| von Johann Erdmann |
Rassistische Unterscheidungen zwischen ›wir‹ und ›die‹ schlagen sich nicht nur kulturell nieder, sondern erfahren auch auf dieser Ebene Widerstand – wie im Fall Diasporischer Soundkulturen, die im Mix aus kulturellem Erbe und lokalen Einflüssen neue musikalische Ausdrucksformen schaffen, die gleichzeitig die Verhältnisse kritisieren, denen sie erwachsen.
In unserer Gesellschaft wird immer noch eine entscheidende Trennung gemacht, und zwar zwischen denen, die vermeintlich zu einer Nation gehören und denen, die davon ausgeschlossen sind. Diese Aufteilung erfolgt weiterhin anhand rassistischer Denkmuster, die mit Bezug auf vermeintlich natürliche Unterschiede zwischen einem ›wir‹ und einem ›die‹ trennen. Wohin diese von der Mehrheitsgesellschaft erzeugten Unterscheidungen in ›wir‹ und ›die‹ traurigerweise oftmals führen, erkennen wir nicht zuletzt am rassistischen Attentat von Hanau am 19. Februar 2020. Möge an dieser Stelle der Opfer gedacht sein. Dabei ist es wichtig, zu betonen, dass die rassistischen Trennlinien zwischen ›wir‹ und ›die‹, zwischen zugehörig und fremd, deutsch und ausländisch, nicht nur von Neonazis aufrechterhalten werden, sondern vielmehr zur Norm gehören.
Auch ich muss mich immer wieder fragen, ob ich nun zum ›wir‹ oder zum ›die‹ gehöre. Dabei habe ich es als Russlanddeutscher oft leicht, weil mich die Mehrheitsgesellschaft durch mein Aussehen, sprich weiß-Sein, nicht direkt als fremd markiert und sich mein russischer Akzent im Deutschen allmählich zu einem deutschen Akzent im Russischen gewandelt hat. Ich weiß aber auch, dass Angehörige anderer Diaspora-Gruppen sehr wohl einer Fremdmachung, einem othering ausgesetzt sind, welches sie als nicht zugehörig zu den Orten betrachtet, an denen sie möglicherweise bereits seit Generationen leben. Damit herrschen also ständig Widersprüche für diejenigen Personen, die als nicht zugehörig gesehen werden, es aber durch das Aufwachsen und Leben an einem bestimmten Ort dennoch sind.
Diesen Spannungen, die sich maßgeblich um Kultur und Identität drehen, möchte ich hier genauer auf den Grund gehen. Ich will zeigen, dass stereotype Trennungen zwischen fremd und zugehörig nicht den tatsächlich gelebten Realitäten entsprechen und herkömmliche Vorstellungen von Kultur und Identität oft viel zu statisch und von alten völkischen Denkmustern befallen sind. Um das zu erkunden, lade ich dazu ein, sogenannten diasporischen Soundkulturen Beachtung zu schenken. Denn in meinen Augen dienen Kunst, und dabei gerade die Musik, als wichtige Vehikel, um Erfahrungen selbstbestimmt und jenseits von Fremdzuschreibungen auszudrücken. Beispielsweise zeigt uns die Entstehungsgeschichte der Hip-Hop-Kultur, wie es prekarisierte Bevölkerungsgruppen geschafft haben, eine selbstermächtigende Kulturform zu kreieren. Dass diese Bevölkerungsgruppen größtenteils Afroamerikaner_innen oder Angehörige anderer Diaspora-Gruppen waren, ist kein Zufall.
Diasporische Soundkulturen als ›Dritter Stuhl‹
Es gibt zahlreiche Musikgenres auf der Welt, die auf der Grundlage diasporischer Erfahrungen entstanden sind, weshalb ich vorschlage, sie als diasporische Soundkulturen zu bezeichnen. Der Grund, warum ich nicht explizit von Migrationsbiografien spreche, ist, dass viele Menschen, die einer Diaspora-Gruppe angehören, oftmals gar keine eigenen Migrationserfahrungen gemacht haben. Trotzdem werden sie in ihrer ›Heimat‹ von der Mehrheitsgesellschaft nicht als zugehörig wahrgenommen. Diesen Umstand brachte die deutsche Hip-Hop-Gruppe Advanced Chemistry im Jahr 1992 mit »Kein Ausländer und doch ein Fremder«1 auf den Punkt, ebenso wie die Künstlerin Ebow im Jahr 2013 mit »Bin hier geboren, doch man sagt ich bin so different«.2 Diasporische Soundkulturen zeigen uns die Widersprüche zwischen Dazugehören und Fremd-Sein auf und rücken die kulturellen und politischen Missstände dahinter in den Vordergrund. Sie klären darüber auf, dass es nicht nur das ›wir‹ oder das ›die‹ gibt, sondern dass die Lebensrealität vieler Menschen aus einem Mix verschiedener Einflüsse besteht – und sozusagen einen ›Dritten Stuhl‹ zwischen den Stühlen bildet, wie es Rapperin Aziza A aus Berlin treffend beschreibt.3 Der ›Dritte Stuhl‹ ist damit ein Symbol für die Aufhebung kulturrassistischer Trennlinien, den sich Diasporit_innen durch ihre vielen verschiedenen kulturellen Einflüsse bauen. Das kann im konkreten Sinne bedeuten, dass sowohl der Döner als auch die Weißwurst in Deutschland zur Esskultur gehören – und anstatt sich für das eine oder andere entscheiden zu müssen, ein Weißwurst-Döner als ›Dritter Stuhl‹ entstehen kann (zugegeben vielleicht nicht die beste kulinarische Kombi, aber you get the point). Der ›Dritte Stuhl‹ zeigt, dass strikte Trennungen zwischen ›wir‹ und ›die‹ keinen Sinn ergeben. Und er zeigt auf, was es heißt, sich mit diesen Unterscheidungen, die leider trotzdem gemacht werden, auseinanderzusetzen und den Widersprüchen der eigenen Identität Ausdruck zu verleihen.
The struggle of diasporic culture
Wie die Entstehung des ›Dritten Stuhls‹ im Falle diasporischer Soundkulturen aussehen kann und dabei eine Antwort auf soziale Ungleichheiten darstellt, möchte ich anhand eines Blicks in die Geschichte der Diaspora in Großbritannien illustrieren. Entgegen der Vorstellung des dominanten Diskurses, der Migration heutzutage mit naturgewaltartigen Strömen Richtung Europa assoziiert, heißt das Migrationsverhältnis, das den Grundstein für unsere globalisierte Welt legte, Kolonialismus – und ging primär von Europa aus. So hat das British Empire mit transatlantischer Versklavung und Plantagenökonomie nicht nur die sogenannte industrielle Revolution, sondern auch zahlreiche Migrationsbewegungen initiiert.1 Wenn wir also beispielsweise von der großen afro-karibischen Diaspora in Großbritannien sprechen, dann müssen wir uns bewusst machen, dass sie deshalb existiert, weil die ökonomischen Machtinteressen des British Empire sie hervorbrachten. Und ebendiese Diaspora hat mitunter für den ökonomischen Aufschwung Großbritanniens nach dem Zweiten Weltkrieg gesorgt.1
Von unterbezahlter Arbeit und dem europäischen Kolonialrassismus blieb die Schwarze Diaspora dabei aber nicht verschont. Doch spätestens die zweite Einwander_innen-Generation hat seit den 1970er Jahren mit verschiedensten kulturellen Ausdrucksformen auf die abwertenden Ausschlüsse seitens der Mehrheitsgesellschaft reagiert.2 Es war eben auch die erste Generation, die sich fremd im eigenen Land fühlte, die reflektiert hat, was es bedeutet, an einem Ort aufzuwachsen, der nur weiße Menschen als vollwertige Bürger_innen betrachtet – was es heißt, Black und British zugleich zu sein.3 Diese Reflexionen fanden oftmals in der Musik statt, deren Klang sich am kulturellen Erbe orientierte, das zusammen mit den Menschen der Schwarzen Diaspora nach Großbritannien gereist ist, wie z.B. Reggae-Musik aus Jamaika. Doch mit der Zeit haben sich Klang und Inhalt der Musik durch lokale Einflüsse in Großbritannien verändert und zu musikalischen Produkten wie dem Anfang der 2000er Jahre entstandenen Grime geführt.4 Grime ist ein Paradebeispiel für den Mix aus kulturellem Erbe mit lokalen Einflüssen in der Diaspora: wenn z.B. die Reggae-Platte der Eltern im Wohnzimmer läuft, und gleichzeitig der Alltag im Arbeiter_innenviertel Ost-Londons bestritten wird, wo elektronische Tanzmusik gang und gäbe ist, entsteht ein ganz neues Soundsystem als ›Dritter Stuhl‹ und nennt sich in diesem Fall eben Grime.
Prekarisierung und diasporische Musik
Mit diesem Beispiel aus der britischen Geschichte wird deutlich, dass die rassistische Trennlinie zwischen einem ›wir‹, das in der Hierarchie oben steht, und einem ›die‹, das unten steht, vornehmlich dazu diente und heute noch dient, bestimmte gesellschaftliche Gruppen abzuwerten und ökonomisch auszubeuten. Nicht zufällig erledigen Diaspora-Gruppen im drastischen Maße die am schlechtesten bezahlten Jobs.1 Diasporische Soundkulturen dokumentieren diesen Zustand kontinuierlich, ob in Großbritannien, Deutschland, den USA oder an anderen Orten. Immer wieder lassen sich Parallelen in den Aussagen finden, die verschiedene diasporische Künstler_innen in Bezug auf prekäre Positionen treffen. Das Thema ist kontinuierlich präsent: 1992 rappt Toni L von Advanced Chemistry »Kaum einer ist da, der überlegt, auf das Wissen wert legt, warum es diesem Land so gut geht«2 – mit Bezug auf die Arbeit von Gastarbeiter_innen. Weiter geht es mit Celo im Jahr 2017: »Kampf um Existenz, Gastarbeiter«3 und Ebow im Jahr 2019:
»In mir drinnen stecken 1000 Leben […] Hab Flure geputzt, Häuser gebaut, wurde ausgenutzt, wurde ausgesaugt«.1 Um damit nur ein paar Beispiele zu nennen, die auf gemeinsame Erfahrungen von Diaspora-Gruppen hinweisen und zeigen, wie hierarchisierte Unterscheidungen zwischen ›wir‹ und ›die‹ materielle soziale Ungleichheiten verstärken.
Kultur ist kein Monolith
Diese Hierarchien sind auch heute noch so wirkmächtig, weil immer noch die verstaubte Ideologie greift, dass Europa ein für weiße und christliche Subjekte vorbestimmter Kontinent ist. Da hätten Kolumbus 1492 und alle, die darauf folgten, einfach daheimbleiben sollen. Denn wenn jahrhundertelang ›Beziehungen‹ mit anderen Teilen der Welt eingegangen werden, vermischen und verändern sich nun einmal Kulturen. Dass das noch keine allgemeine Akzeptanz erreicht hat, zeigt, wie tief diskriminierende Ideologien sitzen. Den eigenen ökonomischen Profit begrüßen, aber alle kulturellen Veränderungen, die mit Kolonialismus, Globalisierung und Gastarbeit einhergehen, ablehnen, oder sogar leugnen. Diasporische Soundkulturen sind ein Beweis dafür, dass kulturelle Verflechtungen in Europa Teil des Alltags sind – weil Sound und Inhalt auf Basis dieser Verflechtungen entstanden sind. Sie lassen uns verstehen, dass Kultur und Identität keine fixen Konstrukte sind, sondern ständigem Wandel unterliegen. Es gibt eben keine biologische Essenz, die einen mit Hunger nach Weißwürsten ausstattet. Kultur und Identität sind keine natürlichen Monolithen. Du isst das, hörst das und ziehst das an, womit du sozialisiert wurdest – was bedeutet, dass sich das alles immer wieder verändern kann und es keinen Sinn ergibt, zu sagen: ›Wir‹ sind eben so und ›die‹ sind eben anders. Deshalb ist es auch ein riesiges Problem, dass im öffentlichen Diskurs immer noch von ›deutscher Identität‹ oder Leitkultur gesprochen wird: »Ja, was ist das, was ist die deutsche Identität überhaupt?«1 fragt Megaloh von der Gruppe BSMG. Vermutlich gibt es auf die Frage ungefähr so viele verschiedene Antworten wie Menschen in Deutschland leben. So geht es bei diasporischen Soundkulturen auch darum, engstirnige Stereotype der Mehrheitsgesellschaft zu durchbrechen, wie es Ebow deutlich macht: »Ihr hasst mich, ihr hasst mich so richtig, denn diese Kanakin hier macht sich zu wichtig, ist zu gebildet, sieht zu gut aus, zersprengt eure Kästen muslimischer Frauen, autsch.«2
Wrap-Up
Das Beispiel diasporischer Soundkulturen verdeutlicht, dass die strikten Trennlinien zwischen fremd und zugehörig nicht den tatsächlich gelebten Erfahrungen der Menschen entsprechen, die darüber maßgeblich kategorisiert werden. Denn die vielen Phänomene des ›Dritten Stuhls‹ heben diese Trennlinien auf, da sich in ihnen verschiedene Einflüsse zu neuen kulturellen Ausdrucksformen zusammensetzen. Kulturelle Produkte wie Hip-Hop oder Grime zeigen, wie verbunden die Kulturen auf unserem Globus bereits seit Jahrhunderten sind und dass es keinen Sinn ergibt, sich kulturellen Verflechtungen zu versperren.
Allerdings sind die rassistischen Trennungen zwischen ›wir‹ und ›die‹ leider immer noch Teil der Gesellschaft. Und als ›die‹ gelten dabei immer die ›Anderen‹ – diejenigen, die Alltagsrassismus und struktureller Diskriminierung ausgesetzt sind. Bei rassistischen Attentaten wird immer noch von Einzelfällen gesprochen, in der Stuttgarter Polizei wird über Stammbaumforschung bei Straftaten diskutiert und diasporische Gruppen finden sich mit drastischer Häufigkeit in prekarisierten Positionen wieder. Und das sind nur einige Beispiele dafür, welche Folgen hierarchische Trennlinien zwischen Bevölkerungsgruppen haben. Daher ist es wichtig, kulturelle Produkte wie jene des ›Dritten Stuhls‹ nicht nur als Ergebnisse kulturellen Aufeinandertreffens zu betrachten, sondern sie auch als Widerstandspraktiken zu verstehen. Musikgenres wie Hip-Hop oder Grime sind nicht bloß kulturelle Mischformen, sondern transportieren auch politische Inhalte, die sich gegen Zuschreibungen richten, die von der Mehrheitsgesellschaft auf diasporische Gruppen projiziert werden. Der Aufbau des ›Dritten Stuhls‹ geht entsprechend mit Alltagskämpfen einher, die sich gegen ein immer wieder reproduziertes othering richten. Es geht also darum, dass Diasporit_innen nicht einfach zwischen den Stühlen sitzen, aber gleichzeitig auch zu sehen, dass sie dennoch weiterhin als anders markiert werden. Damit Ersteres anerkannt und Zweiteres bekämpft werden kann, ist es unter anderem enorm wichtig, dem Wiedererstarken von rechtsextremem Gedankengut keinen Raum zu bieten und vielmehr dahin zu kommen, dass wir unsere Unterschiede schätzen können und mit ihnen arbeiten, anstatt sie hierarchisch zu bewerten. Damit sich niemand mehr fremd im eigenen Land fühlen muss.
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1 Advanced Chemistry: Fremd im eigenen Land, 1992.
2 Ebow: Oriental Dollar, 2013.
3 Sascha Verlan und Hannes Loh: 35 Jahre Hip-Hop in Deutschland, Hannibal 2015, S. 34.
4 vgl. Kwesi Owusu: Black British Culture & Society. A Text Reader., Routledge 2000, S. 1ff.
5 Vgl. Gail Low und Marion Wynne-Davies: A Black British Canon? , Palgrave Macmillan 2006, S. 8.
6 Vgl. Eddie Chambers: Roots & Culture: Cultural Politics in the making of Black Britain., I.B.Tauris 2017, S. 6ff.
7 Vgl. Ebd.
8 Vgl. Jon Stratton und Nabeel Zuberi: Black Popular Music in Britain since 1945., Ashgate Publishing 2014, S. 3ff.
9 In Bezug auf Deutschland siehe Studie des DeZIM-Instituts vom 25. Mai 2020. Vor allem in prekären systemrelevanten Berufen sind Migrant_innen im Vergleich zu ihrem Anteil am Arbeitsmarkt überrepräsentiert, also z.B. in der Pflege, Reinigung oder Fahrzeugführung.
10 Advanced Chemistry: Fremd im eigenen Land, 1992.
11 Celo & Abdi: Diaspora, 2017.
12 Ebow: K4L, 2019.
13 BSMG. 2017. A Black German Narrative.
14 Ebow. 2017. Punani Power.