Die Grenzen der Intersektionalität HUch #97

| Jordan Rant |

Theoretische Beschäftigung mit Machtverhältnissen ist unerlässlich, um eine Veränderung der Verhältnisse herbeizuführen. Jedoch braucht es dafür einen kritischen Blick auf die Sinnhaftigkeit und Grenzen von aktuellen Konzepten.

In den letzten Jahren tauchte ein prominenter Begriff immer häufiger innerhalb des linken Diskurses auf. Ob in Selbstbeschreibungen von Dating-Profilen, auf Insta-Share-Pics oder auch gerne als Schlagwort in Redebeiträgen auf Demonstrationen — gemeint ist dabei kein anderes Konzept als das der Intersektionalität. Mittlerweile ist es kaum mehr möglich, sich in links(-liberalen) Kreisen zu bewegen, ohne darüber zu stolpern. Besonders gern wird „intersektional“ als Adjektiv verwendet, um die eigene feministische Positionierung näher zu definieren. Wie sinnvoll diese (inflationäre) Verwendung ist, und was genau
das Konzept der Intersektionalität nun alles einbeziehen soll, ist sicherlich streitbar.

In der Regel wird die Schöpfung des Begriffs der Juristin Kimberlé W. Crenshaw zugeschrieben. 1989 benannte diese Intersektionalität während eines Vortrags zur Diskriminierung Schwarzer Frauen am Arbeitsplatz erstmals als solche. Der Begriff ist aus ihrer Metapher von intersektionaler Diskriminierung durch die Darstellung als Autounfall an einer Straßenkreuzung (intersection) entstanden. Nach einem Unfall ist dort nicht immer klar, wer ihn verursacht hat: Ebendies, so Crenshaw, passiere bei intersektionaler Diskriminierung, wodurch sie sich von „einfacher“ Mehrfachdiskriminierung unterscheide. Die verschiedenen Machtverhältnisse addieren sich also nicht lediglich, sondern sind untrennbar miteinander verwoben. Aufgrund dessen erfahren Schwarze Frauen Sexismus, beziehungsweise Rassismus anders als weiße Frauen, beziehungsweise Schwarze Männer.

Crenshaw knüpft damit an die Tradition des Schwarzen Feminismus an. Bereits Sojourner Truth benannte ihre Erfahrungen als ehemalige Sklavin und Schwarze Frau bei der Women’s Rights Convention 1851 in den USA als eine Kritik am weißen Feminismus, der von der Universalität der Erfahrungen weißer Frauen ausgeht. Mit besonderer analytischer Schärfe lieferte auch das Combahee River Collective ein Statement darüber, wie die Identität der Gruppenmitglieder als Schwarzer Frauen politisch einzuordnen ist.

Die Benennung der intersektionalen Wirkweise von Rassismus und Sexismus wurde also nicht von Crenshaw entdeckt, sie gibt uns aber einen neuen Begriff zur Analyse an die Hand. Nun war aber nicht Schluss mit Crenshaw: Intersektionalität gewann im Laufe der Jahre zunehmend an Popularität, bis schließlich ein regelrechter „Intersektionalitäts-Boom“ erfolgte. Durch die langsamen Mühlen der Universitäten in die restlichen Interessenbereiche eines links(-liberalen) Publikums übergeschwappt, ist Intersektionalität als Konzept aus linken Diskussionen nicht mehr wegzudenken.

Foto: Maximilian Schaaf

Dass der Begriff sich hält, und für viele Leute eine erste Grundlage zur Differenzierung der eigenen feministischen Positionierung darstellt, mag alleine nicht als großes Problem erscheinen. Dennoch zieht die Verwendung des Begriffes aber zahlreiche potentielle Probleme mit sich. Abgesehen davon, wie sinnvoll es ist, wenn weiße Studierende einen halben Text an intersektionaler Theorie für eine Vorlesung lesen, um sich nun als anti-rassistische Allies zu inszenieren, ist eine schlüssige Anwendung des Begriffs vor allem in Hinblick auf grundlegende Theoriearbeit zu analysieren.

In der Regel beinhaltet intersektionale Theorie leider — nicht nur, aber eben auch — eine riesige Leerstelle bezüglich Antisemitismus. Die Entwicklung des Begriffs und seiner Theorie ist einem US-amerikanischen, rechtswissenschaftlichen Kontext zuzuordnen: Wenn dieser nun sang- und klanglos in die deutschen Sozialwissenschaften übertragen wird, treten diverse Probleme auf. Zum Einen wäre da der Unterschied zwischen Entstehungsund Anwendungsdisziplin: So erfordert eine juristische Argumentation eine andere Grundlage als eine sozialwissenschaftliche. Der Fokus muss von Problemen einzelner Personen und ihrer individuellen Diskriminierungserfahrung auf die Gesamtgesellschaft übertragen werden. Allerdings wird dabei Klasse in intersektionalen Theorien (wenn sie als Analysefaktor miteinbezogen wird) lediglich in Form von Klassismus, und somit als bloße Erscheinung der Diskriminierung — und nicht als grundlegende ökonomischen Ursache — , verhandelt. Damit wird Klasse als Kategorie zum Identitätsmerkmal, anstatt dass diese als den Kapitalismus gesamtgesellschaftlich strukturierende Form anerkannt wird.

Infolgedessen begegnet einem von links(-liberaler) Seite oft als Voraussetzung zur Diskussion eine lange Liste möglicher Privilegien, die doch bitte „gecheckt“ werden sollten. Dass dies dem Individuum helfen kann, sich über die eigene Position in der Gesellschaft gewiss zu werden, mag sehr gut sein. Jedoch führt ein solch individualisiertes Reflektieren, welche Machtverhältnisse es gäbe, und ob oder inwiefern man alleine von diesen betroffen sei, mitnichten eine Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse herbei. Es kommt darauf an zu verstehen, wie diese wirken, wie sie historisch gewachsen sind, und vor allem, was diese Verhältnisse bedingt — insbesondere dann, wenn wir über Antisemitismus sprechen.

So wurde in der Antisemitismusforschung bereits festgestellt, dass es sich bei Antisemit_innen eben nicht um lediglich falsch informierte Personen handelt, sondern diese in ihren Ansichten und durch ihr Verhalten eine komplexe, verschwörungstheoretische Ideologie reproduzieren. Wird diese Ideologie mit Fakten konfrontiert, dann werden diese in verschwörungstheoretischer Manier entweder in ihre Ideologie eingearbeitet oder rigoros angefochten, um am Antisemitismus festhalten zu können. Die Vorstellung eines einfachen falschen Bewusstseins funktioniert hier also nicht.

Darüber hinaus existieren die USA in einem bestimmten historischen Kontext, welcher sich von der deutschen Geschichte unmissverständlich unterscheidet. Im Land der tausend versuchten Schlussstriche steht bis heute eine angemessene Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit, insbesondere der Shoa, aus: Gerade in Deutschland sollte deswegen ein besonderes Augenmerk auf Antisemitismus gelegt werden. Dies
funktioniert nicht, wenn die wenig durchdachte Argumentation hervorgeholt wird, dass Antisemitismus bloß eine Form von Rassismus, und deswegen in der Kritik der intersektionalen Theorie mitinbegriffen sei. Neben einem falschen Geschichtsverständnis beinhaltet dieser Gedanke eine entscheidende theoretische Schwäche: So funktionieren Rassismus und Antisemitismus als unterschiedliche Ideologien, wie der Historiker und Philosoph Moishe Postone bereits präzise herausgearbeitet hat.

Er unterscheidet Rassismus und Antisemitismus als Ideologien anhand der Art der Macht, welche den jeweils Betroffenen zugeschrieben wird1. So wird Juden_Jüdinnen eine Form der nicht konkreten Übermacht zugeschrieben. Sie werden von Antisemit_innen als überlegen imaginiert, während rassifizierten Personen (trotz oder eben aufgrund) der eigenen Machtzuschreibung der Rassist_innen als unterlegen konstruiert werden. Dabei beruft Postone sich auf die Form des modernen Antisemitismus, welche zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt in Erscheinung getreten ist — nämlich im Zuge der Entwicklung zum Kapitalismus. Analog dazu lässt sich die Zuschreibung einer nicht fassbaren, abstrakten und universalen Macht gegen- über jüdischen Personen nach Postone mit der Marx’schen Analyse des Warenfetischs erklären. An diesem Punkt wird erneut die gesellschaftsstrukturierende Funktion von Klasse im Kapitalismus sowie ihre Verwobenheit mit Ideologien, wie der antisemitischen, deutlich.

Der Warenfetisch beschreibt u.a. die Beziehung zwischen Menschen und Waren, welche im Kapitalismus und der ihm zugrunde liegenden Entfremdung eine zentrale Rolle spielt. Die Herstellung von Waren ist bedingt durch Arbeiter_innen, welche diese produzieren: Durch technischen wie gesellschaftlichen Fortschritt findet im historischen Prozess dieser Herstellung nun zunehmend Arbeitsteilung statt — eine notwendige Bedingung für die Entfremdung im Arbeits- und Produktionsprozess. Wenn nun etwa ein Tisch hergestellt wird, dann hat er zum Einen seinen reinen Gebrauchswert als Tisch. Jedoch bleibt es nicht dabei: Um den Austausch von Waren zu ermöglichen, wird Produkten wie dem Tisch ein Tauschwert zugeschrieben, welcher seinen Wert auf dem Markt diktiert. Dieser Wert erscheint den Menschen in einer kapitalistischen Gesellschaft schließlich als naturwüchsig, also so, als sei er eine dem Produkt auf natürliche Weise zugrunde liegende Eigenschaft. Eben hierin liegt der ideologische Faktor des Fetischcharakters begründet — nicht nur darin, dass den Gegenständen ein Tauschwert zugeschrieben wird, sondern, dass dieser als „natürlich“ verstanden wird, und damit die eigentlichen gesellschaftlichen Beziehungen und ihren warenförmigen Charakter verschleiert.

Postone macht es als wichtigen Aspekt des Fetisches aus, „[…]daß kapitalistische gesellschaftliche Beziehungen nicht als solche in Erscheinung treten und sich zudem antinomisch, als Gegensatz von Abstraktem und Konkreten, darstellen“ 2. Hieran wird ersichtlich, was Marx und Engels bereits 1845/1846 in der deutschen Ideologie3 feststellten: Nämlich, dass der Fetischcharakter der Ware auch auf menschliche Beziehungen übertragbar ist. Dies erscheint den Menschen wieder als naturgegeben, wodurch der Kapitalismus vor allem als abstraktes Phänomen wahrgenommen wird.

Kommt es nun zur (berechtigten) Wut und Kritik an den kapitalistischen Verhältnissen, enden sie aufgrund dieses ideologischen Verständnisses kapitalistischer Beziehungen als „Abstraktes“ oft in einer verkürzten Antikapitalismuskritik — und dadurch häufig in Formen des modernen Antisemitismus: „Der ‚antikapitalistische‘ Angriff bleibt jedoch nicht bei der Attacke auf das Abstrakte als Abstraktem stehen. Selbst die abstrakte Seite erscheint vergegenständlicht. Auf der Ebene des Kapitalfetisch wird nicht nur die konkrete Seite naturalisiert und biologisiert, sondern auch die erscheinende abstrakte Seite, die nun in Gestalt des Juden wahrgenommen wird. So wird der Gegensatz von stofflich Konkretem und Abstraktem zum rassischen Gegensatz von Arier und Jude. Der moderne Antisemitismus besteht in der Biologisierung des Kapitalismus — der selbst nur unter der Form des erscheinenden Abstrakten verstanden wird — als internationalem Judentum.“ 4

Postone erklärt weiter, dass es sich keineswegs um einen Zufall handelt, dass Juden_Jüdinnen zur Zielscheibe des modernen Antisemitismus bzw. verkürzten Antikapitalismus wurden, sondern dies historisch bedingt ist. Ein Blick in die europäische Geschichte verdeutlicht diesen Umstand: „Die Nation war nicht nur eine politische Entität, sie war auch konkret, durch eine gemeinsame Sprache, Geschichte, Traditionen und Religion bestimmt. In diesem Sinne erfüllten Juden nach ihrer politischen Emanzipation als einzige Gruppe in Europa die Bestimmung von Staatsbürgerschaft als rein politischer Abstraktion.“ 5 Wenn wir uns nun im Bereich der Geschichte bewegen, dann sollte auf ein weiteres Ereignis verwiesen werden, welches auf das Alleinstellungsmerkmal des Antisemitismus hindeutet — nämlich die Shoa. Nach Postone war es der „absolute Vernichtungscharakter“, der diese auszeichnet. Wird rassifizierten Personen in rassistischen Ideologien zumeist eine untergeordnete Existenz zugeschrieben, so zielte der Nationalsozialismus und Antisemitismus auf die vollständige Auslöschung alles jüdischen Lebens.

Es zeigt sich somit, dass die Kritik am Antisemitismus in seiner spezifisch ideologischen Form miteinbezogen werden muss. Gleichwohl sind die zu Beginn geäußerten Kritikpunkte an der Handhabung von Intersektionalität damit nicht automatisch beantwortet. Aufgrund der vorgebrachten Kritik das ganze Konzept der Intersektionalität zu verwerfen, welche auf eine erste Sichtbarmachung der sich gegenseitig durchdringenden Diskriminierungsformen abzielt, ist hierbei allerdings keine Lösung. Es gilt anzuerkennen, dass es sich um eine wichtige Idee des Schwarzen Feminismus handelt. Die Problematik dieser Idee zeigt sich aber in der gedankenlosen Übertragung auf deutsche Kontexte und dem ausschließlichen Fokus auf Identitätsmerkmale.

Als Antwort darauf braucht es ein geschichtsbewusstes Arbeiten, welches die Unterschiede und Gemeinsamkeiten verschiedener Diskriminierungsformen herausstellen kann, während es dabei einen stärkeren Fokus auf Ideologien in gesellschaftlichen Verhältnissen legt. Wie eine solche Arbeit aussehen kann, zeigt die Soziologin Karin Stögner: Sie arbeitet seit Jahren zu einem ideologiekritischen Verständnis von Intersektionalität, deren besonderer Fokus auf der Beziehung zwischen Antisemitismus und Sexismus liegt. Denn die antisemitische Ideologie ist nach Stögner in vielerlei Hinsicht auch auf Sexismus anwendbar. Gerade zu einer Kritik an dieser können intersektionale Theorien einen wichtigen Beitrag leisten. Allerdings ist dabei anzumerken, dass Stögners Texte keineswegs voraussetzungslos sind. Wer sich bislang nicht oder nur wenig mit Kritischer Theorie beschäftigt hat, wird schnell ins Straucheln geraten.

Damit taucht ein weiteres Problem im Umgang mit Intersektionalität auf. Das Konzept verspricht mit dem Fokus auf Identitäten schnelle Lösungen im Umgang mit Diskriminierung. Die bereits erwähnten „Privilegien-Checks“ und Ähnliches sind schnell (ab-)getan — es braucht keine langwierige Auseinandersetzung mit eigentlicher Theorie um festzustellen, welche Privilegien jemand „besitzt“. Und natürlich erscheint eine schnelle Lösung zunächst angenehmer, als stunden-, tage-, oder letztendlich jahrelang Bücher zu lesen, um schlussendlich zu verstehen, wie Unterdrückungsmechanismen in einer kapitalistischen Gesellschaft funktionieren.

Es ist dennoch darauf hinzuweisen, dass die angenehmeste Lösung vielleicht nicht diejenige ist, die zu einer tatsächlichen, positiven Veränderung der Gesellschaft führen wird. Gerade dann, wenn wir Ideologien wie Antisemitismus, sowohl alleinstehend wie auch in Verschränkung mit anderen Machtverhältnissen ernsthaft etwas entgegensetzen wollen, braucht es die zwar ermüdende, letztendlich aber lohnenswerte Theoriearbeit — um gänzlich zu verstehen, woran wir eigentlich Kritik üben, und was gegen die herrschenden Verhältnisse getan werden kann.

1 In links(-liberalen) Kontexten werden jüdische Personen nun oftmals als weiß imaginiert werden. Dies zeugt von einem verkürzten Identitätsverständnis, zumal es sowohl Juden_Jüdinnen of Color als auch Schwarze Juden_Jüdinnen gibt. Diese können nicht nur sowohl von Antisemitismus als auch Rassismus betroffen sein, sondern werden zugleich noch mit einem Ausschluss aus links(-liberalen) Kreisen konfrontiert.

2 Postone, Moishe (2005): Deutschland, die Linke und der Holocaust. Politische Interventionen. Freiburg: ca ira, S. 184.

3 Karl Marx/Friedrich Engels: Die deutsche Ideologie, in: Marx-Engels-Werke. Bd. 3, Berlin 1990.

4 Ebd.: 189.

5 Ebd.: 191