| von Sanni Herrmann |
Der Weg zur Barrierefreiheit in unserer Gesellschaft ist noch weit: das zeigt ein Blick auf Barrieren im Bildungssystem und die Versuche der Umsetzung von Barrierefreiheit an der Humboldt Universität.
Die ersten Assoziationen zu Räumen sind bei den meisten wahrscheinlich Zimmer in Häusern. Ein Großteil des akademischen Alltags spielt sich in Räumen wie Seminar- oder Büroräumen ab. Aber nicht alle diese Räume sind für alle Menschen gleichermaßen zugänglich. Die gesellschaftliche Teilhabe ist begrenzt und nur denen garantiert, die es schaffen, in bestimmte Räume reinzukommen.
Das Reinkommen in Räume wird also oft durch gesellschaftliche Barrieren verhindert, unabhängig davon, ob es das In-den-Club-Reinkommen oder das In-die-Uni-Reinkommen ist.
Der gesellschaftliche körperliche Standard, der sich an Menschen ohne Behinderungen orientiert, erschwert so vielen den Zugang zum Klassenraum, Seminarraum, Verwaltungsraum und zahllosen weiteren Räumen. Dabei geht es zunächst rein um die bauliche Barrierefreiheit. Die meisten Gebäude haben keinen Aufzug, kein Blindenleitsystem, keine ebenerdigen Schwellen, keine für alle verständliche oder lesbare Raumbeschilderung und keinen Platz, um mit einem E-Rollstuhl zu wenden.
Die gesetzlichen Vorschriften dazu sind auch eher dürftig, denn es geht häufig nur um barrierearmes anstatt um barrierefreies Bauen. Aber zumindest gibt es DIN-Standards, an denen sich Barrierefreiheit misst. Die Deutsche Industrienorm 18040 regelt die bauliche Barrierefreiheit und bezieht dabei tatsächlich auch viele verschiedene Behinderungen mit ein. Sie plädiert beispielsweise für das sogenannte Zwei-Sinne-Prinzip[1] – das jedoch von Architekt_innen aus ästhetischen Gründen gerne vernachlässigt oder wegen vorgeschobenem Denkmalschutz häufig fallengelassen wird.
Die Ambivalenz der Barrierefreiheit
Barrierefreiheit ist insgesamt ein vielschichtiges und kein widerspruchsfreies Konzept. Während die meisten Menschen bei dem Begriff wohl an sichtbare Behinderungen und Rollstühle denken, steht weitaus mehr dahinter: viele Behinderungen sind unsichtbar. Und das Schaffen von Barrierefreiheit kann Widersprüche hervorbringen. Beispielsweise sind hohe Kontraste bei Bodenfarben zwischen verschiedenen Stationen im Krankenhaus oder Ansagen an automatischen Türen, die für Menschen mit Sehbehinderung eingerichtet werden, für Autist_innen oder Menschen mit Konzentrationsschwäche oft ablenkend. Inklusion ist ein Prozess, der einerseits viele Veränderungen fordert, und andererseits mit Kompromissen einhergeht, ganz nach dem Motto: „Gut gemeint ist nicht immer gut gemacht.”
Viele Schritte hin zu Barrierefreiheit sind außerdem nicht nur für Menschen mit einer anerkannten Behinderung hilfreich, sondern auch für andere Personengruppen hilfreich: zum Beispiel ältere Menschen oder Personen, die mit Kinderwagen unterwegs sind.
Barrierefreiheit erschließt Zugänge zu Räumen: Wenn man sich jedoch an der Universität umschaut, sind wenige Räume für alle gut zugänglich. Daraus resultiert langfristig auch ein reduzierter und schlechterer Zugang zu Bildung. Schaut man sich an den Instituten oder dem Hauptgebäude in der HU um, muss man sich fragen: Wie oft sind die Aufzüge kaputt? Wie viele Treppen gibt es? Wie gut oder schlecht sind die Räume ausgeschildert? Gibt es Untertitel für Online-Vorlesungen und gibt es Dolmetscher_innen für Präsenzveranstaltungen? Funktionieren die Türöffner? Glaubt ihr, wenn ihr ein gebrochenes Bein habt, kommt ihr überall ohne Probleme hin?[2] Oder sind euch schon einmal die taktilen Bodenindikatoren in der Mensa Süd aufgefallen? Dieses Bodenleitsystem für Blinde und Sehbeeinträchtigte ist grundsätzlich ein guter Anfang, um Barrieren abzubauen, aber die Bodenindikatoren sind bestimmt zu einem Drittel beschädigt. Es fehlen Noppen, es fehlen Leisten, es fehlen Aufmerksamkeitsfelder.
Auch der Zugang zur Mensa hat etwas mit dem Zugang zu wissenschaftlicher Bildung zu tun, denn ein wichtiger Aspekt des Studiums sind soziale Kontakte, was bedeutet, dass eine bauliche Barriere zu einer sozialen werden kann. Insbesondere zu Stoßzeiten ist es als Mensch mit allen körperlichen Fähigkeiten schon schwer, sich durch die Mensa zu bewegen und sich gegenseitig zu verstehen. Doch das ist in der Debatte rund um Barrierefreiheit eigentlich nur ein Tropfen Wasser auf dem heißen Stein. Andere Nicht-Zugänge sind noch viel weitreichender als der Zugang zur Mensa. Der Zugang zu einem akademischen Bildungsweg steht sowieso nicht allen offen, insbesondere für Menschen mit Behinderung ist dieser Zugang erschwert. Als Mensch mit Behinderung ist man auf Förderung angewiesen und um ehrlich zu sein, auch auf viele tolle engagierte Fachkräfte, die an die Überwindung von Hürden im System glauben.
Behinderungen, insbesondere sichtbare, gehen mit starker Stigmatisierung einher. Die Stigmata rund um Behinderung sind eine Last auf dem Weg zur Hochschulbildung. Auch ‚positive‘ Vorurteile wie das der Hochbegabung, welches Menschen auf dem Autismus-Spektrum oft angehängt wird, ist definitiv kein Garant für eine bessere Bildung bzw. besseren Zugang zu Bildungsräumen. Denn gerade im Fall von Autismus wird häufig von einer sogenannten Inselbegabung und einer sozialen Inkompatibilität ausgegangen, sodass ein verzerrtes Bild von fleißigen, wissbegierigen Lernenden geschaffen wird – andere relevante Fähigkeiten aber abgesprochen werden. In der Realität ist also für viele Menschen mit Behinderung der Bildungsweg voller Hürden
Schon vor dem Kindergarten gibt es für Menschen mit Behinderung extra Förderungen, damit sie solange es geht mit den anderen Kindern ‚mithalten’ können. Spätestens mit dem Übertritt ins Schulalter geht es für die meisten dann in die Förderschule, also einen abgegrenzten Raum. Inklusive Schulkonzepte sind weiterhin in der Minderheit, trotz der UN-Behindertenrechtskonvention, die sich aktiv gegen das Förderschulsystem in Deutschland ausspricht. Von der Förderschule geht es weiterhin für viele Betroffene in Richtung Werkstatt, unterstützte Beschäftigung oder in andere lustige, segregierende und ausbeutende Systeme. Der Weg über das Gymnasium und hin zur Hochschule ist eher die Ausnahme. 17,1% der 25-45 Jährigen mit anerkannter Schwerbehinderung haben Abitur, dagegen stehen 37,7% der Nicht-Behinderten.[3]
Was tun?
Wie genau können die physischen Zugänge und Bildungschancen verbessert werden? Ein wundersames all-in-one-Lösungspaket gibt es wie immer natürlich nicht, insbesondere nicht in der kapitalistisch-segregierenden Gesellschaft. Aber es gibt einige Ansätze, um dem allem entgegenzuwirken. Inklusive Schulpraktiken werden im Index für Inklusion in der deutschen Fassung von Ines Boban und Andreas Hinz festgehalten[4]. Der Index ist ein Werkzeug für Schulen, um eine inklusive Schulkultur zu entwickeln. Jede Schule kann mit dem Index prüfen, an welchen Stellen sie Verbesserungsbedarf hat und entsprechende Schritte einleiten. Auch für Hochschulen gibt es verschiedene Ansätze, um neben der baulichen Barrierefreiheit auch die Werte und Kultur der Uni inklusiver zu gestalten. Einen Überblick zur aktuellen Situation gibt eine Studie des sächsischen Staatsministeriums[5]: sie untersucht die Barrierefreiheit der sächsischen Hochschulen, sowohl baulich als auch beispielsweise kommunikativ. Es werden best-practice Beispiele gesammelt, an denen sich die Hochschulen untereinander orientieren können und es gibt einen Gesprächsleitfaden, um auf inklusive Praktiken an der Hochschule aufmerksam zu machen.
Eine weitere Möglichkeit, um Barrierefreiheit zu erlangen, ist der Weg des sogenannten Universal Designs. Dabei ist der Anspruch, alles so zu gestalten, dass auch alle es nutzen können. Baulich betrachtet gäbe es also statt Treppe und Rampe entweder nur eine Rampe oder einen ebenerdigen Eingang mit automatischer Tür. Des Weiteren geht es um intuitive und flexible Nutzung: Apple hat beispielsweise mit dem iPhone ein Gerät auf den Markt gebracht, welches möglichst intuitiv und flexibel sein sollte und damit fast schon ‚aus Versehen‘ ein sehr zugängliches Gerät und Betriebssystem erschaffen. Im Universal Design werden aber nicht nur konkrete Produkte angesprochen, sondern auch Konzepte. In der Schule könnten Lehrkräfte Aufgaben für Schüler_innen so gestalten, dass diese für die ganze Klasse optimal zugänglich sind. Man könnte Aufgaben in Einzel-, Paar-, oder Gruppenarbeit bearbeiten, sodass jede_r das für sich passende Format wählen kann. Die Aufgabe könnte verschiedene Schwierigkeitsstufen haben, sodass alle optimal gefordert und gefördert werden. Außerdem könnte es einerseits Unterstützung in Form von Lehrvideos oder Texten oder durch die Lehrkraft selbst geben.
Ein letzter wirklich wichtiger Punkt ist die Partizipation von Schüler_innen bzw. Studierenden an der Gestaltung von Unterricht als Weg zu inklusiver Bildungspraxis nennen. Denn nur wer mitbestimmen kann, fühlt sich ernst genommen. Und wer mitbestimmt, trägt selbst Verantwortung. Insbesondere in der Schule erlernt man, wie Gesellschaftsstrukturen funktionieren und man sollte dabei in Zukunft auch lernen, dass die eigene Stimme eine Auswirkung hat – sei es bei der Lektüreauswahl oder beim Aufzeigen von Diskriminierung. Fehlende Mitbestimmung mündet in Unzufriedenheit. Diese Unzufriedenheit können wir unteranderen auf deutschen und französischen Straßen in Form von Streiks beobachten und es könnte nur eine Frage der Zeit sein, bis die Behindertenbewegung erneut ein ähnliches hohes Maß an Unzufriedenheit artikuliert (wie in der Krüppelbewegung in den 80er Jahren[6]).
[1]Nach diesem Prinzip werden mindestens zwei der drei Sinne Hören, Sehen und Tasten bedient. Alarmsysteme müssen beispielsweise sichtbar und hörbar sein.
[2]Zum Vergleich hier aktuelle Infos der Uni: https://www.rehadat-statistik.de/statistiken/bildung/schule/schulabschluesse-von-menschen-mit-behinderung/ [Letzter Zugriff: 13.04.2023]
[3](Zugriff 10.04.23) https://www.rehadat-statistik.de/statistiken/bildung/schule/schulabschluesse-von-menschen-mit-behinderung/#:~:text=Abitur%20 hatten%2017%2C1%20%25%20der,4%20%25%20 hatten%20 Abitur%20 oder%20 Fachhochschulreife.
[4] Boban, Ines (Hrsg.); Hinz, Andreas (Hrsg.). Index für Inklusion. Lernen und Teilhabe in der Schule der Vielfalt entwickeln. Halle-Wittenberg: Martin-Luther-Universität, 2003
[5]Sächsisches Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst: Auf dem Weg zur inklusiven Hochschule, Dresden, 2017.
[6] https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/284894/50-behindertenbewegte-jahre-in-deutschland/