Von Vincent Sauer
Alexander Trocchis Junkie-Tagebuch Cain’s Book will Künstlerroman sein und verrät dabei vor allem etwas über Verbrauchertum, Karrierismus und die Ware.
Die Trennung zwischen Kunst und Leben ist Vielen ein Graus. Kompensatorisch richten sich diese Menschen darum gern inmitten von dem ein, was sie für Kunstwerke halten und versuchen selber ein bisschen eins zu sein. Den Situationisten, deren Druckerzeugnisse kürzlich in den Vitrinen des großen Betonzelts des HKW ausgestellt wurden, gefiel die Vorstellung auch nicht, sich den lieben langen Tag abzuschuften, um sich abends vor dem Fernseher, im Kino oder in der Galerie die Druckbetankung Ästhetik abzuholen, die die Tristesse des Daseins wiedergutmachen soll. Dagegen gingen sie an, entlarvten das Spektakel, als welches das Kapital laut Guy Debord erscheint, und forderten »Ne travaillez jamais!« – nie wieder arbeiten. Einer von ihnen war der in Schottland geborene Alexander Trocchi, der sich als Schriftsteller betätigte und die meiste Zeit seines Lebens an der Nadel hing.
1925 kommt er in Glasgow zur Welt. Mutter Schottin, Vater Italiener und arbeitsloser Musiker, der die meiste Zeit trinkt und die Familie piesackt. Trocchi ist kurz beim Militär, studiert dann tadellos Philosophie und Literatur, sodass er mit Stipendium ins Existentialisten-Paris der 50er kommt, um dort vorbildlich eine Literaturzeitschrift herauszugeben, in der u. a. Texte von Beckett, Sartre und Jean Genet erstmals in englischer Übersetzung erscheinen. Für den legendären Expat-Verlag Olympia Press schreibt er pornografische Romane, um sich etwas dazu zu verdienen. In diesen Jahren kommt er in Kontakt mit den Lettristen, einer buchstabenaffinen Vorgänger-Gruppe der Situationisten. Von 1960–64 ist er, nicht mehr in Paris ansässig, Mitglied der Situationistischen Internationale. 1963 erscheint in der achten Ausgabe der Internationale Situationniste sein maßgeblicher theoretischer Text A revolutionary Proposal – The Insurrection of a Million Minds, den man im Internet, das Trocchi wiederum mit seinem Project Sigma vor-imaginierte, nachlesen kann.
Sein wichtigstes literarisches Werk, um das es hier gehen soll, trägt den Titel Cain’s Book und wird 1960 veröffentlicht. Arbeitstitel: Notes toward the Making of a Monster. Trocchi nennt den Ich-Erzähler Joe Necchi, berichtet aber von niemand anderem als sich selbst, der als Junkie-Schriftsteller im New Yorker Hafen auf einem Kahn lebt. Das Buch soll nicht mehr sein als ein »provisorischer Deich« gegen das »Meer vieldeutiger Erfahrungen«, die er sein Leben lang angesammelt hat. Im Gespräch mit einer einbeinigen Frau mit drei Brustwarzen, die auf einem anderen Kahn lebt, formuliert er sein Programm:
»Ich erzählte ihr, was der Literatur am dringendsten not tue, nämlich, daß sie ein für allemal ihr Sterben vollende, daß es nicht darauf ankäme, daß Bücher nicht geschrieben würden, sondern darauf, daß ein Mann die Vorschriften aller vergangenen Formen in seiner eigenen Seele vernichtet, sich weigert, das, was er geschrieben habe, als Literatur zu betrachten, es vielmehr einzig und allein als sein Leben begreife und beurteile. Auf den Geist allein käme es an.«
Der Bruch mit betagten Konventionen und die Selbstsäuberung von bösen Einflüssen können schnell als billige Dekadenz abgeurteilt werden. Doch in Cain’s Book kommen Wahrheiten zur Darstellung, die der Intention des Autors womöglich entgingen. Nach dessen Erscheinen lebte Trocchi die meiste Zeit seines Lebens als Methadon-Patient und Familienvater in London und fantasierte ein letztes großes Werk – »gone soft on hard drugs«, wie ein schottischer Literat urteilte.
Da Autor, Erzähler und Protagonist identisch sein wollen, taumelt der Text auf abgründigste Weise zwischen einem verhinderten Abenteuer, künstlerischem Versuch und Lebenslegitimation. Necchis Kahn sticht für keine Odyssee in See, um irgendwo als anderer anzukommen, sondern lässt sich von den Frachtern mitschleppen, auf denen Menschen ihrem Tagwerk, dem Ein- und Ausladen von Waren, nachgehen. Draußen in der Stadt geht es darum, sich Stoff und vielleicht eine weitere, zwischenmenschliche Triebabfuhr zu besorgen. Die wesentliche Tagesfrage, die ein anderer Junkie stellt, lautet: »Was willst du den ganzen Tag machen, wenn du nicht mehr hinter einem Fix her sein kannst.« Was bringt der Fix? »Man ist nicht mehr länger so grotesk ins Werden verwickelt. Man ist einfach.« Die Wirkung des Heroins beschreibt Necchi als das Gefühl, »unverwundbar« zu sein, »absolute Stabilität« zu erlangen.
Der Existentialismus, den Trocchi in Paris kennengelernt hat, ist in New York jeder metaphysischen Fallhöhe beraubt. Cain’s Book nutzt die berühmten Mittel der modernen Literatur dazu, eine sich entleerende Innerlichkeit bei äußerem Absterben zu beschreiben. Statt das Wahrnehmungsgewitter der Großstadt in einen wilden Bewusstseinsstrom zu kanalisieren, entzieht sich Necchi den Lichtern New Yorks und allen Verheißungen des gelobten Lands. Er gibt Junkie-Dialoge wieder, in denen niemand etwas anderes von seinem Gegenüber will als Stoff; beschreibt ekstatische Fratzen; zeichnet eine Stadt, die für ihn auf dunkle Gänge, Hallen und Türme reduziert ist. Immer wieder rollt er seine Augen in die Dunkelheit des Schädels zurück und tippt mit dem Rest Bewusstsein, das er nicht haben will, Reflexionen übers Schreiben ab. Ihm kommen Erinnerungen an die Kindheit in Schottland, wo die Familie unter einem Vater leidet, dessen Reinlichkeitswahn die Pension, von der und in der sie lebt, fast in den Ruin treibt. Trocchis Schicksal, Schriftsteller zu sein, hat für ihn den Preis, in eine Zone des Nahtodes vordringen zu müssen, in die sich niemand sonst traut.
Im schalen Spiel von Selbstverherrlichung und -verachtung des »cosmonaut of inner space« zeigen sich die Abgründe von Innerlichkeit und Ästhetizismus: »Einen methodischeren Nihilismus als den des Junkies in Amerika gibt es nicht.« Hierin liegt die Wahrheit über den Karrierismus, die der Text wie ein Tagebuch abbildet, das die Herausforderungen der Romanform scheut, um jeden Tag unterschiedslos verzeichnen zu können. Der Karrierist ist ein Junkie. Und der Junkie ist die Wahrheit des Verbrauchers: Er führt ein lückenloses Leben, in dem sich jeder Tag in der Beschaffung der Mittel erschöpft, die es zu erwerben gilt, um den Druck von Sucht und Not für einen Moment aussetzen zu lassen; die es gestatten, nicht werden zu müssen, sondern einfach nur zu sein – des lästigen Bewusstseins entledigt, das sich an der Welt, an der Gesellschaft stößt und dafür ganz bei sich, in einer »Region der Theorie und des Spiels«, in der ohne Widerstand der Realität alles möglich zu sein scheint und doch nichts wirklich wird. Der Junkie besorgt sich einen Vorgeschmack auf den Tod, springt ihm von der Klinge und macht immer wie gewohnt weiter: Die Ware stiftet ihm Sinn. Was er von ihr bekommt, ist eine Ahnung des Nichts, eine Pseudo-Versöhnung mit sich selbst. Sein Leben ist »eine Zeit des Fixens und Wartens und Seins und Fixens und Wartens.« Necchis Verweigerung jeder Arbeit, die er als unkreativ verachtet, nimmt ihm nach und nach die Möglichkeit, überhaupt von irgend etwas Gebrauch zu machen außer von der Spritze und der Schreibmaschine, mit der er seinen Niedergang protokolliert.
Nicht mehr zu wissen, was mit sich, der Welt und den Menschen anzufangen wäre, ist vielleicht die höchste Stufe der Enteignung: Für den Verbraucher-Junkie scheint alles so eingerichtet, dass er mit dem, was er hat, nichts zu tun versteht, das er will. Er ist zugleich durch den Konsum befriedet und von der Welt beleidigt, worauf er sich als halbwegs gelehrter Dichter etwas einbilden kann. Beiläufig kommt er dabei zu banal-brutalen Einsichten, auf deren letzte Konsequenz Necchi/Trocchi aber nicht mehr zu schließen versteht: An einer Überdosis stirbt man, wenn der Stoff, den man sich reinzieht, einen höheren Anteil Heroin beinhaltet, als sonst; wenn er also nicht in dem Maße gestreckt ist, wie gewohnt. Wer auch tatsächlich bekommt, wonach er verlangt, der geht drauf. Wenn die Ware hält, was sie verspricht, ist es zu viel des Guten und bedeutet den Tod.
»(Ich) lebe mein persönliches Dada. All dies ist zum größten Teil fürchterliche Gefühlsschmiererei. Der Stahl der Logik muß täglich gehärtet werden, damit er das vulkanische Element in sich halten kann.« Trocchi, der für die post-situationistische Gruppe Tiqqun »der Himmlische« ist und für Hugh MacDiarmid, den erfolgreichsten schottischen Lyriker des 20. Jahrhunderts, nichts als »kosmopolitischer Abschaum« war, überwindet den Existentialismus, indem er aufs brutalste in Schrift fasst, was es heißt, wenn es nur noch mich und die Ware gibt und mein Leben darin besteht, mir einzureden, dazu auserwählt zu sein, aus dem zu wählen, was mir vorgesetzt wird.