| Tessa Kolberg |
BASIEREND AUF „ERINNERUNG EINES MÄDCHENS“
VON ANNIE ERNAUX
„Ist sie ich, oder bin ich sie?“
In dem Theaterstück „Erinnerung eines Mädchens“ an der Schaubühne, basierend auf dem gleichnamigen Roman der Nobelpreisträgerin Annie Ernaux, verschwimmen die Linien zwischen Vergangenheit und Gegenwart, Erinnerung und Realität, Begehren und Scham
TW: sexualisierte Gewalt
Mit 17 besucht die junge Annie Duchesne ein französisches Sommerferienlager und stürzt sich dort in das ersehnte Nachtleben des Camps, wobei sie auf der Suche nach Erfahrungen ein Verhältnis mit dem Chefbetreuer H eingeht, welches ihr weiteres Leben, ihr Selbstbild und ihre Beziehung zu Sex tief prägt. „Ihr Verlangen nach ihm, danach, dass er ihren Körper beherrscht, entfremdet sie von jedem Gefühl der Würde“, schreibt die erwachsene Annie Ernaux über ihr jüngeres Ich.
Aber warum ist das so?
Gemeinsam mit der Regisseurin Sarah Kohm und der Dramaturgin Elisa Leroy beschäftigt sich Veronika Bachfischer als Annie Ernaux auf der Bühne in einem beeindruckenden, eineinhalbstündigen Monolog mit genau dieser Frage.
EIN INTERVIEW MIT SARAH KOHM, VERONIKA BACHFISCHER UND ELISA LEROY — GEFÜHRT VON TESSA KOLBERG:
Tessa Kolberg: Wie ist die Idee für „Erinnerung eines Mädchens“ entstanden und wie habt ihr drei dabei zueinander gefunden?
Sarah Kohm: Tatsächlich habe ich „Erinnerung eines Mädchens“, ganz ohne Hintergedanken, Veronika zum Geburtstag geschenkt. (Lachen) Wir haben uns alle an der Schaubühne kennengelernt, Elisa und ich auch noch bei einem feministischen Lesekreis außerhalb. Eigentlich hatten wir einen anderen Stoff geplant, der dann aber Corona zum Opfer gefallen ist. Wir hatten schon zwei Bühnenfassungen gemacht, bereits eine Probenwoche hinter uns und nachdem die Produktion coronabedingt mehrfach verschoben werden musste, hatten wir den eindeutigen Impuls, uns einem neuen Stoff zuzuwenden. Dabei beschäftigte sich unser ursprüngliches Projekt auch mit dem Thema „Begehren“, jedoch aus einer ganz anderen Perspektive. Mit der Entscheidung für Annie Ernaux blieben wir also bei dem Sujet „weibliches Begehren“ und der Loslösung vom sogenannten Male-Gaze, also einem männlichen, sexualisierenden Blick.
Veronika Bachfischer: Wir hatten uns quer durch den feministischen Diskurs gelesen, wobei es eine neue Generation von Frauen Mitte dreißig gab, die, so wie wir, neu über ihre Biografien nachdenken. Dann hatten wir gleichzeitig die Idee – an das Telefonat kann ich mich noch gut erinnern —, dass wir Annie Ernaux auf die Bühne bringen und mit eigenen Texten ergänzen.
TK: Inwiefern gab es für euch während der Vorbereitungszeit und der Recherche neue Erkenntnisse für die Stückentwicklung?
VB: Eines der Bücher, die für mich ganz wesentlich waren, ist „Vergewaltigung“ von Mithu M. Sanyal, welches Vergewaltigungen als soziologisches Phänomen untersucht. Dort hinterfragt sie unter anderem eine der Grundannahmen über Vergewaltigung — nämlich, dass diese ein unumkehrbares Ereignis im Leben einer Frau ist, wonach nichts mehr so sein kann, wie vorher, worüber sie nicht hinwegkommen kann. Sanyal fragt in ihrem Buch, welche soziologischen Implikationen für diese Grundannahmen nötig sind und zeigt auf, dass einige davon bereits patriarchale Interpretationen sind, die objektiv nicht zwangsläufig wahr sein müssen.
Elisa Leroy: In so eine ähnliche Richtung ging bei mir das Leseerlebnis von „King Kong Theorie“ von Virginie Despentes. Die Verbindung mit Annie Ernaux ist für mich, dass ein Gefühl von Begehren und Macht gleichzeitig mit dieser Unterwerfung unter den Blick des anderen existieren kann. Wegen dieser Sozialisation, die Begehren mit Macht verknüpft, ist — so im Fall von Annie — die Vergewaltigung selbst nicht unbedingt von Anfang an als Opfer erlebt worden. Und ebenso hat nach dem Ereignis der Vergewaltigung ein Mensch, der davon uneingeschränkt Opfer geworden ist und keinerlei Verantwortung dafür trägt, auch noch eine andere Dimension, hat immer noch eine Sexualität und ein Begehren. So ist auch Annie Duchesne keine passive Person in der Situation, die Annie Ernaux zu erinnern versucht.
VB: Unter einigen anderen ist der Opfer-Text ganz am Ende des Stückes von mir: „Ich beanspruche den Begriff ,Opfer‘ absolut für mich. Weil das bedeutet, dass mir etwas getan wurde, dass ich daran keine Schuld trage.“ Diese Stelle ist mir sehr wichtig. Vergewaltigung ist ein gewalttätiger Akt, für den die Verantwortung nicht geteilt werden kann, sie liegt immer und ganz und gar bei der vergewaltigenden Person. Dafür muss die vergewaltigte Person nicht um sich schlagen und aus vollem Leibe schreien, auch subtilere Zeichen des Unwohlseins können und müssen vom Gegenüber ernst genommen werden. Opfer zu sein bedeutet für mich aber nicht lebenslange Passivität, sondern dass mir in dem Augenblick eine Gewalt angetan worden ist. Vergewaltigung ist oft assoziiert mit ‚Ich laufe durch den dunklen Park, ein Mann springt hinterm Busch hervor, ich schreie bis zum Ende aber bin halt körperlich unterlegen.‘ Die Gewalt kann aber schon viel früher anfangen und kann auch internalisiert sein. Annie Duchesne ist eine junge Frau, die Lust hat – Lust auf das Leben und Lust auf Männer. Alles, was sie über Sex weiß, stammt aus einem Buchzitat: „An der Schwelle der Hochzeitsnacht steht ein Engel“. Dadurch, dass sie keinen Abgleich hat, kann sie nicht begreifen, dass das, was ihr passiert, nicht cool ist. Die patriarchale Gewalt ist schon so in ihr verankert, dass sie die Situation nicht mehr richtig beurteilen kann.
SK: Dazu, dass es diese Erfahrung, aber kein Referenzsystem gibt, auf welches sich die junge Annie hätte beziehen können, würde ich auch noch das Buch „Wie wir begehren“ von Carolin Emcke nennen. Dort geht es um die Grenzen des eigenen Begehrens und von der eigenen sexuellen Sozialisierung, welche in patriarchalen Gesellschaften durch den Male-Gaze geprägt sind. Dies führt dazu, dass man nicht einordnen kann, was einem Schlimmes widerfährt. Was kann denn dann aber weibliches Begehren, losgelöst von diesen ganzen patriarchalen Strukturen, sein? Darauf habe ich bis heute keine Antwort. Obwohl ich mich jahrelang mit diesen Diskursen beschäftige, ertappe ich mich immer noch dabei, wie ich mich in meinem Liebesleben, Arbeitsleben und in dem Verhältnis zu meinem Körper dem Male-Gaze unterwerfe. Dieses Paradoxon, in dem man lebt, bildet der Text so gut ab. Es ist ein großes Anliegen von unserem Abend, diese Gleichzeitigkeit auszuloten.
TK: In dem Buch fragt Ernaux und ihr habt es im Stück übernommen: „Bin ich sie oder ist sie ich?“ Es ist ihr Anliegen, das Erlebnis und diese Charaktere, also das ‚Sie‘ von damals und das ‚Ich‘ von heute, zu dekonstruieren. In einem Monolog zwischen verschiedenen Charakteren und verschiedenen Ebenen des gleichen Charakters zu differenzieren, ist nicht einfach. Dann kommen noch eigene Texte dazu. Wie habt ihr das umgesetzt?
VB: Im Buch nähert sich Ernaux ihrem jüngeren Ich an und wir konnten das super auf die Bühnensituation übertragen. Ich nähere mich dieser anderen Rolle an, dieser anderen Frau. Gleichzeitig wird mitverhandelt, ob das eine kollektive weibliche Erfahrung ist. Ist meine Geschichte die gleiche, wie die von Annie Ernaux? Machen wir alle die gleiche Erfahrung? Ja. Das war für uns gefundenes Fressen für die Bühnenfassung, weil wir es zwar leicht in einen anderen Kontext versetzt haben, aber die Worte die gleichen sind.
TK: Welche theatralen Zeichen, Kostüm, Bühnensprache, etc. waren dabei besonders wichtig?
SK: Für uns war für das ganze Gewand der Produktion eine Zeitlosigkeit wichtig. Es war nicht das Ziel, einen Raum zu erzählen, der nur 1958 oder 2021 existiert. Das Gleiche gilt für das Kostüm. Deshalb haben wir einen Raum konzipiert, der sich mit dem Text verbinden lässt, aber gleichzeitig abstrakt bleibt.
VK: Die Spiegelwände, mit denen ich auf der Bühne arbeite, sind, finde ich, ein wahnsinnig kluges Mittel, um viele Räume zu bauen und auch damit das Publikum sich selbst sehen kann. Ich bin dadurch nicht alleine. Ich habe immer mich, kann immer mit mir reden. Gleichzeitig bin ich dadurch immer von hinten und von jeder Seite für jeden sichtbar und super ausgestellt.
TK: Das sprichst du am Anfang auch an, wenn du die vierte Wand brichst, also das Publikum einbeziehst und adressierst: „Ihr Blickt schweift zu meinen Beinen.“
VB: Genau! Diese Ebene haben wir drin, weil das Theater oft ein Brennglas für das, was in der Gesellschaft passiert, ist. So wie der weibliche Körper eben immer in scharfer Beobachtung von uns selbst und von anderen Personen ist, so wird dieser Vorgang auf der Bühne nochmal verschärft.
TK: Was bedeutet dieser Moment für dich persönlich?
VB: Ich komme natürlich nicht aus dieser Situation raus. Es bleibt so, dass alle meinen Körper beurteilen und ich auch. Aber die Beobachtung meines Körpers zumindest anzusprechen und dann so ein Nicken im Publikum zu sehen, das hat schon was. Zumindest ist es dann ehrlich.
EL: Es hat auch den wichtigen Effekt, dass das Publikum in die Verantwortung genommen wird. Der Theaterraum kann das immer so gut besprechen — was ist eigentlich die Rolle von denen, die zuschauen, was macht dieser Blick? Der ist keine reine Passivität, sondern erfordert eine Haltung. In Momenten, in denen das Publikum aufgefordert ist, mitzumachen, merken wir immer, wie stark Gemeinschaft uns beeinflusst. Ich finde immer wichtig, in jedem Stück klarzumachen: Ihr seid beteiligt. Zugucken ist auch etwas, das man macht, gerade bei diesem Thema. Wir alle wissen, dass ein Blick reicht, damit man sich in einer bestimmten Weise gelesen und vielleicht sogar bedroht fühlt.
SK: Ich finde dieses Brennglas-Bild schön, weil weiblich gelesene Körper anzugucken und zu bewerten, etwas ist, das so gut wie immer passiert. Darauf in dieser sehr konzentrierten Theatersituation aufmerksam zu machen, ist uns wichtig, um auch das Publikum zu anzuregen, den eigenen Blick zu hinterfragen.
TK: Inwiefern ließe sich die Produktion für euch in ein „davor“ und ein „danach“ unterteilen?
VB: Inhaltlich und auch für mich als Schauspielerin ist die Produktion ein wichtiger Moment gewesen. Es ist sehr ungewöhnlich in meiner Rolle als Schauspielerin, an der Stoffauswahl beteiligt zu sein. Normalerweise komme ich immer erst dazu, wenn der Prozess der Stofferarbeitung und der Ästhetik abgeschlossen sind und dann kriege ich meine Rolle und bearbeite sie. Aber durch die spezielle Entstehung dieses Stückes und unserer besonderen Konstellation konnte ich viel verantwortlicher mitarbeiten. Besonders ist auch, dass wir zunächst im Studio gespielt haben und wegen der guten Verkaufszahlen ins große Haus übernommen wurden. Das war eine sehr schöne Auszeichnung.
SK: Und auch, dass wir uns so gefunden haben. Das wird auf keinen Fall unser letztes Projekt gewesen sein. Das ist auch eine persönliche und berufliche Konsequenz aus dem Abend, dass es eine sehr intensive und schöne Zusammenarbeit war.
EL: Ich habe gemerkt, auch nachdem wir die Möglichkeit bekommen haben, das Stück weiter im Repertoire der Schaubühne zu spielen, wie groß die Verantwortung ist, bestimmten Themen Sichtbarkeit zu verleihen, bestimmte Menschen auf die Bühne zu stellen. Das zu entscheiden und zu beeinflussen, was für eine Auswirkung das hat, war für mich ein wahnsinniger Ermächtigungsmoment als jemand, der in einer Institution tätig ist, die Mittel, Geld, Räume und einen Spielplan hat. Immer wenn „Erinnerung eines Mädchens“ auf dem Spielplan steht und ich reingehe und sehe, dass sich immer wieder Leute das Stück angucken, habe ich das Gefühl, da ist etwas geschafft worden.
VB: Die Reaktionen der Zuschauer:innen sind so klar, ich spüre nach den ersten paar Sätzen, wie sich eine Stille in das Publikum legt. Es ist offensichtlich, dass das Thema gut ist, erzählt zu werden. Ich dachte, dass meine Generation die letzte ist, die diese Form von Erlebnis kennt. Doch schon auf den Proben wurde im Gespräch mit den Menschen Anfang zwanzig klar, dass diese Geschichte sich immer weiter fortsetzt und noch lange nicht überwunden ist. Deswegen finde ich es so wichtig, sie immer weiter zu erzählen. Ich habe den Eindruck, diese Produktion geht über die Bühne hinaus, sie bewegt etwas im Leben von Menschen. Das ist eine wunderbare und erfüllende Erfahrung. Ich glaube, so eine Produktion gibt es ca. alle zehn Jahre im Leben einer Schauspielerin.
TK: Inwiefern ist das Stück daher feministisch und was bedeutet das für euch?
VB: Ich kann für mich persönlich sagen, dass ich in erster Linie Humanistin bin und weil wir in einer patriarchalen Gesellschaft leben, bin ich dazu gezwungen, Feministin zu sein. Für mich ist das Stück insofern feministisch, als dass es die Geschichte einer Frau erzählt, und zwar aus der Perspektive einer Frau. Diese Geschichte ist bereits eine Million Mal erzählt worden und in Filmen an der entsprechenden Stelle abgeblendet worden. Annie Ernaux macht es klug, indem sie am Anfang ihres Buches die Geschichte einmal so erzählt, wie sie immer erzählt worden ist: Er war der Held, sie hat sich verliebt und vielleicht ein bisschen verloren. Punkt. Schweigen. Aber dieses Schweigen aufzumachen und die Dinge so zu benennen, wie sie sind — Diese Schonungslosigkeit und Ehrlichkeit ist für mich feministisch. Es ist allein schon ein feministischer Vorgang, dass ich da als Frau für eine Stunde und vierzig Minuten die Bühne kriege und dann hört der ganze Saal mir zu.
SK: Trotz dieser persönlichen Ebene des Textes, zeigt er ebenso schonungslos auf, wo die Rahmenbedingungen strukturell zu verorten sind, welche diese Erfahrung so möglich gemacht haben. Das ist das Politische an dem Abend. Dir, Veronika, diesen Raum zu geben und damit dem auf den deutschen Bühnen sehr ausgeprägten männlichen Protagonistentum etwas entgegenzusetzen, war zwar nicht unser primäres Anliegen, ist aber ein sehr schöner Nebeneffekt.
EL: Man muss immer wieder sagen, dass Feminismus kein Identitätsmerkmal ist. Das ist nichts, was man der eigenen Persönlichkeit hinzufügt. Feminismus ist eine politische Bewegung und auch eine theoretische, die versucht, etwas zu denken und zu verstehen und dann politisch zu handeln und die Verhältnisse zu verändern. Die Geschichte des Feminismus funktioniert nicht umsonst in Wellen, weil Feminismen sich fokussieren, weiter theoretisch ausgestalten und neu fokussieren müssen. Wir haben immer wieder die Verantwortung, zu gucken, wo ist die Ungleichberechtigung und wenn ich diese behandelt habe, wo ist die nächste? Wen schließt die Bewegung, die doch für alle Gleichbehandlung erreichen möchte, noch aus? Aber das ist kein Lifestyle und nichts, womit man sich schmückt. Das ist viel Arbeit.
Wir versuchen, das Erlebnis dieser einen Geschichte spürbar zu machen, mit allem, was dazu gehört. Aber es gibt natürlich noch eine Vielzahl von anderen Geschichten. Sarah hat Carolin Emcke angesprochen, welche mit ihrer queeren Perspektive viel zu diesem Thema beiträgt, denn es gibt noch einen stärker intersektionalen Feminismus als den von Annie Ernaux. Die Bühne kann — das liebe ich so an ihr — einen Ausschnitt wählen und diesen als Gegenstand eines Theaterstückes machen. Dann gibt es das nächste Projekt und irgendwann, in meiner Fantasie, existieren sie alle nebeneinander im Spielplan. Wenn man das klug macht, kann sich das Theater sehr interessant an diesem historischen Prozess beteiligen.
TK: Obwohl Annie in dem Camp bloßgestellt wird, ihre Briefe kursieren und ‚Nutte‘ an ihren Spiegel geschrieben wird, ist der erste Moment, in dem sie Scham empfindet, nach ihrer Zeit in der Kolonie, als sie Kant und Sartre liest. Annie Ernaux nennt es eine „weibliche“ Scham. Was macht ihre Scham weiblich?
EL: Das habe ich mich auch schon öfter gefragt. Man kann das entweder so lesen, dass es heißt, die Scham ist spezifisch weiblich, also nur Frauen schämen sich für so etwas. Diese Scham kommt nicht vor, ist nicht erlaubt und wird sanktioniert in dieser Philosophie. Sie entsteht daraus, dass Annie dann auch Verantwortung für das übernimmt, was ihr passiert. Die Scham entlastet auch ihr Gegenüber davon, dass er sich falsch verhalten hat. Etwas breiter gedacht, glaube ich immer, wenn ich diese Passage höre, sie schämt sich irgendwie auch dafür, dass sie dachte, ihre Perspektive hätte eine Wertigkeit. In diesen Büchern kommt diese Perspektive eben nicht vor, da geht es um etwas universal Menschliches. Ich habe diesen Moment sehr präsent, wo man dachte, man hat etwas einzubringen, aber es ist unwichtig, egal und wird belächelt. Das Großartige an der Erzählung von Annie Ernaux ist ja, dass man sieht, dass diese Scham durch dieses Ereignis überhaupt erst produziert wird. Wenn sie Simone de Beauvoir liest, kann sie auch einen völlig anderen Effekt haben.
VB: Ich denke auch, sie versteht den kategorischen Imperativ von Kant zu kurz. Sie wendet ihn nur auf sich und durch eine patriarchale Brille an: „Ich habe mich falsch verhalten, ich als Frau darf meine Lust nicht frei ausleben, das wäre ganz schlimm.“ Aber der kategorische Imperativ auf den Chefbetreuer H angewandt, müsste Empathie für das Gegenüber einschließen und so würde etwas sehr anderes herauskommen — dann müsste er sich schämen.
EL: ‚Man darf andere nicht als Mittel benutzen‘ — was ja genau die Beschreibung dessen ist, was ihr passiert.
TK: Annie Ernaux geht mit sich selbst hart ins Gericht. Sie schreibt, sie hätte in der Nacht gehen können und ist doch geblieben. Die Erfahrung hatte für sie auch etwas Dissoziierendes. Wie schafft man das, den Moment, der wiedererzählt wird, mitsamt der Reaktion auf diese Gewalt zu spielen?
VB: Es ist eine große Herausforderung. Ich habe jedes Mal Respekt davor, weil die Spielaufgabe ist: spiele, dass es Dich trifft und Du es nicht bemerkst. Es sind zwei Ebenen, die übereinander liegen und gleichzeitig gespielt werden müssen. Körperlich äußert sich diese völlige Überforderung zum Teil dadurch, dass ich komplett einfriere.
EL: Da kommt auch dieser Titel „Erinnerung“ mit rein. Ich weiß noch, wie wir darüber gesprochen haben, ob der Prozess, den du, Veronika, durchläufst, der Versuch sein könnte, sich an etwas zu erinnern, was man aber nicht wirklich bewusst erleben konnte. Das ist immer das Thema von Annie Ernaux – wie kann ich diese Dinge rekonstruieren, ohne sofort die Erzählung anzunehmen, die die Gesellschaft für mich davon vorgesehen hat? Ich finde es schön, dass wenn Veronika das spielt, wir diese Unmöglichkeit, sich das wirklich vorzustellen, miterleben.
TK: Ich glaube den Effekt, sich damit zu identifizieren, habt ihr bei vielen Menschen erreicht und genau das ist es, was Annie Ernaux damals nicht hatte – dass es ausgesprochen wurde und sie es dadurch besser hätte verstehen können. Es ist nicht die Erinnerung nur eines Mädchens, sondern fast jedes Mädchens.
VB: Ich denke, ein erster Schritt aus dieser Geschichte heraus ist, eine Sprache zu entwickeln und Wissen zu generieren. Wenn ich das Wort „Vaginismus“ gekannt hätte, wäre mein Leben anders verlaufen. Der Körper ist klug. Er reagiert auf gesunde Weise: hier kommt nichts rein. Wenn wir die Wörter haben, die Dinge klar benennen können, können wir verstehen, welche Phänomene dahinterstehen und Rückschlüsse ziehen auf das, was uns passiert ist. Wir haben keine Sprache für den Sex, den wir haben. Wir können nicht mit der gleichen Verständlichkeit Vulva sagen, wie wir Handgelenk sagen. Vielen Menschen ist der Unterschied zwischen Vagina und Vulva nicht klar. Wenn wir unsere Geschlechtsteile nicht mal richtig benennen können, wie sollen wir dann einen guten Umgang damit finden? Dabei ist einander anzufassen das Verletzlichste, Intimste, Komplizierteste und Schönste, das es gibt. Und es wird immer etwas Intimes bleiben. Ich erzähle auch nicht jedem über alle meine emotionalen Regungen. Es ist immer etwas, worüber ich entscheiden kann: Was möchte ich mit welcher Person teilen? Aber die Möglichkeit des Teilens überhaupt zu haben, darum geht es.
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