| von Charlie Cremer Jauregui |
Kolumne, die zweite. Nachdem ich mich in der letzten Ausgabe auf Meta-Ebenen geflüchtet habe, bleibe ich diesmal auf dem Boden der Tatsachen. Der ist bekanntlich aber undurchsichtig und treibt nicht wenige Leute in den Wahnsinn. Noch marschiere ich nicht auf der Straße des 17. Juni und wähne mich nicht »erwacht«. Mit den Füßen den Ball der Geschehnisse vor mich hertreibend, versuche ich die letzten Monate zu skizzieren. Wie wärs, wir spielten eine Partie Fußball, um was geschehen ist?
Auf der rechten Spielhälfte läuft die Gegenwart aufs Feld. Auf der linken eine kommunistische Zukunft. Es ist ein ungleiches Spiel, denn die beiden Teams haben verschiedene Spielregeln. Anstoß hat die Gegenwart:
Erster Spielzug: Als am 23. März 2020 aufgrund der Corona-Pandemie Ausgangsbeschränkungen für Berlin bekanntgegeben werden, hängt an jedem der Eingänge zum Fußballplatz vor unserem Haus ein rotweißes Flatterband. Spielen verboten. Der Hashtag »staythefuckhome« grassiert in den sozialen Medien, die Anweisung »staythefuckoffthesoccerground« auf dem Bolzplatz. Dem Ernst der Lage bewusst, verzichten wir eigenverantwortlich auf Team-Sport und rufen auch den Rest unserer Twitter-Bubble dazu auf. Genug von dieser Spaßgesellschaft.
Erster Konter: Wir spielen trotzdem. Kontaktfrei, versteht sich. Wenn die Streife kommt, dann rennen wir. Die Kids aus der Nachbarschaft vorneweg. Am Anfang kommt sie stündlich. Später werden die streifenfreien Abschnitte größer. Wenn wir zu langsam sind, wird abgepfiffen. Von den Cops. Spielverderber. – Was die Kids sich dennoch nicht nehmen lassen: Spaß am Spiel. Lust an der Sache selbst. Das ist ein Argument, das zählt, auch in diesen Zeiten. In den letzten Monaten ist es dem übermächtigen Legitimationsdruck zum Opfer gefallen, als Einzelne der Gesundheit aller Rechnung tragen zu müssen. Die kommunistische Zukunft jedoch lässt es sich nicht nehmen, miteinander Spaß zu haben und Gemeinschaft zu stärken. Physisch auseinander zu rücken, wo es notwendig ist und wo es geht – sozial hingegen nicht auseinander zu rücken, sondern zusammen. – Fehlpass der kommunistischen Zukunft, die Gegenwart hat den Ball.
Zweiter Spielzug: Als Anfang April die Versorgung der überfüllten Geflüchtetenlager auf Lesbos zunehmend einbricht, heißt es, Deutschland könne 50 Kinder aufnehmen. Sachsen-Anhalts Innenminister Holger Stahlknecht präzisiert: man könne problemlos ein geflüchtetes Kind aufnehmen! Während sich in Deutschland in der Isolation zu Hause gegenseitig das Leben gerettet wird, zählen nicht-deutsche Leben nur vereinzelt als überlebenswert. Ein Glück wird Solidarität in diesen Breitengraden groß geschrieben.
Zweiter Konter: Alle auf Lesbos festsitzenden Menschen werden auf europäisches Festland gebracht, angemessen versorgt und nicht wieder in ihre Herkunftsländer zurückgeschickt. – Tor! – Auf der Tribüne wird gejubelt. – Doch dann: der Schiri revidiert. Die kommunistische Zukunft stand im Abseits. – Es zeigt sich: Die Rettung dieser Menschenleben ist eine reale Möglichkeit. Sie wird nur auf dem Parkett der Weltpolitik nicht ausgespielt. – Die Tribüne tobt: der Schiri ist parteiisch! – Die Rettung vereinzelter Leben könnte geahndet werden als grobe Unsportlichkeit. Sie ist ein unfairer Spielzug. Nur für einmal hat der Schiri nicht hingeguckt und die Gegenwart bleibt am Ball.
Dritter Spielzug: Kommerzielle Galerien dürfen ab dem 22. April 2020 unter Einhaltung strenger Hygienevorschriften wieder öffnen. Berliner Museen öffnen ihre Türen ab dem 4. Mai, es folgen Restaurants und Einzelhandel. Am 2. Juni öffnen schließlich auch die Kneipen. Für Schulen heißt es allerdings: »Alle Schülerinnen und Schüler in Berlin sollen nach den Sommerferien wieder täglich in die Schulen gehen können.« Das ist zu diesem Zeitpunkt noch zwei Monate hin. Von den Hochschulen ganz zu schweigen.
Dritter Konter: Kulturstätten, Schulen und öffentliche Orte bleiben zugänglich und geöffnet. Niemand wird zu Hause eingesperrt oder auf der Straße sich selbst überlassen. Die Pandemie lässt sich auch anders eindämmen: Die Fabriken als Infektionsherde schicken ihre Arbeiter_innen nach Hause, bei fortwährender Lohnauszahlung. Die Betriebe und Carearbeit werden umorganisiert, damit wir weiter versorgt werden. Denn: Ein gutes Leben ist nicht gleich Überleben. Hat das gute Leben für alle Priorität, gilt: sozialer vor ökonomischem Nutzen. Das ist ein Argument, was gegen den Infektionsschutz eines weißen, deutschen Wir angebracht werden kann. Aber eines, was sich die Gegenwart nicht leisten kann. – Ecke für die Gegenwart und Tor. Die rechte Kurve jubelt.
Vierter Spielzug: Um die Wiederaufnahme des Spielbetriebs zu legitimieren, stellt die Medizinische Kommission des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) im Zuge der am 4. Juli 2020 in Kraft getretenen Neuen Infektionsschutzverordnung des Berliner Senats eine spannende Rechnung auf: »2019/20 betrug die durchschnittliche Kontaktzeit zwischen zwei Spielern in einem Spiel nur 18 Sekunden. Durchschnittlich hat ein Spieler etwas über 7 Minuten Kontakt zu allen anderen Spielern zusammen. In der gesamten Hinrunde gab es in keinem Spiel bei einer konkreten ›Spieler-Spieler-Kombination‹ eine Kontaktzeit in der Nähe von 15 Minuten (vom Robert Koch Institut zur Klassifikation von Kontaktpersonen zu SARS-CoV-2-infizierten Personen genutzte Schwelle, bei deren Überschreiten eine Isolierung folgt).« Neben der Nicht-Ansteckungsgefahr wird von der Medizinischen Kommission des DFB in einem zweiten Abschnitt die Zuträglichkeit von Fußballspielen für ein starkes Immunsystem angeführt. Schlussfolgerung der Kommission: begünstigt einen leichten Krankheitsverlauf bei Ansteckung mit Covid-19. Zwei Argumente mit demselben Ziel. Fußballspiel ist legitim, weil es zum Erhalt der deutschen Gesundheit beiträgt.
Vierter Konter: Der Bolzplatz vor dem Haus ist dem DFB egal, die Bundesliga nicht. Immer werden herrschende Interessen in rationale Argumente verpackt. Dass sie demnach immer auch Irrationales enthalten, interessiert am wenigsten die Cops. Die pfeifen nur. Und wir laufen – Abpfiff – um die Wette, wollte ich sagen.