| von Kristina N. Ders |
Wer sich aus einer linken, kritischen Perspektive mit der DDR beschäftigt, sollte ein besonderes Augenmerk darauf legen, keine vorschnellen affirmativen oder aversiven Urteile zu fällen. Die Biographieforschung kann unter anderem ein Mittel sein, welche sich mit der Kritik des Antisemitismus aber auch des Antikommunismus in der DDR-Aufarbeitung befasst.
Ein Amalgam — so bezeichnet man das Ergebnis dessen, wenn zwei Stoffe sich verbinden, ineinander aufgehen, verschmelzen: Etwas Neues entsteht. Im Gegensatz zum Amalgamieren in der Chemie, wonach sich zwei Stoffe in der Regel wieder voneinander trennen lassen, ist der Prozess in den Gesellschaftswissenschaften ungleich mühseliger. In Bezug auf die bundesdeutsche Aufarbeitung der DDR lässt sich die Analogie darauf anwenden, wie Momente der Kritik des Antisemitismus mit Elementen antikommunistischer Weltanschauung amalgamiert sind. Wie es zu diesem historischen Prozess kam, und welche Konsequenzen er bis heute — unter anderem auch an der Humboldt Universität zu Berlin — aufweist, soll folgend aufgezeigt werden.
Dabei soll keineswegs der Versuch einer „Ehrenrettung“ der DDR unternommen werden. Genauso wenig wird behauptet, in der DDR hätte es keinen Antisemitismus gegeben. Es wird für eine Aufarbeitung der Geschichte der DDR plädiert, die nicht vom Beginn der Erzählung an das Ziel ihrer Delegitimation verfolgt. Aus linker Perspektive kann wenig daran gelegen sein, die Lebensleistung jener, die nach Flucht, Vertreibung, Exil und Lagerhaft sich dazu entschlossen, nach Deutschland zurückzukehren und einen neuen Staat mit gerechteren Lebensbedingungen aufzubauen, herabzuwürdigen und sie zu naiven Gläubigern des Kommunismus zu erklären. Stattdessen sollten wir uns fragen, warum sie so fest davon überzeugt waren, sich selbst in einer historischen Situation zu befinden, in der der Aufbau dieses anderen Staates möglich ist.
Die bundesdeutsche Aufarbeitung ist getragen von verschiedenen Säulen. An dieser Stelle stellen sich zwei als besonders betrachtenswert heraus: Eine besteht wesentlich daraus, ihren Gründungsmoment, den Antifaschismus, zum Mythos zu erklären. Eine andere versucht, eine antisemitische Kontinuität zu behaupten. Beide sind eng miteinander verknüpft.
Bereits 1992 gründete der deutsche Bundestag eine Enquete-Kommission1, die sich der „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“ verpflichtet sah. Auf diese Kommission folgte eine zweite, die schließlich in die Bundesstiftung Aufarbeitung überführt wurde. Diese arbeitete daran, die SED „in das kommunistische Machtgefüge und die Geschichte des Kommunismus [einzubetten], denn es hat ja auch in der Weimarer Republik eine Kommunistische Partei in Deutschland gegeben, die ihren ganz eigenen Beitrag zum Untergang der Weimarer Demokratie geleistet hat“2. Es offenbart sich der Versuch, den Gründer_innen der DDR, die oftmals eben Mitglied in der KPD der Weimarer Republik waren, eine historische Mitschuld am Dritten Reich zuzusprechen und so die DDR in eine direkte Kontinuität zu stellen.
Wird über die ehemalige DDR gesprochen, ob nun im öffentlichen oder akademischen Diskurs, so geht es zumeist um ihr Scheitern, das ebenso häufig als unvermeidlich vorausgesetzt wird. Als die DDR 1949 auf den Trümmern des nationalsozialistischen Deutschland gegründet wurde — ausgerufen von der sowjetischen Siegermacht und aus dem Exil, aus dem Lager oder Versteck Zurückgekehrten, die den Glauben an die Veränderbarkeit ihrer alten Peiniger nicht verloren hatten — war dieses Scheitern allerdings nicht in Stein gemeißelt.
Das Wissen um das Scheitern des Sozialismus muss also weder Erzählung noch Forschung zwangsläufig zugrunde gelegt werden. Stattdessen kann es lohnenswert sein, die Geschichte der DDR von vorne zu erzählen und ihr Ende eben bis zum Ende offen zu halten, um den jeweiligen Handlungen der in ihr partizipierenden Personen gerecht zu werden. Als Beispiel dafür soll Wolfgang Heise besprochen werden, welcher an späterer Stelle durch seine Biographie und sein Wirken genau diesen Ansatz bestätigt.
Viele der Zurückgekehrten vertraten die feste Überzeugung, die Deutschen, die in der überwältigenden Mehrheit Hitler gestützt hatten, durch beispielsweise Bildung zur Abkehr von nationalsozialistischen Gedankengut bewegen zu können. So erklären sich auch die massiven Subventionierungen, die der Staat der Kulturarbeit, aber auch den Universitäten zukommen ließ. Natürlich musste diese Kulturarbeit, genauso wie die wissenschaftliche, sich in den Schmalspuren der Marxismusauslegung der SED bewegen und war in dem Sinne nicht frei. Die Behauptung, man hätte einen antifaschistischen Konsens einfach vorausgesetzt und den Deutschen dann übergestülpt, lässt sich allerdings historisch nicht beweisen.3 Erklärt man den zentralen Baustein der DDR von vornherein zum Mythos, der nie handlungsweisend war, negiert man das eigentliche Fundament des Staates und bereitet den Weg für eine Geschichte, die nach eigener Interpretation nie erfolgreich hätte ausgehen können.
Hier zeigen sich Parallelen zum Kulturkampf von Rechts, den wir gerade beobachten können. Das Scheitern der DDR wird nicht auch im Kontext ihrer letztendlichen Unterlegenheit unter den ökonomischen Zwängen betrachtet, sondern man postuliert die eigene Überlegenheit, indem man sich ihrer angeblich unterlegenen kulturellen Beschaffenheit annimmt.
In der DDR gab es nie eine Stunde 0 zur Staatsgründung, mit der der Antisemitismus den Menschen ausgetrieben worden wäre. Deswegen lässt sich auch nicht behaupten, in der DDR hätte es keinen Antisemitismus gegeben. Die Rückkehrer_innen waren sich dieser Situation schmerzlich bewusst4. Die Behauptung einer antisemitischen Kontinuität geht aber über das Verbleiben von nationalsozialistischer Ideologie in den Köpfen der neuen DDR-Bürger_innen hinaus. Sie zieht eine Kontinuität zwischen dem NS und DDR, und untermauert durch verschiedene historische Zerrbilder. Häufig benannt werden die osteuropäischen Schauprozesse, die Hierarchisierung der Verfolgten des NS in „Opfer“ und „Kämpfer“, die Weigerung der SED, arisiertes Eigentum seinen ursprünglichen Besitzer_innen zurück zu übereignen und das Verhältnis der SED zu Israel.
Eine differenzierte Perspektive auf die DDR ist nur möglich, indem man sich mit diesen Geschehnissen auseinandersetzt. Dass sie Anlass bieten, eine antisemitische Kontinuität zwischen NS und DDR herzustellen, ist nach eingängiger Betrachtung zu verwerfen. Besonders sticht in diesem Kontext die Aussage des Historikers Michael Wolffson hervor, die DDR sei „praktisch ‚judenrein‘ (gewesen). Hitlers Wille war hier weitgehend Wirklichkeit…“ 5. Wie Herzberg eindrücklich aufzeigt, ist diese Behauptung schlichtweg nicht richtig. Einige Hundert Menschen jüdischer Herkunft, die gegen die Nazis kämpften, vor ihnen fliehen mussten oder von ihnen eingesperrt wurden, kehrten aus Überzeugung in die DDR zurück und ersetzten dort „die weitgehend NS-belastete Intelligenzschicht in entscheidenden politischen und geistig-kulturellen Lebensbereichen“ 6. Viele von ihnen gerieten, als Anspruch und Wirklichkeit in der DDR zu stark auseinander zu klaffen begannen, aufgrund ihrer dadurch entstandenen Kritik an der SED in Konflikt mit ihr und erfuhren staatliche Repression. 7
Ebenjene sind es, die vom Amalgam der Kritik des Antisemitismus–Antikommunismus nach der Wiedervereinigung immer wieder unsichtbar gemacht worden sind und weiterhin werden. Sie sind zwar jüdischer Herkunft, wenn sie auch im Regelfall, aufgrund von bürgerlicher Assimilation vor den Weltkriegen oder spätestens der Hinwendung zum Marxismus zwischen den Kriegen, kaum mehr jüdische Praxis betreiben. Sie sind aber auch überzeugte Marxist_innen und schwören dem Marxismus selbst dann nicht ab, wenn sie wie Ernst Bloch aufgrund ideologischer Differenzen die DDR sogar verlassen. Das Kontrastdenken des Amalgams Kritik des Antisemitismus–Antikommunismus kann und will sie nicht erfassen.
Für die Humboldt-Universität ist schließlich Wolfgang Heise zu nennen. Er wurde 1925 als Sohn einer jüdischen Mutter und eines preußischen Vaters in Berlin geboren. Die Gräuel der Nazizeit erlebte er als im damaligen Jargon sogenannter “Halbjude” am eigenen Leibe. Nach dem Abitur wurde er nach Zerbst deportiert, um Zwangsarbeit zu leisten. Die Folter der Nazis trug er bis zu seinem Lebensende nicht nur psychisch, sondern auch physisch mit sich. Sie führte mutmaßlich zu seinem frühen Tod im April 1987. Nach dem Sieg der Alliierten trat er der KPD bei und machte sich auf den Weg einer akademischen Karriere. Dieser führte ihn auf den Lehrstuhl für Philosophiegeschichte, welcher jedoch bald darauf unterbrochen wurde: Er stellte sich öffentlich gegen den kulturellen Kahlschlag des 11. Plenums des ZK8, zeigte sich solidarisch mit seinen Schülern, wie beispielsweise Wolf Biermann und Rudolf Bahro. Seinen Professorenposten musste
er daraufhin räumen.
Unter seinen Schüler_innen ist er bis heute unvergessen, im wissenschaftlichen Diskurs und an seiner Wirkungsstätte spielt er allerdings keine Rolle mehr. Mit den akademischen Umstrukturierungen der Neunziger Jahre ist das intellektuelle Erbe des marxistischen Wissenschaftlers in vollkommene Vergessenheit geraten. Symptomatisch dafür ist die einführende Vorlesungsreihe der “Berliner Kulturwissenschaft”, in der sich auf zahlreiche wissenschaftlich revolutionäre Personen und Texte bezogen wird, die zwischen 1900 und 1933 im Umfeld der Berliner Universität entstanden. Das Institut für Kulturwissenschaft entstand jedoch mit seinen Rechtsvorgängern erst Anfang der sechziger Jahre in Ostberlin. Analog dazu wird heute allerdings in Bezug auf die Anfänge der “Berliner Schule der Kulturwissenschaft” auf Friedrich Kittler verwiesen, der im Zuge der Wiedervereinigung an seinen Berliner Lehrstuhl gelangte.
Die tatsächliche Entstehungsgeschichte des Instituts ist eng verknüpft mit der Lehrtätigkeit Wolfgang Heises, der die Kulturwissenschaft der DDR in stärkstem Maße prägte und nach dem erzwungenen Rückzug aus der Philosophie dort einen ordentlichen Lehrstuhl bekleidete.
Die Entwicklung eines differenzierten Verständnisses des historischen Versuchs DDR ist nur möglich, indem man sich mit den Biographien all jener auseinander setzt, die ähnliche Schicksale erfahren haben wie beispielsweise Wolfgang Heise. Sie eröffnen wichtige Möglichkeiten der Kritik am System, auch von innen, die uns sonst verschlossen bleiben. Man muss nicht die Meinung vertreten, die heutige deutsche Linke hätte die DDR beerbt, um zu erkennen, dass ein Lernen aus ihren Fehlern nicht nur möglich, sondern notwendig ist. Die häufig reflexhafte Abwehr demgegenüber zu hinterfragen, ist ein wichtiger Schritt für den Weg, sich frei zu machen vom eigenen Aufwachsen in den ideologischen Zwängen der Zeit nach dem Mauerfall.
1 „Enquete-Kommissionen (französisch „enquete“: Befragung, Untersuchung) bereiten Entscheidungen zu umfangreichen und bedeutenden Themen vor. Auf Antrag eines Viertels seiner Mitglieder ist der Bundestag verpflichtet, eine Enquete-Kommission einzusetzen. Die Mitglieder der Enquetekommission werden im Einvernehmen der Bundestagsfraktionen benannt.“
www.bundestag.de/services/glossar/glossar/E/enquete-444734
2 Seitz, Norbert: Der SED-Diktatur droht das Vergessen.
https://www.deutschlandfunk.de/ddr-geschichte-der-sed-diktatur-drohtdas-vergessen-100.html (2017)
3 Selbst wenn sich die Situation so zugetragen hätte, erscheint die moralische Angefasstheit davon dennoch wenig sinnvoll. Hätten die Deutschen, die sich nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes trotzdem nicht von ihm abwenden und weiterhin menschenfeindlich sein wollten, es nicht verdient gehabt, dafür verfolgt und verurteilt zu werden? Hier zeigt sich, wie Antikommunismus dazu führt, denjenigen, die im sozialistischen Staat weiterhin ihrer antisemitischen und rassistischen Ausfälle fröhnen wollten, unter dem Deckmantel der Meinungsfreiheit das Recht dafür zusprechen zu wollen. Die Frage, wem da Solidarität zu- und wem abgesprochen wird, sollte sich gestellt werden.
4 Jüdisches Museum Berlin: Ein anderes Land – Jüdisch Leben in der DDR. Neuland-Audios aus der Ausstellung.
www.jmberlin.de/ausstellungsaudios#lightbox-73579 (2023)
5 Herzberg, Wolfgang: Jüdische Überlebende, NS-Täter, und Antisemitismus in der DDR.
www.bpb.de/themen/deutschlandarchiv/324697/juedischeueberlebende-ns-taeter-und-antisemitismus-in-der-ddr/ (2020)
6 Ebd.
7 Es erscheint sinnvoll zu betonen, dass die Repression nicht erfolgte, weil sie jüdisch waren, sondern weil sie sich gegen die Partei stellten.
8 Im Dezember 1965 fand das elfte Plenum des Zentralkomitees statt, angesetzt um die wirtschaftliche Entwicklung der DDR zu debattieren. Es geriet unter Walter Ulbrichts Federführung zum kulturellen Kahlschlagsplenum. Die kulturellen Entwicklungen der vorausgegangenen kurzen Periode der Liberalisierung wurden harscher Kritik unterzogen, vornehmlich um von der desaströsen wirtschaftlichen Lage und dem Scheitern des Neuen Ökonomischen Systems abzulenken.