Von Minsk bis Berlin – HUch#91

| von Marcus Kell |

Im Zuge der allgemeinen staatlichen Repression gegen Protestierende in Belarus werden auch Studierende zu Zielen der Gewalt. Die Studierendenschaften und Universitäten im deutschsprachigen Raum können und sollen sie in ihrem Kampf unterstützen.1

Bild: Mariana Papagni

Es geschehen gerade viele Dinge auf der Welt, die eigentlich unsere Aufmerksamkeit verdient hätten. Dass sie diese Aufmerksamkeit nicht immer erhalten, liegt nicht zuletzt am eurozentristischen Filter, an unserer begrenzten quantitativen Aufnahmefähigkeit und ja, auch an der begrenzten Fähigkeit eines jeden Individuums, Informationen über Leid und Unterdrückung zu ertragen.

Dieses Schicksal fehlender Beachtung ereilt aktuell auch die Ereignisse in Belarus. Die umfangreichen Proteste, ausgelöst durch die manipulierte Wahl vom 9. August 2020, erfassen mittlerweile einen Großteil der Gesellschaft und natürlich auch die Universitäten des Landes. Auf die Lage der belarussischen Student_innen, die zunehmendem Druck und Repressionen ausgesetzt sind, sollte sich auch der Blick der Studierendenschaft in Deutschland richten.

Belarus reiht sich in eine wachsende Zahl von Ländern in Osteuropa ein, in denen sich in den letzten Monaten unterschiedlich motivierte Proteste entfaltet haben, bei denen auch die jeweiligen Studierendenschaften eine aktive Rolle spielen. In Serbien gehen Studierende gegen Korruption und Missstände im Bildungssystem auf die Straße, in Ungarn haben Studierende seit Ende August die Hochschule für Theater und Film besetzt und in Russland sehen sich oppositionelle Studierende immer wieder politischen Strafverfahren ausgesetzt.

Belarus sticht insofern heraus, als die Proteste eine kontinuierlich hohe Beteiligung halten können und in der Zusammensetzung ihrer Teilnehmer_innen äußerst divers sind, wobei ein großer Teil der Aktionen von FLINT*-Personen angeführt wird. Ausgelöst durch die offenkundige und nachgewiesene Wahlfälschung bricht sich nun lange aufgestaute Wut und Unzufriedenheit Bahn. Die Staatsführung ist hochgradig autoritär, die Wirtschaft ist stark geschwächt, freie Wahlen und eine wirkliche Opposition fehlen, oppositionelle Gruppen werden vom Staat verfolgt. Während Belarus im Ausland oftmals als positives Beispiel gegen den Privatisierungstrend postsowjetischer Staaten angeführt wird, sind die Bedingungen für Arbeiter_innen in den letzten Jahren prekärer geworden. So sind beispielsweise die Sozialleistungen im Falle von Krankheit oder Arbeitslosigkeit äußerst gering und wo es zuvor noch unbefristete Anstellungen gab, wurde die Länge vieler Arbeitsverträge auf ein Jahr begrenzt.2

So finden sich von anarchistischen und LGBTIQ-Gruppen bis hin zu liberalen Zusammenschlüssen, von Arbeiter_innen bis hin zu Rentner_innen fast alle Teile der Bevölkerung auf der Straße wieder, um gegen Lukaschenka und sein Regime aufzubegehren – selbst wenn die Vorstellungen dessen, wie ein »Danach« aussehen könnte, stark divergieren.3 Die Proteste, die stetig eine enorme Zahl an Teilnehmer_innen anziehen, beschränken sich dabei nicht nur auf die Zentren des Landes, wie Minsk, Soligorsk oder Slutsk, sondern werden auch in der Peripherie mitgetragen.

Die Proteste verlaufen meist friedlich, was den Kontrast zu den repressiven Reaktionen des Staates unter Lukaschenka umso drastischer wirken lässt. Hunderte Demonstrant_innen werden jede Woche verhaftet – ihre Gesamtzahl beläuft sich mittlerweile auf über 12.000 Menschen.

Auf Social-Media Kanälen oder in alternativen Medien häufen sich zudem die Berichte darüber, dass Gefangene gefoltert werden, es zu Vergewaltigungen durch Polizei und Gefängnispersonal kommt und Verhaftete verschwinden und später tot aufgefunden werden.4 Sogar niedrigschwelliger Aktivismus, wie einfache, solidarische Äußerungen oder musikalische Nachbarschaftstreffen im öffentlichen oder privaten Umfeld, werden mit Arbeitsplatzverlust, gesellschaftlicher Ächtung innerhalb der staatlichen Strukturen oder dem Entzug von Bildungsmöglichkeiten bestraft. Seit dem 12. Oktober 2020 gibt es zudem eine offizielle Erlaubnis der Behörden, dass mit scharfer Munition auf Demonstrant_innen geschossen werden darf. Das bedeutet konkret, dass der Einsatz tödlicher Gewalt gegen Protestierende durch Polizei und Militär nun staatlich legitimiert ist.

Um die Repressionsauswirkungen noch zu verstärken, wird den Menschen kein schützender Rückzugsraum mehr gelassen, denn die ausführenden Polizei- und Militäreinheiten operieren in weiten Teilen ohne jede Hoheitskennzeichnung. Dieses Agieren in Maskierung und Zivilkleidung schafft ein gesichtsloses Gegenüber, das kaum zur Rechenschaft gezogen werden kann. Die Zugriffe erfolgen in Privatwohnungen, an Arbeitsplätzen, auf der Straße, in den Universitäten. Ob die Beteiligung an einer Demonstration, der Wochenendeinkauf im nahegelegenen Supermarkt oder ein zufälliger Spaziergang entlang der Demo – überall kann eine Festnahme erfolgen. Es herrscht ein System der totalen Angst, in dem es jede_n jederzeit treffen könnte.

Trotz dieser erschreckenden Bandbreite an Repression hat der organisierte Protest auch seinen Weg an die verschiedenen Universitäten gefunden: Von der MSLU (Minsk State Linguistics University) bis zur BSU (Belarusian State University) formt sich ein wachsender Protest. Student_innen erscheinen beispielsweise in weiß-roter Kleidung (den Farben der Bewegung), bestreiken per Sit-In Seminare oder halten öffentliche Diskussionsveranstaltungen ab. Am Morgen des 26. Oktober 2020 beteiligten sich zudem Student_innen fast aller Universitäten am landesweiten Generalstreik.

Egal, ob die belarussischen Student_innen ihre Meinungen innerhalb der Universitäten artikulieren oder an Demonstrationen außerhalb der Hochschule teilnehmen – ihre Aktionen bedeuten für sie immer auch eine unmittelbare Gefahr. So werden sie mitunter Tage nach einer Demonstration aus den Räumen ihrer Fakultäten entführt. Kleine Kommandotrupps schwarz gekleideter Männer dringen überfallartig in die Universitäten ein und ergreifen die Student_innen vor den Augen ihrer Dozent_innen und Kommiliton_innen. Auch hierbei operiert die Polizei anonym, die betroffenen Student_innen werden zu Zivilfahrzeugen geführt und an unbekannte Orte gebracht.

Anderen Studierenden drohen vergleichsweise »mildere« Repressionsformen: Ihnen wird der Zugang zu Prüfungen verwehrt oder es erfolgen Zwangsexmatrikulationen (alleine im Zeitraum zwischen dem 26. und 30. Oktober waren es über 100). Obwohl die meisten Unileitungen bereits regimetreu besetzt sind, sieht Lukaschenka noch deutlich Luft nach oben in der Bestrafung von Student_innen. Zu diesem Zweck wurden zuletzt an der MSLU und BSU in Minsk sowie an der TU in Brest die Rektor_innen ausgetauscht. Das Bildungsministerium hat im gleichen Zug verkündet, dass Student_innen, die mehr als 10 Stunden fehlen, ihre Stipendien entzogen werden.5

Wie diese zahlreichen Beispiele zeigen, ist die belarussische Bevölkerung – und mit ihr unsere dortigen Kommiltion_innen – einem massiven staatlichen Terror ausgesetzt. Und gerade weil dies hier in seinem Umfang medial kaum repräsentiert ist, bestünde eine aktive solidarische Haltung der hiesigen Studierendenschaften darin, die Geschehnisse in Belarus zu thematisieren und Brücken zu den dortigen Studierenden zu schlagen, um gemeinsame Kritik und Austausch zu ermöglichen. Denn Studierende haben, egal an welchem Ort, das gleiche Anrecht auf einen geschützten Raum für gesellschaftlichen Diskurs und Kritik.

Im Falle Belarus könnte eine konkrete Solidarisierung bedeuten, dass wir uns zu den Geschehnissen weiter informieren und Räume anbieten, in denen eine weitere Öffentlichkeit geschaffen werden kann – in Zeiten von Corona beispielsweise über Online-Informationsveranstaltungen mit belarussischen Aktivist_innen. In Institutsräten und Fachschaften können Solidaritätserklärungen mit den verschiedenen Statusgruppen verfasst werden.6 Die Universitätsleitungen können aufgefordert werden, für repressionsbetroffene Student_innen unbürokratisch gesonderte Studienplätze zur Verfügung zu stellen und die Zusammenarbeit mit Lukaschenka-treuen Professor_innen zu verweigern. Die Möglichkeiten sind zahlreich – wir müssen uns nur informieren, solidarisieren und aktiv werden.

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1 Der Artikel wurde im Oktober 2020 verfasst.

2 Sammlung von Hintergrundartikeln zur Lage: https://www.zeitschrift-osteuropa.de/blog/themenschwerpunkt/fokus-belarus/

3 Forderungskatalog der anarchistischen Gruppe Pramen: https://pramen.io/en/2020/09/proposal-of-program-minimum-for-the-period-of-uprising-in-belarus/

4 Aufruf von Amnesty International gegen Folterungen und Gewalt gegen Protestierende: https://www.amnesty.de/informieren/aktuell/belarus-belarus-folter-und-gewalt-gegen-protestierende-stoppen; Gesammelte Geschichten von Opfern von Polizeigewalt: https://august2020.info/en

5 DAAD mit Link zur Erklärung deutscher Wissenschaftler_innen zur Lage an den Universitäten in Belarus: https://www2.daad.de/der-daad/daad-aktuell/de/77723-daad-gegen-gewalt-an-hochschulen-in-belarus/;

Stellungnahme der ESU: https://www.esu-online.org/?policy=student-arrests-in-belarus; Felix Ackermann, Historiker am Deutschen Historischen Institut in Warschau: https://www.gew.de/aktuelles/detailseite/neuigkeiten/belarus-studierende-lehrende-brauchen-unsere-solidaritaet/;

Austausch von Rektor*innen und weitere Repressionsandrohungen: https://belsat.eu/en/news/lukashenka-replaces-rectors-in-three-universities-amid-ongoing-student-protests/

6 Wie dies aussehen kann, haben u.A. die Fachschaft für Sozialwissenschaften auf studentischer und das novinki-Projekt des Instituts für Slawistik auf akademischer Ebene gezeigt.

Hierzu: Solidaritätserklärung der Fachschaft für Sozialwissenschaft mit den Studierenden in Belarus: https://www.facebook.com/116424898435265/posts/3294766347267755/?d=n

Sowie: Solidaritätserklärung des Hochschulprojektes novinki mit Dmitri Strozew: https://www.novinki.de/solidaritaet-mit-dmitri-strozew/