische Auseinandersetzungen zum Material des kreativen Prozesses. Durch geschickte Wortspiele, welche die eigentliche Bedeutung des Gesagten verschleierten, konnte Siti binti Saad bei einem Auftritt ihrer Band im Palast des Sultans sogar dessen Herrschaft ins Lächerliche ziehen. Romantische und sexuelle Erfahrungen und Hoffnungen wurden ebenfalls in den Taarab-Songs verhandelt. Die Musiker_innen thematisierten eigene Erlebnisse, aber auch die von Nachbar_innen und fiktiven Personen im Kontext einer sich öffnenden Gesellschaft, in der Frauen Gewalt und ökonomische Abhängigkeit nicht mehr erdulden und Autonomie fernab von Polygamie und Patronage erleben wollten.
Laura Fair zeigt bildlich, wie kolonisierte Menschen jeden auch noch so marginalen Raum, der sich ihnen bot, ausnutzten, um sich Stück für Stück mehr Selbstbestimmung zu erkämpfen und neue Räume des Zusammenlebens aufzubauen. Musik und Tanz waren keine unpolitischen Freizeitaktivitäten, sondern schufen in Abwesenheit einer Möglichkeit zu politischer Teilhabe hoch politisierte Diskursräume, die von den Autoritäten schwer zu kontrollieren waren. Während die Geschichte Zanzibars vor allem durch die Linse von Klassenzugehörigkeit und Ethnizität geschrieben wurde, zeigt Laura Fair, wie sich ökonomische Verhältnisse in der Kultur niedergeschlagen haben und wie das Spiel mit ethnischen Kategorien zu einem kreativen, wenn auch tragischen Wettrennen wurde, dem anti-Schwarzen Rassismus zu entkommen. Die Tatsache, dass eine Person im Laufe ihres Lebens oder sogar zur gleichen Zeit, wenn auch zu unterschiedlichen Anlässen, ‚afrikanisch‘ und ‚arabisch‘ sein konnte, sollte vor der unkritischen Übernahme ethnischer Kategorien aus Kolonialarchiven in die Geschichtsschreibung bedacht werden. Sonst läuft die Forschung Gefahr, historische und soziale Prozesse zu naturalisieren und zu de-historisieren. Des Weiteren zeigt sich, dass politische Diskurse nicht nur von Kolonialadministration und Eliten, sondern ebenso im Sinne einer „‘Geschichte von unten‘ von ehemaligen Sklav_innen, von Frauen oder Landlosen initiiert und geprägt werden können – Menschen, deren Leben und Wirken sich nicht unter ‚feministische Geschichte‘, ‚Geschichte der Sklaverei‘ oder ‚Alltagsgeschichte‘ subsumieren lässt, sondern ganzheitlich verstanden werden muss. Die Geschichtsschreibung bewegt sich dabei in einem Spannungsfeld zwischen der Kolonialität von Archiven und der Herausforderung, Oral History als bereits erfolgte Interpretation der Geschichte trotzdem anzuerkennen und beide im Rahmen historischer Fragestellungen miteinander in Beziehung zu setzen.
1 Alle Zitate, hier und im restlichen Text aus: Laura Fair: Pastimes & Politics. Culture, Community, and Identity in Post-Abolition Zanzibar, 1890-1945, 2001.