| von Marie Funke |
Die Menschen in Hongkong kämpfen für mehr Demokratie, die Jugend politisiert sich, auch die Universitäten spielen eine tragende Rolle. Doch suchen sich die Protestierenden im Westen die falschen Freunde? Ein Bericht aus dem Herzen eines Systemkonflikts.
»When dictatorship becomes truth, revolution becomes duty.« Man könnte sich leicht über diesen etwas pathetisch daherkommenden Satz mokieren, der sich wie ein Mantra in schwarzer Farbe in die Hauswände und Gehwege Hongkongs eingeschrieben hat. Ein autorloses Zitat, das auf dem Weg zur Lohnarbeit oder in die Schule die Passant_innen aus ihrem durchgetakteten Alltag in einer gehetzten Millionenstadt reißen soll. Doch der Alltag in Hongkong verläuft schon längst nicht mehr in seinen gewohnten Bahnen. Er ist gewissermaßen entgleist – wie ein Zug der MTR, Hongkongs Hauptverkehrsmittel – und wird zerrissen von den mittlerweile täglich stattfindenden Tränengas-Einsätzen. Die Frustration der Zivilbevölkerung, die weiterhin irgendwie versucht, das eigene Leben zu bestreiten, wächst.
Seit mittlerweile fünf Monaten befindet sich die Stadt in einem Ausnahmezustand. Wen kümmert da schon der eine oder andere simplifizierende und revolutionsromantische Ton in der Flut von Plakaten, Graffiti und Post-Its, die an allen Enden der Sieben-Millionen-Metropole in den sogenannten Lennon-Walls kulminieren. Visuelle Monumente der Wut gegenüber Regierung und Polizeigewalt. Begonnen hatte alles Anfang Juni 2019 mit den ersten friedlichen Protesten gegen die sogenannte Extradition Bill (dt.: Auslieferungsabkommen). Der exzessive Einsatz von Tränengas gegen die Bevölkerung in den darauffolgenden Tagen rief schließlich am 16. Juni mit über eine Millionen Teilnehmer_innen die größten Demonstrationen in Hongkongs Geschichte hervor. Bei dem Versuch einer Erklärung der andauernden Demokratiebewegung darf der Kontext der von Fremdbestimmung geprägten Stadtgeschichte nicht vernachlässigt werden. Eine Wiedergabe der über ein Jahrhundert andauernden Kolonialgeschichte und des anschließenden diplomatischen Drahtseilakts der Rückgabe Hongkongs an China kann hier nur unvollständig vorgenommen werden – daher der Versuch, sich im Folgenden auf das Wesentliche zu beschränken.
Der Gesetzesvorschlag der Extradition Bill sah die Implementierung eines rechtlichen Kanals vor, durch den Menschen, die sich auf dem Gebiet Hongkongs befinden und gegen die ein Tatverdacht bzw. ein Strafbefehl besteht, neben Taiwan und Macau auch an die Volksrepublik China ausgeliefert werden können. Diese Möglichkeit ist in der bestehenden Gesetzeslage nicht vorgesehen. Als Hongkong 1997 vom Vereinigten Königreich nach über 150 Jahren der Kolonialherrschaft und langen Verhandlungen unter Margaret Thatcher an China zurückgeben wurde, wurde die Stadt zu einer Sonderverwaltungszone (Special Administrative Region / SAR). Dieser Sonderstatus gilt für fünfzig Jahre und läuft somit 2047 aus. Ob es danach eine vollständige Angliederung Hongkongs an die Volksrepublik geben wird, bleibt ungeklärt. Zentraler Bestandteil des Abkommens zwischen Großbritannien und China sind die Sonderrechte und Regelungen, festgehalten im Basic Law und zusammengefasst in der Formel »one country, two systems«, welches dem Gebiet Hongkong diverse Autonomierechte gegenüber der Volksrepublik zusichert. Dazu gehören unter anderem die für Hongkong als globales Finanzzentrum wichtige Autonomie in Zoll- und Steuerfragen – d.h. die Absicherung eines kapitalistischen Wirtschaftssystems – als auch Freiheitsrechte wie Presse-, Rede- und Versammlungsfreiheit. Universelles Wahlrecht ist jedoch nicht gewährleistet, da das höchste politische Amt der Chief Executive (zurzeit Carrie Lam) formal von der Regierung der Volksrepublik Chinas ernannt wird und auch das Legislative Council nur zu einem Teil direktdemokratisch von der Bevölkerung Hongkongs gewählt wird.
Der Gesetzesvorschlag der Extradition Bill bedeutete in den Augen vieler Hongkonger_innen eine direkte Gefährdung der durch »one country, two systems« gewährleisteten Autonomierechte Hongkongs. Insbesondere die Gewährleistung der Freiheitsrechte wird von vielen Hongkonger_innen zunehmend mit Sorge betrachtet und durch die Einflussnahme Chinas als akut gefährdet angesehen. Dieser Verdacht ist nicht unbegründet, wie Gesetzesänderungsvorschläge der Volksrepublik bezüglich des Wahlsystems Hongkongs aus der Vergangenheit zeigen. Diese führten bereits 2014 zu Massenprotesten, die als Umbrella Revolution oder auch als Hongkongs Regenschirm-Bewegung bekannt geworden sind. Konkreten Argwohn gegenüber dem Vorschlag des Auslieferungsabkommen weckten zudem Vorfälle im Jahr 2015, als fünf Hongkonger Verleger auf dem Gebiet Hongkongs und im nahen Ausland verschwanden, nach dem sie China- und Parteikritische Publikationen veröffentlicht hatten. Nicht zu vernachlässigen ist in diesem Zusammenhang allerdings auch das Interesse der wirtschaftlichen Elite Hongkongs, den Status der Stadt als Steueroase und Zufluchtsort für aus China fliehende Wirtschaftskriminelle zu erhalten.
Die Proteste der letzten Monate sind also nicht nur als unmittelbare Reaktion auf einen Gesetzesvorschlag zu verstehen, der die potentielle Beschneidung einer lauten China-kritischen Opposition bedeuten könnte und die wirtschaftliche Interessen der Elite Hongkongs gefährden würde, sondern sie müssen auch vor dem Hintergrund einer Stadt eingeordnet werden, deren Bevölkerung seit Generationen fremdbestimmt wird. Eine Stadt, deren Identität sich über eine deutliche Abgrenzung zum Festland Chinas formuliert. »Hongkong ist nicht China«, tönt es aus tausenden Mündern.[1]
Zwischen Highspeed-Internet und gelebter Solidarität
Wie schafft es eine Bewegung ohne Anführer_innen, sich über Monate hinweg zu organisieren, internationale Öffentlichkeitsarbeit zu betreiben und wöchentlich Millionen von Menschen zu mobilisieren? Eine stabile Internetverbindung ist der erste Schlüssel zur Teilhabe an Hongkongs Protesten. Die junge Generation der Stadt zeigt eindrucksvoll, wie sich ihre Internetaffinität an die Bedürfnisse einer Bewegung anpassen lässt, die nach dem Motto be like water durch die Spontaneität der Aktionen und die Anonymität ihrer Teilnehmer_innen agiert. Das Individuum verschwindet in der Masse, wie ein Tropfen im Ozean oder ein weiterer Account im Reddit Demo-Thread. Ohne die Kommunikation über den Telegram-Messenger, Twitter und Portale wie LIHKG wäre die Organisation der schieren Masse an Menschen wohl kaum möglich. Das Internet ermöglicht in Hongkongs Protesten eine neue virtuelle Form der Teilhabe an Entscheidungsprozessen und den Zugang zu Informationen in Echtzeit. Die tägliche Informationsflut ist dabei ebenso beeindruckend wie erdrückend. In Telegram-Kanälen mit über 25.000 Mitgliedern werden im Minutentakt Updates aus allen Teilen der Stadt veröffentlicht, während Livestreams ermöglichen, das aktuelle Geschehen von Zuhause, auf der Arbeit oder aus dem Hörsaal mitzuverfolgen. Live-Karten der Stadt unterfüttern die Informationslage zudem mit einer Übersicht zu Straßenblockaden, Tränengaseinsatz oder hoher Polizeikonzentration. Ein wichtiger Teil der täglichen Arbeit, die die Bewegung am Leben erhält, ist daher der Einsatz von hunderten Freiwilligen, die vierundzwanzig Stunden am Tag als Administrator_innen die neusten Demonstrationsaufrufe verbreiten, minutiös die Ereignisse des letzten Tages dokumentieren, Livestreams produzieren und die Standortkarten aktualisieren. Die Ausstattung mit einem internetfähigen Handy gehört so ganz selbstverständlich zum Demo-Einmaleins.
Neben dem Zugang zu einer stabilen Internetverbindung ist es aber vor allem die große Unterstützung in der Bevölkerung, welche die Proteste wie auf einer Welle unermüdlich gen der Sechs-Monats-Marke reiten lässt. Auch wenn die Gruppe der frontliners der Bewegung vor allem aus Schüler_innen und Studierenden besteht, ist es die generationsübergreifende Versorgungsarbeit im Hintergrund, durch die sich Hongkongs Demokratiebewegung auszeichnet. Nicht jede_r muss sich als Teil des Schwarzen Blocks ausgerüstet mit selbstgebauten Schilden, Gasmasken und Sichtschutz den Spezialeinheiten der Polizei in den Weg stellen um seinen/ihren Beitrag zu leisten. Ein Teil der Bewegung lässt sich auf viele Weisen sein. Dies zeigt sich ganz konkret in den überaus erfolgreichen Crowdfunding-Kampagnen, deren Ziele meist innerhalb weniger Stunden erreicht werden, da vor allem die älteren Generationen ihre Unterstützung durch Spenden ausdrücken. Als die Chinese University of Hong Kong nach gewaltvollen Auseinandersetzungen mit der Polizei Anfang November von den Studierenden besetzt wurde, strömten auch hier bereits in der ersten Nacht hunderte Anwohner_innen und Eltern trotz der Barrikaden und der mit Tränengas getränkten Luft auf den Campus, um die Demonstrierenden mit dem Nötigsten zu versorgen. Nahrungsmittel, Benzin, Verbandskästen, Regenschirme und Kleidung türmten sich binnen Stunden in riesigen Stapeln auf dem Gelände, während Menschen mit ihren Privatautos und Mopeds die ganze Nacht hindurch den kostenlosen Transport von Presse, Personen und Waren organisierten. So spiegelt sich der Gemeinschaftssinn und die Verbundenheit der Demonstrierenden auch in ihren Slogans wider. Egal ob Teenager in Schuluniform oder Büroangestellte mit Aktentaschen in ihrer Mittagspause – wenn sie gemeinsam auf die Straße gehen, rufen sie sich ermutigend zu: »Hongkongers add oil!«und »Hongkongers resist!«. Insbesondere die Selbstorganisation der zumeist jungen Demonstrierenden und der Zusammenhalt innerhalb der Bewegung bestimmen das Momentum der letzten Monate. Gleichzeitig ist es dieser Aspekt der Bewegung, der in den von Polizeigewalt und Vandalismus dominierten Medienberichten am wenigsten Beachtung findet.
Repression – Wie gegen eine Wand der Ignoranz
Eine Sieben-Millionen-Stadt sechs Monate lang zu mobilisieren und dabei immer wieder neue Mittel und Wege einzusetzen, damit die internationale Aufmerksamkeit nicht abreißt, ist eine beachtliche Leistung. Sechs Monate anhaltender Auseinandersetzungen sind aber auch verdammt kräftezehrend. Die Frustration und Hilflosigkeit im Angesicht der politischen Lage, die sich zunehmend als ausweglos präsentiert, und die exponentiell ansteigende Polizeigewalt fügen der Stadt und insbesondere ihrer jungen Generation irreparable Schäden zu. Von hier aus wird der Weg zurück in irgendeine Form des Alltags steinig. Die Chance, den Forderungen der Demonstrierenden durch Dialog und Verhandlungen zu begegnen, scheint längst verspielt, das Gefühl, nicht gehört und mutwillig ignoriert zu werden, ist der alles begleitende Beigeschmack der Proteste. Denn was sich in der Umbrella Revolution von 2014 bereits andeutete, wurde diesen Sommer noch einmal nachdrücklich demonstriert: Mit friedlichen Demonstrationen und legalen Mitteln der demokratischen Meinungsäußerung trifft die Hongkonger Bevölkerung bei ihrer Regierung auf taube Ohren. Die Politik Carrie Lams zeichnet sich stattdessen durch eine nicht enden wollende Abfolge von Versuchen aus, das sich längst in voller Fahrt befindende Ringen um Mitbestimmung mit aller Gewalt zu einem Halt zu zwingen. Bisher bewirkten diese Versuche jedoch ausnahmslos das Gegenteil. Als die Regierung beispielsweise am 4. Oktober die aus der Kolonialzeit stammende Ausnahmezustandsregelung (Emergency Regulation Ordinance) benutzte, um das »Anti-Mask Law« zu verabschieden, wurde das Tragen eines Mundschutzes als Akt des zivilen Ungehorsams in den folgenden Tagen zum zentralen Symbol der Bewegung. Die Beschneidung der demokratischen Rechte hat dabei System, wie auch die Disqualifizierung einiger prominenter pro-demokratischer Politiker_innen und Aktivist_innen bei den Bezirkswahlen Ende November zeigte. Diese sind eine der wenigen direktdemokratischen Wahlen, die Hongkongs Bevölkerung zustehen.
Die Repression durch Hongkongs Polizei, deren einstiger inoffizieller Titel als Asia’s Finest binnen Monaten zur zynischen Häme für die Zivilbevölkerung wurde, ließ auch vermehrt die Bezeichnung Hongkongs als eines Polizeistaats laut werden. Die meisten öffentlichen Versammlungen sind inzwischen verboten, Bedrohungen von Presseangehörigen (mitunter mit Schusswaffen) durch die Einsatzkräfte sind gut dokumentiert und das bloße Tragen von schwarzer Kleidung in der Öffentlichkeit reichte in vielen Fällen bereits für die Schikane und Festnahme durch Polizeibeamte aus. Einen neuen Höhepunkt der Proteste markierte schließlich das Vorgehen gegen die Bewegung, wo es sie am härtesten trifft: an den Universitäten. Angefangen mit Ausschreitungen an der Chinese University of Hong Kong am 12. November folgte in den darauffolgenden Tagen die Besetzung der Baptist University, der Hong Kong University, der City University und der Polytechnic University. Die Situation hat inzwischen zur frühzeitigen Beendigung des Wintersemesters geführt, viele Universitäten wurden zwischenzeitlich evakuiert. Nur die entschlossensten frontliners verblieben auf den Geländen der Universitäten – bereit, die Spezialkräfte der Polizei mit allen ihnen zu Verfügung stehenden Mitteln am Eindringen zu hindern. In der Polytechnischen Universität verschanzten sich einige Studierende mehrere Tage in den Universitätsgebäuden, während sich draußen Demonstrant_innen mit den Einsatzkräften Straßenschlachten lieferten. Wäre die Lage nicht so verzweifelt, könnte man über die Absurdität der Situation fast lachen: Bewaffnet mit Pfeil und Bogen, entwendeten Baggern oder Kettensägen verteidigten die Student_innen die Zugänge zu ihren Universitäten.
Revolution – Für wen oder was?
Offensichtlich ist, dass es schon längst nicht mehr um den formalen Rückzug der Extradition Bill geht. Längst ist aus den Protesten etwas größeres erwachsen – der Kampf um Selbstbestimmung, der Kampf um Demokratie in Hongkong. Fünf Forderungen bilden dabei den Kern der Bewegung. Ihre inhaltliche Einfachheit macht sie massentauglich – in einer Bewegung ohne Anführer_innen bilden sie das Rückgrat, auf das man sich einigen und stützen kann. Inhaltliche Diskussionen über Strategien und die Sinnhaftigkeit der politischen Forderungen werden dabei eher im kleinen Rahmen geführt – das oberste Gebot ist es, die Bewegung nicht zu spalten. Man hat von 2014 gelernt, als sich die Bewegung schließlich aufgrund von Strategiefragen inhaltlich überwarf und nach der Festnahme ihrer prominentesten Gesichter auflöste. Die fünf Forderungen sind 1. die vollständige formale Rücknahme des Auslieferungsgesetzes, 2. die Einrichtung einer unabhängigen Kommission zur Untersuchung der Polizeigewalt, 3. die Freilassung aller festgenommenen Demonstrant_innen sowie deren Amnestie, 4. dass die Proteste von der Regierung nicht mehr als Aufstand (Riot) bezeichnet werden sollen und 5. die Einführung allgemeiner, freier und demokratischer Wahlen.
Die inhaltliche Argumentation im größeren Diskurs der Proteste verläuft mehrheitlich nach einem einfachen Schema von Begehren nach Demokratie auf der einen Seite und dem durch Hongkongs und Chinas Regierungen verkörperten Autoritarismus auf der anderen. Zur Untermalung dieses Dualismus werden unterdessen auch gerne fragwürdige Vergleiche der kommunistischen Partei Chinas mit dem Nationalsozialismus herbeigezogen – siehe die beliebte Verwendung der Bezeichnung »Chinazi«. Was genau die Demokratie für Hongkong über die Forderung nach einem universellem Wahlrecht hinaus ausmachen soll, bleibt derweil weitestgehend unklar. Die lauten Rufe nach Freiheit für Hongkong werden kaum durch eine inhaltliche Diskussion über die genaue Ausgestaltung dieser Freiheit begleitet. Was bedeutet Freiheit für Hongkong über die Erfüllung der fünf Forderungen hinaus? Die bloße Wiederherstellung des Status quo? In Hongkong regiert seit Jahrzehnten ein aggressiver Neoliberalismus, angetrieben durch den Mythos einer Ära der Tycoons, einer Generation von Selfmade-Männern und Frauen, die in der Stadt zu Milliardär_innen wurden und Hongkongs Weg zum Wohlstand ebneten. Zumindest für Einige. Die Schere zwischen Arm und Reich wächst stetig, das Einkommen der obersten zehn Prozent ist inzwischen fast vierundvierzig Mal so hoch wie das der ärmsten zehn Prozent. Die Mieten sind derweil für die Mehrheit der Menschen kaum noch bezahlbar und der Wohnraum ist so knapp, dass junge Leute meist erst bei ihren Eltern ausziehen können, wenn sie mit Ende zwanzig heiraten. Unterdessen lastet der Niedriglohnsektor und die Pflegearbeit zumeist auf dem Rücken südostasiatischer Einwanderer, die in der Prekarität ihrer Lohnverhältnisse verschwinden und an den Rand der Stadt gedrängt werden. Der Status quo sieht also alles andere als rosig aus. Trotz der zahlreichen politisch-sozialen Probleme der Stadt verschwinden kritische Stimmen über Verteilung von Wohlstand und der Beziehungen von ökonomischer Elite und Regime in den Hintergrund. Ein liberales Demokratieverständnis überwiegt gegenüber dem Klassenbewusstsein.
Nichtsdestotrotz
sollte sich die zumeist von europäischen oder US-amerikanischen Linken
geäußerte Kritik an den Strategien und Inhalten der Proteste auch der Gefahren
der eigenen Überheblichkeit bewusst sein. Die Bewegung und die Mehrheit ihrer frontliner
sind unglaublich jung, im wahrsten Sinne des Wortes. Eine ganze Generation hat
sich binnen kürzester Zeit und durch die Eindrücke teils traumatischer
Erfahrungen politisiert, radikalisiert und ist nun tagtäglich auf den Straßen.
Die Ausgangsbedingungen Hongkongs sind daher nicht damit vergleichbar, was man
in Europa oder in den USA vorfindet. Eine Stadt mit blutiger
Kolonialgeschichte, in der heute das Kapital wie kaum anderswo regiert und die
erst vor wenigen Jahrzehnten an China zurückgefallen ist, bringt nunmal andere
Politisierungsbedingungen hervor, als es sich eine westliche Linke vielleicht
wünschen würde. Trotzdem gelingt in Hongkong gerade etwas, das andernorts bereits
in den Anfängen scheitert: die Bildung einer breiten gesellschaftlichen Front
gegen staatliche Repression. Diese zeigt sich zunehmend auch solidarisch mit
Kämpfen für mehr Autonomie andernorts (siehe der wachsende Bezug auf Tibet und
die Uiguren) und heizt den Widerstand gegen Chinas Einflussnahme in alten
Konflikten an, wie jüngst die Wahlergebnisse in Taiwan verdeutlichen.
Die als fragwürdig zu
bezeichnende Hoffnung der Protestierenden in die USA – und dort vor allem in
republikanische Abgeordnete – ist, ebenso wie der teils positive Bezug auf das
Vereinigte Königreich als ehemalige Kolonialmacht, kritikwürdig. Viele der
Hongkonger Aktivist_innen vertreten trotzdem die Auffassung, man könne sich in
diesem Kampf seine Verbündeten nun mal nicht aussuchen und so kommt es mitunter
zum enthusiastischen Schwenken des Union Jack an den frontlines.
Tatsächlich sind die USA – nicht zuletzt vor dem Hintergrund des anhaltenden
Handelskriegs mit China – leider einer der wenigen Akteure, die auch noch nach
Monaten der Auseinandersetzungen in Hongkong ein ernsthaftes Interesse an den
Geschehnissen vor Ort aufzubringen scheinen. Erst Ende November wurde der seit
Monaten unermüdlich von Hongkonger Aktivist_innen forcierte Hong Kong Human
Rights and Democracy Act mit einer deutlichen Mehrheit im US-amerikanischen
Senat verabschiedet. Nichtsdestotrotz stellt sich schnell der Verdacht ein,
Hongkong sei auch in dieser Beziehung wieder einmal nur Spielball im größeren
Schauspiel globaler Wirtschaftsinteressen zweier Großmächte. Eines scheint
jedoch nach sechs Monaten anhaltender Proteste festzustehen: deren baldiges
Ende und Freiheit für Hongkong – wie auch immer diese aussehen mag – ist noch
lange nicht in Sicht.
[1] Dazu möchte ich anmerken, dass ich mit meinen Einschätzungen eine Perspektive einnehme, die stark von meinen subjektiven Erlebnissen und Gesprächen der letzten drei Monate geprägt ist. Ich befinde mich als Studentin an einer der Universitäten mit der aktivsten Studierendenschaft in Hongkongs Demokratiebewegung (CUHK). Ich spreche kein Kantonesisch und bleibe daher immer Außenstehende in einer Stadt mit tief verwurzelten Kolonialerfahrungen.