| Von Valentin Nikolaus Schettler |
Die sich fortsetzende Serie südkoreanischer Filmmeisterwerke, für die Bong Joon-hos Parasite nur das jüngste Beispiel darstellt, gibt Anlass zur Auseinandersetzung mit der Kinogeschichte des Landes.
Die Krise großer Studioproduktionen im zeitgenössischen Filmbetrieb hat sich inzwischen als so manifest erwiesen, dass sich jede weitere Beweisführung sogleich erübrigt. Ein Blick in die Programmhefte beliebiger Multiplex-Häuser ist hinreichend, um von ihr zu erfahren. Seit Jahren überschwemmt Hollywood den Markt mit Remakes und schnöden Comic-Verfilmungen, die bloß noch kopieren, was auch ursprünglich nicht sehr originell war. Auch in Deutschland, wo man das Schlechte immer schon ein bisschen schlechter noch zu machen verstand als andernorts, welkt die Filmindustrie seit Jahren karg und kümmerlich. Die staatliche Förderung, die hierzulande den maßgeblichen Einfluss auf die zu realisierenden Projekte nimmt, alimentiert vorzugsweise billige Blödelfilme, die das Zementieren sozialer und sexueller Klischees mit dem wohlfeilen Verweis auf einen angeblichen Unterhaltungscharakter entschuldigen. Auch hier seien als hinreichende Belege die unvermeidlichen Schweiger- oder Schweighöfer-Produktionen genannt, die notorisch bundesdeutsche Leinwände traktieren.
Es ist längst kein Geheimtipp mehr, dass gutes Kino inzwischen besonders in Südkorea gemacht wird. Regelmäßig werden hier Meisterwerke hervorgebracht, wie man sie andernorts zusehends vermisst. Auch bei den Juror_innen europäischer Filmfestspiele ist diese Botschaft angekommen. Es hat jedoch schon länger keinen verdienteren als den diesjährigen Preisträger der Goldenen Palme von Cannes gegeben: Parasite von Bong Joon-ho bietet herrliches, spannendes, anspruchsvolles Kino – und zeigt, dass es wieder möglich ist, sowohl politisch als auch ästhetisch herauszufordern und damit kommerziellen Erfolg zu haben.[1] Das ist nicht überraschend und ist es gleichzeitig doch – stellt man die Bedingungen in Rechnung, unter denen in Korea viele Jahre lang Filme produziert wurden.
Das Kino in Korea
Fragt man nach der Geschichte des Kinos an einem bestimmten Ort, ist es immer auch die Geschichte des Ortes selbst, die man zu hören bekommt. In Korea ist diese geprägt durch die Kolonialherrschaft Japans, durch Krieg, Zensur, politische Umbrüche. Während sich in Europa der Aufstieg des Kinos zum Massenmedium – nach der Vorstellung des ersten Kinematographen durch die Gebrüder Lumière im Jahr 1895 – in rasantem Tempo vollzog und besonders die kulturelle Landschaft der Zwischenkriegszeit prägte, sind bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs aus Korea nur rund 160 produzierte Filme nachzuweisen. Keiner von ihnen ist vollständig erhalten. Die japanische Zensurbehörde nahm maßgeblichen Einfluss auf die Projekte und verunmöglichte einen eigenständigen Filmbetrieb in der unterworfenen Kolonie, bis die kaiserliche Regierung im Jahr 1942 koreanischsprachige Filme sogar vollständig verbieten ließ. Die Zeichen standen, wie auch andernorts, auf Propaganda für den Krieg anstatt auf Unterhaltungskultur. Das Ende des Weltkriegs und die koreanische Unabhängigkeit von der kolonialen Besatzung haben sich im Anschluss indes gleichermaßen ins Filmlexikon des Landes eingetragen: Hoorah! For Freedom! (1946) heißt der erste vollständig erhaltene Film aus Korea. Die historische Zäsur jedoch, die damit markiert ist, stellte nur eine vorübergehende Atempause bis zum sich anschließenden Krieg der Jahre 1950–1953 dar. Danach teilt sich die Geschichte des Kinos in Korea in zwei – wie auch diejenige des Landes.
Von der nordkoreanischen Filmproduktion ist wenig bekannt. 2004 veröffentlichte das ZDF-Magazin Aspekte eine Recherche, derzufolge viele Hollywood-Studios für ihre Zeichentrickproduktionen auf das SEK-Trickfilmstudio (Scientific and Educational Film Studio of Korea) zurückgreifen würden. Nordkorea ist damit einer der größten Trickfilmproduzenten der Welt. Der damalige Leiter des SEK Jon Chol Ho kommentierte das mit den stolzen Worten: »Wir können bis zu 7000 Minuten Animation im Jahr produzieren. Wir fertigen nach hohen Maßstäben und wir sind so gut wie Disney.«[2] Die dabei herrschenden Arbeitsbedingungen dürfte man sich vorstellen können. Während China aufgrund seines großen und noch weitgehend unausgeschöpften Potenzials als Absatzmarkt für Hollywood interessant ist, sind es in dessen »kommunistischem« Bruderland Nordkorea die billigen Löhne, für welche man die Diktatur trotz politischer Feindschaft schätzt. Wäre es nicht so traurig, müsste man über den König der Löwen aus den stalinistischen Grafikräumen lachen: Das muss also der Circle of Life sein. Fraglich bleibt nur, ob Elton John und Tim Rice auch an Straflager und Verschleppung dachten, möglicherweise so wie die Arbeitskollegen aus Nordkorea, als sie zu ihren Bildern texteten: »Some say eat or be eaten/ Some say live and let live/ But all are agreed as they join the stampede/ You should never take more than you give.«[3]
Im Süden sah die Lage nach Ende des Koreakriegs glücklicherweise anders aus. Die US-Streitkräfte verhinderten nicht nur einen Anschluss an den Norden, die amerikanische Konsumkultur sorgte auch für ein Erblühen der Film- und Unterhaltungsindustrie im unabhängigeren Süden. Auch Steuerbefreiungen und staatliche Subventionen verhalfen dem noch jungen Filmbetrieb auf die Beine. Neben Kurzweiligem entstanden in dieser Zeit auch Klassiker, in denen die gesellschaftlichen Hierarchien persifliert, man könnte fast sagen: vom Kopf auf die Füße gestellt wurden. So sorgte der 1960 erschiene The Housemaid von Kim Ki-young für einen veritablen Skandal: Auf einmal waren Küsse im Kino zu sehen, sexuelle Spannungen auf der Leinwand, Frauen in den entscheidenden Rollen. Die Filmkunst brachte Ordnung in Unordnung – sie war unangepasst und unbequem.
Künstlerischer Nonkonformismus wurde im Zuge der 1962 an die Macht kommenden Militärdiktatur unter Park Chung Hee jedoch wieder fragiler. Nun wurden national gestimmte Gesetze zur Reglementierung der Filmindustrie eingeführt. Neben der in der Diktatur obligatorischen Verschärfung der Zensurmaßnahmen war es fortan geschriebenes Gesetz, dass jede koreanische Produktionsgesellschaft mindestens 15 Filme pro Jahr veröffentlichen musste. Zahlreiche Unternehmen gingen daran ein. Darüber hinaus sollte der internationale Einfluss, insbesondere der amerikanische, deutlich zurückgedrängt werden, indem auf zwei importierte nun mindestens eine koreanische Produktion zu kommen hatte. Diese Agenda wurde auch auf die landesweiten Lichtspielhäuser umgelegt, denen eine Quotierung vorgegeben wurde, derzufolge mindestens 40 Prozent der Spielzeit für koreanische Filme reserviert war. Das jedoch sollte sich noch als glücklicher Umstand erweisen.
Die politischen und wirtschaftlichen Umbrüche der Folgejahre – der Abschied von der Militärdiktatur und die zunehmende Demokratisierung – veränderten auch wieder den Kinobetrieb. Mit der Öffnung des Landes erreichte die westliche Unterhaltungskultur ein Wiederaufleben ihrer einstigen Beliebtheit, wodurch die landeseigenen Produktionen zunehmend ins Hintertreffen gerieten. Viele Filmschaffende flogen nun unterhalb des Radars des kommerziellen Kinobetriebs in Südkorea. Dort jedoch blieb mehr Raum für Experimente und Innovationen, für Subversives und Abseitiges. Auch die prekarisierten Teile der Bevölkerung kamen nun im Film zu eigener Darstellung, soziale Fragen rückten stärker in den Mittelpunkt der Auseinandersetzung. Auch dank der noch immer geltenden Quotierung des ehemaligen Diktators Park Chung Hee, die den südkoreanischen Filmbetrieb überhaupt am Leben hielt, begann in den 90er Jahren der endgültige Aufstieg des südkoreanischen Kinos zur sogenannten »Korean New Wave« als einer der aufregendsten Strömungen im internationalen Filmgeschäft. Begünstigt wurde dieser Aufstieg jedoch auch durch investitionsfreudige Großunternehmen, die massentaugliche Idole für ihre Werbekampagnen benötigten – denn die ließen sich am besten im Rahmen einer erfolgreichen nationalen Populärkultur rekrutieren.
Der Klassenfeind im Keller
Spuren dieser Geschichte lassen sich auch in Parasite aufspüren, in dem das aufgeblühte Unternehmertum nun gemeinsam mit den Abgehängten auf die Bühne tritt, in dem die Feindschaft zum Norden thematisiert und eine reiche Bandbreite von Kino- und Literaturzitaten aufgerufen wird. Der Film erzählt aus dem Leben der vierköpfigen Familie Kim, die in einer heruntergekommenen Kellerwohnung einer nicht näher benannten südkoreanischen Stadt lebt. Schon in ihrer Behausung findet ihr sozialer Status seine bildliche Übersetzung – die Familie lebt buchstäblich am unteren Rand: Ihre prekären Niedriglohnjobs lassen den Ausblick auf bessere Lebensverhältnisse nur so flüchtig zu wie die Sicht aus dem Kellerfenster denjenigen auf die Welt. Nichtsdestotrotz haben sie Strategien entwickelt, sich zu behaupten, sich bietende Gelegenheiten virtuos zu nutzen. Aus nichts wird etwas und aus etwas immer mehr: Es bedarf nicht mehr als einer kleinen Möglichkeit und die Familienmitglieder bringen sich der Reihe nach in Anstellung bei der reichen Familie Park.
Hier nimmt die Handlung Anleihen am Genre des Schelmenromans, der sich an der Grenze zwischen Abenteuer- und Gesellschaftsroman aufhält. Darin hält sich die dem prekarisierten Teil der Gesellschaft angehörende Hauptfigur – zumeist unter Zuhilfenahme trickreicher Methoden und gegen das bürgerliche Recht – unter den Privilegierten auf. Oft geschieht der Eintritt in die Welt der feinen Leute durch den Beginn eines Angestelltenverhältnisses. Die darin eingetragene Ausbeutung der Arbeitskraft wird jedoch durch das Verhalten des Schelms verstellt, der die feine Gesellschaft nach allen Möglichkeiten ausnimmt, bestiehlt, übervorteilt: Er ist, mit anderen Worten, nicht nur als Kellner auf der Party, sondern bedient sich auch üppig am Buffet und trinkt den Wein leer. In Parasite ist das schon durch den Titel markiert, den die Handlung vieldeutig ausbuchstabiert und dabei das Rätsel ausgibt: Wer beutet hier eigentlich wen aus?
Möglich wird das auch durch die zuweilen lächerliche Naivität der Familie Park, in der sich das blinde Unverständnis herrschender Klassen gegenüber der Situation der Unterprivilegierten ausdrückt – die im Film nicht nur durch die listenreich sich einnistende Familie Kim repräsentiert werden, sondern zudem durch die ehemalige, von den Kims verdrängte Hausangestellte mitsamt ihrem Mann, der das Haus der Parks allerdings nie verlassen hat. Bald folgt eine Sequenz, in der das Versteckspiel nur mit großer Mühe und noch größerem Glück aufrechterhalten werden kann. Die Familie entkommt der Enttarnung, durch welche das Weiterso mit dem Versteckspiel unter den Reichen sein unheilvolles Ende gefunden hätte. Das jedoch geschieht auf so aberwitzige, so unwahrscheinliche Weise, dass deutlich wird: Das eigentliche Unheil ist, dass es so weiter geht. Was im König der Löwen als zynisches Urteil über die Unveränderlichkeit der Verhältnisse und die als notwendig deklarierte Akzeptanz individuellen Leids – ins Motto vom Kreislauf des Lebens gebannt, in welchem nunmal die Löwen die Beute machen, die die anderen sind – wird in Parasite auf diese Weise satirisch überholt und bloßgestellt.
Der besagten Sequenz ging ein
handgreiflicher Streit mit der geschassten Haushälterin voraus. Statt sich an
dieser Stelle der Solidarität untereinander zu versichern und der
wechselseitigen Knechtschaft die Befreiung aller vorzuziehen – soll heißen: den
Griff nach der Notbremse zu wagen – wird hier die längst erledigte Konkurrenz
zum prospektiven Störenfried erklärt, dem auch außerhalb beruflicher
Rivalitäten zu Leibe zu rücken ist. Die Szenenfolge wird damit geradezu
emblematisch für die Situation im Spätkapitalismus, der mit dem Feierabend
aufgeräumt, die Arbeitsverhältnisse flexibilisiert und die Zumutungen
verschärft hat. Im Unwetter, das dann hereinbricht, werden auch jene noch, die
schon die zweite Natur beherrscht, auf die Zwänge der ersten Natur
zurückgeworfen. Auch hier wird die gesellschaftliche Hierarchie bildhaft, sie
wiederholt sich in der Topographie der Stadt: Um die Gegend der Reichen zu
verlassen, nehmen die Figuren überflutete Treppen nach unten, bewegen sie sich
von der Anhöhe wieder talwärts. Der Regen rinnt unaufhörlich, schwemmt die
Menschen, die gewissermaßen unterhalb des Wasserstands der Wohlsituierten
leben, auf die Straße. Als lautlose Stimme aus dem Off könnte man meinen, die
Verse aus Bertolt Brechts Lied vom Klassenfeind zu hören, in dem es
heißt: »Der Regen kann nicht nach aufwärts, weil er’s plötzlich gut mit uns meint.
Was er kann, das ist: er kann aufhör’n, nämlich dann, wenn die Sonne scheint.«
Die Sonne, die auf den Regen folgt, scheint in Parasite durch die
meterhohe Fensterfront ins Gesicht der reichen Yeon-Kyo, die ausgeruht lächelnd
in den gepflegten Garten blickt. Sie freut sich über eine regenreiche Nacht.
Aber abseits der Villen, die vielen Stufen hinab, sind die Wohnungen
vollgelaufen, die Bezirke unbewohnbar geworden. Selbst wenn der Regen aufhört:
Im Keller scheint die Sonne nicht – das Wasser aber bleibt.
[1] In Südkorea haben zehn Millionen Menschen ein Ticket an der Kinokasse für den Film gelöst.
[2] Jon Chol Ho: Nordkorea produziert Hollywood-Stars, 01. Juli 2004, online unter: https://www.presseportal.de/.
[3] Elton John/Tim Rice: Circle of Life. Walt Disney Records 1994.