| Barış Yazarsu |
Um zu verstehen, wie Rassismus in unserer Gesellschaft funktioniert, ist eine Analyse der kapitalistischen Verhältnisse unerlässlich. Dabei kann es im Kampf gegen Rassismus nicht bei einem alleinig identitätspolitischen Kurs in der Linken bleiben: Es braucht einen konsequenten, marxistischen Antirassismus.
Rassismus ist fester Bestandteil der bürgerlichen Gesellschaft und kann als struktureller Teil ihres ökonomischen Systems beschrieben werden. So ist zum Beispiel heute viel die Rede vom faulen und bösen Migranten, der die Löhne in den Keller treibt, die Sozialkassen plündert und die Arbeitsplätze wegnimmt, sowie von der Mär der „Islamisierung“ und „der Umvolkung durch das Merkelregime im Auftrag von Soros“ – Eine Verschwörungstheorie, die seit 2015 von der Rechten propagiert wurde.
Rassismus ist in allen bürgerlichen Staaten und in all seinen Institutionen fest verankert als eine der Säulen der Macht. Er gibt dem ausgebeuteten Menschen das Gefühl, etwas Besseres zu sein – und der herrschenden Klasse einen Sündenbock. Er ist der Sündenbock für die Entfremdung und Ausbeutung der Menschen. Zugleich beraubt er die arbeitende Klasse um ihre revolutionäre Kraft. Die Faschisten im Dritten Reich konnten so zum Beispiel die Köpfe der Menschen mit dem Märchen vom „slawischen Untermenschen“ vergiften, oder mit dem Mär vom „ehrenvollen arischen Kapitalisten“, der gegen das „böse Finanzjudentum“ kämpft. Wie der Antisemitismus ist er eine Ideologie, die die herrschende Klasse stützt.
Die Geschichte des Rassismus – der ökonomische Zusammenhang
Frei nach Marx gilt es wie so oft festzustellen: Die Geschichte der Menschheit ist die Geschichte des Klassenkampfs. Das bedeutet, dass die gesellschaftlichen Widersprüche, denen wir uns ausgesetzt sehen, durch den Klassenantagonismus, also vom Interessengegensatz zwischen herrschender Klasse und unterdrückter Klasse, maßgeblich bestimmt werden. Dass der Klassengegensatz in der bürgerlichen, also kapitalistischen Gesellschaft eine extrem rassistische Komponente hat, ist kein Zufall, sondern eine Notwendigkeit, um das kapitalistische System zu stabilisieren. Die rassistischen Unterteilungen, die wir in unserer heutigen Gesellschaft kennen, sind explizit ein Charakteristikum des Kapitalismus und erst mit ihm entstanden.
In antiken wie feudalen Gesellschaften existierte Rassismus als Weltanschauung nicht. So war es im antiken Rom absolut normal, dass die Mitglieder unterworfener Kulturen, ungeachtet ihrer ethnischen Herkunft, in die römische Gesellschaft integriert wurden und mit dem Erwerb des Bürgerrechts auch hohe Machtpositionen erreichen konnten. Auch das Ägypten der Bronzezeit integrierte die Mitglieder anderer Ethnien nahtlos in ihre Gesellschaft. Selbst der Posten des Pharaos war davon nicht ausgenommen. Im Feudalismus war lediglich die Religionszugehörigkeit und die Königstreue bzw. die Treue gegenüber dem Lehnsherren relevant.
Mit dem Aufkommen des Bürgertums und dem langsamen Absterben des Feudalismus enstand auch der Rassismus. Es ist kein Zufall, dass mit dem Aufstieg des britischen Imperiums und der Kolonialisierung der heutigen USA auch die Sklaverei begann: Es benötigte eine ideologische Grundlage, mit der Kolonialisierung, Kriege, Ausbeutung und Gewalt rechtfertigt werden konnten. Das Christentum verbot schließlich die Versklavung von Christ_innen und forderte die menschliche Behandlung von nicht-christlichen Sklav_innen (die de facto im Feudalismus nicht existent waren). Darüber hinaus war die Bekehrung nicht-christlicher Sklaven verpflichtend. Dies hatte natürlich zur Folge, dass man die versklavte Person mit dem Übertritt zum Christentum freilassen musste, was aus kapitalistischer Sicht ein nicht tragbarer finanzieller Schaden ist.
Hinzu kam ein weiteres moralisches Dilemma. Überall siegten die bürgerlichen Revolutionen, der Feudalismus in seiner absolutistischen Form war nahezu besiegt, und es wehte das Motto der Revolutionen („Freiheit, Brüderlichkeit, Gleichheit“) von den Dächern. Nun war das Bürgertum von der unterdrückten Klasse zur herrschenden Klasse geworden und hatte sich mit den Überresten des Feudalismus verbündet. Wie sollte man also trotz der Ideale der Aufklärung und des Humanismus all diese Grausamkeiten und die Ausbeutung rechtfertigen?
Es bedurfte also einer neuen Ideologie, die Menschen anderer Ethnien nicht nur entmenschlicht, sondern sie nicht einmal mehr als Mensch wahrnimmt. Mit dieser ideologischen Basis schafften es die aufstrebenden nationalen Bourgeoisien (die jeweiligen nationalen herrschenden Klassen), allen voran die britische, ihre brutalen Raubzüge durch die gesamte Welt und ihren Rassismus als „Akt der Menschlichkeit“ zu verkaufen. Den angeblichen „wilden, unzivilisierten Untermenschen“ wurde damit die weiße und vermeintlich überlegene Zivilisation gebracht. Marx stellte fest, dass die Sklaverei auf dem amerikanischen Kontinent sogar als das wesentliche Element der ursprünglichen Akkumulation des Kapitals zu werten ist, also als die (gewaltsame) Loslösung des Produzierenden von seinen Produktionsmitteln. Er legte zudem dar, dass es die Sklaven waren, die den Kolonien überhaupt ihren Wert in der Form gaben. Ihre Arbeit auf den Plantagen und in den Minen Amerikas und das Ausbluten der anderen Kolonien war die ökonomische Grundlage für die Industrialisierung Europas war, da die Ressourcen, die für die Industrialisierung sowie die Fertigungsprozesse nötig waren, aus den Kolonien kamen. Sklaverei und Rassismus ermöglichten dem Kapitalismus überhaupt erst seinen ausbeuterischen Siegeszug.
Eine ähnliche Situation erleben wir heute: Der westliche Imperialismus zwingt die ressourcenreichen Länder, ihre Ressourcen zu Spottpreisen an die Konzerne zu verkaufen. Wenn sich eine Regierung dem verweigert oder es wagt, die für die Kapitalisten relevanten Ressourcenvorkommen zu verstaatlichen, wird sie entweder unter einen beliebigen Vorwand angegriffen, oder es wird ein rechter Putsch inszeniert. Daraufhin installiert man ein Marionettenregime, das die politischen Interessen der imperialistischen Mächte durchsetzt. Sie wird zu einer Art der modernen Kompradorenbourgeoisie. Diese ist eine Form der Bourgeoisie, deren Aufgabe es ist, die immer rassistisch geprägte koloniale Ausbeutung im Inneren sicherzustellen. Als Lohn darf sie sich an der Ausbeutung bereichern. Durch sie findet lediglich eine Akkumulation von Reichtum, nicht aber von Macht und Produktionsmitteln statt, da sie sonst in direkte Konkurrenz mit den imperialistischen Bourgeoisien treten würde. Auch heute bilden die Sklaverei oder Ausbeutungsverhältnisse, die an Sklaverei grenzen, die ökonomische Grundlage des kapitalistischen Systems. Aktuell gibt es 50 Millionen Menschen, die man im Wortsinne als Sklaven bezeichnen kann. Letzteres ist etwas schwerer zu erfassen. Als Richtwert für massive und sklavereiähnliche Ausbeutung kann man sich aber die globalen Armutszahlen anschauen und die Länder, die am schlimmsten betroffen sind. Insgesamt leben 3,4 Milliarden Menschen von unter 5,50 $ am Tag. Von diesen 3,4 Milliarden Menschen leben wiederum 736 Millionen Menschen von unter 1,90 $ pro Tag (Stand 2015). Die Länder, die heute noch von massiver Armut gebeutelt sind, sind jene Länder, die damals schon kolonialisiert wurden und heute noch durch wirtschaftlichen und militärischen Druck der ehemaligen Kolonialmächte in Abhängigkeit gehalten werden. Am schlimmsten betroffen ist der afrikanische Kontinent. Dort liegt die Armutsquote bei fast allen Ländern über 80% und unter diesen wiederum, bei erschreckend vielen, bei einer Quote von über 90%.
Ignorieren oder Degradierung der Klassenfrage
Identitätspolitische Rassismuskritik, die behauptet, dass die Klassenzugehörigkeit eines Menschen geringe oder keine Relevanz für seinen gesellschaftlichen Werdegang hat, bietet dabei keine Antwort auf gesellschaftliche Probleme. Sie degradiert den Antagonismus zwischen den Klassen als Hauptfaktor, spielt also seine Wichtigkeit herunter oder negiert diesen komplett. Dazu betrachtet sie Diskriminierungsformen wie Rassismus, Antisemitismus, Frauenfeindlichkeit, Sexismus, Homo- und Transfeindlichkeit losgelöst vom gesamtgesellschaftlichen Kontext und als isolierte Phänomene: So wollen oder können sie keinen Zusammenhang zum herrschenden System herstellen. Daraus resultiert, dass der Kapitalismus als Ursache für diese Diskriminierungen nicht mehr wahrgenommen wird und es lediglich diese „isolierten Phänomene“ zu bekämpfen gilt. Und schon würden wir in einer gerechten Gesellschaft leben.
Wir stellen also fest: Es würde nach wie vor eine ungerechte Gesellschaft bleiben, in der der Mensch nach wie vor auf den Wert, den er für die herrschende Klasse hat, reduziert wird, nur eben ohne kulturelle Identifikationsmerkmale. Dies ist auch der Grund, warum solche Identitätspolitik auf nahezu keinen Widerstand aus der Wirtschaft stößt und politisch lediglich auf Widerstand aus dem konservativen und rechts(-radikalen) Lager trifft. Sie ist unmarxistisch und stellt keine Bedrohung für die gesellschaftlichen Bedingungen dar. Während die Rechten und Konservativen diesen Weg aufgrund ihres Herrenmenschengehabes ablehnen, und eher auf faschistische Hetze und die rohe Gewalt der Staatsmacht vertrauen, haben die Liberalen die zersetzende Kraft der Identitätspolitik erkannt. Mit ihr kann man wunderbar Appeasementpolitik, also Beschwichtigungspolitik, betreiben. Man macht den Menschen kleine Zugeständnisse, die nichts an den Strukturen ändern und deren antidiskriminierender Wert rein plakativ ist.
Die Zementierung des Grabes im Sinne der bestehenden Verhältnisse
Es wird kaum darüber geredet, was linksliberale Identitätspolitik im Grunde eigentlich aussagt: nämlich, dass die ethnische, kulturelle und/oder religiöse Identität das Wichtigste sei. Und hier sollte man hellhörig werden. Denn es handelt sich hierbei um ideologische Ansätze, die man aus dem rassistischen und faschistischen Milieu kennt. Und das ist kein Zufall. Da reine Identitätspolitik nicht in der Lage ist, die gesellschaftlichen Widersprüche zu lösen, ist sie umso mehr dafür geeignet, alte Gräben zu zementieren und neue zu graben. Das wird von politischem Akteur_innen genutzt: Die Menschen werden von diesen Leuten aktiv weg vom Klassenkampf geführt und ihnen wird eingeredet, sich mit denen zusammenzutun, zu denen sie „naturgemäß“ gehören würden.
Hier darf natürlich nicht vergessen werden, dass die Bewahrung der eigenen Kulturen gegen die Zerstörung durch Assimilation oder profitbedingte Aneignung durch den Kapitalismus keine Form der „Zementierung des Grabens“ ist. Insgesamt kann man sich lediglich zwei Sachen der Identitätspolitik zu Nutze machen, wenn man dies denn richtig tut: Zum Einen gilt das für die kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Stellung sowie mit der Stellung unterdrückter Gruppen in der Gesellschaft und was dies bedingt. Zum anderen profitieren wir von der ständigen und aktiven Auseinandersetzung mit den eigenen „-Ismen“, die uns von der Gesellschaft aufoktroyiert wurden und die es zu bekämpfen gilt.
Privileg oder Unterdrückung – Wie falsche Begriffe ein falsches Bild suggerieren
Der Nutzung des Begriffes „Privileg“, um auf rassistische Unterdrückung hinzuweisen, ist in doppelter Hinsicht irreführend. Dass PoC in der Gesellschaft Rassismus erfahren, indem sie von der Polizei drangsaliert werden, oder, dass sie auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt schlechtere Chancen haben, ist kein versagtes Privileg. Die gesellschaftliche Behandlung, die weiße Menschen – oder besser gesagt, weiße cis Männer – erfahren, obwohl sie nach identitätspolitischer Logik den gesellschaftlichen Jackpot gezogen haben, ist das eigentliche gesellschaftliche Soll. Das bedeutet, dass wir die fehlende Erfahrung von rassistischer Gewalt nicht als Privilegien bezeichnen, sondern als aktive Unterdrückung benennen sollten. Denn wir reden hier von einem gesellschaftlichen Recht, das vermeintlich für alle gelten soll. Somit wird kein Privileg verwehrt, sondern gewaltsam unterdrückt.
Der zweite Punkt ist, dass das Wort „Privileg“ suggeriert, weiße Arbeiter_innen würden eigentlich von rassistischer Unterdrückung profitieren. Doch es wird nicht nur suggeriert, es wird von den Verteidiger_innen der Identitätspolitik sogar behauptet, dass alle Weißen vom Rassismus profitieren würden. Der Rassismus der Gesellschaft sorgt jedoch nicht dafür, dass alle weißen Arbeiter_innen besser bezahlt werden oder andere wirtschaftliche Vorteile genießen. Ganz im Gegenteil: Durch die rassistische Politik des Staates und die rassistische Struktur der Gesellschaft können Kapitalist_innen Lohndumping betreiben und die Schuld dafür sogar noch auf Migrant_innen abwälzen. Dass weiße Arbeiter_innen angeblich besser bezahlt werden, weil PoC schlechter verdienen, ist ein Fehlschluss, der sich aus dem ersten Punkt herleitet. Zu kritisieren ist nicht, dass Weiße „fairer“ ausgebeutet werden, sondern Ausbeutung und Unterdrückung an sich. Kapitalist_innen können hier den Rassismus noch vielfältiger nutzen, um einen Keil in die Bevölkerung zu treiben. Dabei ist es der Rassismus, der die Emanzipation der arbeitenden Klasse überhaupt erst verhindert. Er beraubt sie ihrer Solidarität und hetzt sie gegeneinander auf.
Folgt man weiter der identitätspolitischen Logik, wären Personen des öffentlichen Lebens wie Oprah Winfrey, die ihr eigenes bürgerliches Propagandaimperium aufgebaut hat, oder Beyoncé, die rund um den Globus tausende Menschen unter sklavereiähnlichen Bedingungen für sich arbeiten lässt, in der Unterdrückungspyramide auf derselben Stufe wie die Näher_innen und Arbeiter_innen in ihren Sweatshops. Auch hier muss wieder einmal klar und deutlich gesagt werden: Der Hauptwiderspruch liegt in den Besitzverhältnissen. Die gesellschaftliche Trennlinie verläuft zwischen Oben und Unten. Und alle, die diese Tatsache verwischen oder negieren, dienen dem Machterhalt der herrschenden Klassen, nicht der Vereinigung der arbeitenden Klasse. Genau diesen Schritt sollten sie jedoch nicht fürchten, denn sie „[…] haben nichts zu verlieren außer ihre Ketten.“1Nein, „[s]ie haben eine Welt zu gewinnen.“2
1 S. 77, Karl Marx, Friedrich Engels: „Manifest der kommunistischen Partei“, Druck und Verlag in der VR China, 1965
2 Ebd.