| von Karla Hecks |
Der Roman Aydin kontrastiert die angebliche Erfolgsgeschichte des deutsch-türkischen Anwerbeabkommens mit der biografischen Wirklichkeit eines Gastarbeiters und ist dabei auch für die heutige Zeit hochrelevant.
Am 30. Oktober 1961, vor mittlerweile 60 Jahren, wurde das deutsch-türkische Anwerbeabkommen vom Auswärtigen Amt in der türkischen Botschaft in Bonn unterzeichnet. Die Folgen dieses Vertrags prägen unsere Gesellschaft bis heute. Von der deutschen und türkischen Regierung wird das Abkommen als Erfolgsgeschichte inszeniert, denn es war ein gutes Geschäft für beide Parteien. Doch aus Sicht der arbeitenden Menschen, die mit ihren Körpern für diesen wirtschaftlichen Erfolg bezahlt haben, ergibt sich ein anderes Bild.
Bayraktars im Oktober 2021 erschienener Roman Aydin – Erinnerung an ein verweigertes Leben (Unrast Verlag) zeichnet literarisch die Biografie eines solchen Menschen, nämlich von Aydin oder, wie er in seiner Heimat bekannt war, Celal. Dass der Protagonist zwei Namen trägt, steht symbolisch für die Zerrissenheit seines Lebens, die aus dem Zwiespalt zwischen zwei Kulturen erwächst. Mit 16 Jahren verlässt der Jugendliche das Dorf in den Bergen der Türkei, um mit seinem Vater und seinem Bruder in Deutschland Arbeit zu finden. Den Namen Celal trägt er als Erinnerung an seinen gleichnamigen Onkel, der starb, als Aydin noch ein Kind war. »Mir schien, dass der Name Aydin eine Chiffre für ein Familiengeheimnis war, wonach ich besser niemals fragen sollte. Also fragte ich nie danach und ich hatte auch nie weiter darüber nachgedacht – bis heute. Wer ist Aydin?«
Als er nach Deutschland kommt, trägt er den Namen, der in seinem Pass steht. Dort heißt er Aydin und für Aydin gelten andere Regeln. Zunächst wirkt das Leben in Deutschland wie eine Befreiung von den Traditionen und der Enge des Dorfes. Doch schildert der Roman mit messerscharfen Formulierungen auch die Kehrseite dieser Befreiung. Deutschland war nicht an Aydin interessiert, sondern an seiner Arbeitskraft und seinem Körper.
Er lebt zusammen mit seinem Vater und seinem Bruder zusammengepfercht auf kleinem Raum, ohne Privatsphäre. Das Leben ist getaktet durch die Schichtarbeit in der Fabrik. Kurz nach Aydins Volljährigkeit kehrt sein Vater zurück in die Türkei. Ein zweites Mal verlässt er seinen Sohn. Der Roman erzählt auf individueller Ebene, was auf gesellschaftlicher geschehen ist und weiß beides zu verknüpfen. Ganze Familien wurden durch das Anwerbeabkommen zerrissen und mussten dies durch ökonomische Zwänge in Kauf nehmen. Er macht durch die sinnlichen Eindrücke der Lebensrealität sogenannter ›Gastarbeiter‹ deutlich, wie die Profitlogik des Kapitals Unmenschlichkeit billigend und bewusst in Kauf nimmt. Die sinnliche Erfahrbarkeit, die Bayraktars gelungene literarische Schilderung möglich macht, ist nicht durch kalte Fakten ersetzbar und genau das macht sie so mächtig und wirkungsvoll. Man hat das Gefühl, als Leser_in die Wut und Ohnmacht von Aydin mitzuerleben und in den nahezu analytischen Passagen werden die gesellschaftlichen Gründe dafür aufgezeigt. All diesen Menschen, die bei der vermeintlichen Erfolgsgeschichte des Anwerbeabkommens unter die Räder gekommen sind, gibt das Buch eine Stimme. Er gibt ihnen Selbstbewusstsein.
Obwohl es sich bei Aydin um einen Roman handelt, der sich durch eine eigene und handwerklich gelungene Komposition auszeichnet, ist der reale Gehalt unverkennbar. Es handelt sich in gewisser Weise um eine authentische Fiktion. Das macht der Autor durch den Ich-Erzähler deutlich, der die Perspektive des Neffen von Aydin einnimmt. Die intimen Einblicke in die Gedankenwelt eines trauernden Angehörigen, der mit der kalten Wut über die Ungerechtigkeit kämpft, die seinem Onkel widerfahren ist, geben der Migrationsgeschichte der ›Gastarbeiter‹ ein reales Gesicht. Diese Wut ist wie ein Motor seines Schreibens: »Die Wut, und nur die Wut, liefert mir ein Alphabet, eine Sprache, um das hier zu schreiben.« Der Ich-Erzähler ist im Gegensatz zu seinem Onkel, der nie wirklich Bildung erhalten hat, fähig, die gesellschaftlichen Strukturen zu erkennen, die Aydin zu einem Außenseiter, zu einem nicht mehr Verwertbaren gemacht haben, bis er im Geburtsjahr des Erzählers abgeschoben wurde, nämlich 1990/91. »Während in der neuen Hauptstadt die Mauer fiel und einige Bruchstücke als Souvenir eines Triumphs bewahrt wurden, um die Besiegten zu verspotten, sah Aydin bloß die hohen Gefängnismauern, die einem Ausschnitt von der Sperranlage um den Gazastreifen glichen.«
Durch zeitgeschichtliche Einschübe und gesellschaftlichen Kontext hebt er die individuelle Geschichte fortwährend auf eine allgemeine Ebene und lässt sie im nächsten Moment wieder ins Besondere von Aydins Leben fallen. Mensch und Gesellschaft sind miteinander verwoben. Darum ist der Roman Aydin für jeden, der heute in Deutschland lebt oder etwas über seine jüngste Geschichte verstehen will, ob migrantisch, post-migrantisch oder nicht-migrantisch, ein absolutes Muss.
Mesut Bayraktar: Aydin – Erinnerung an ein verweigertes Leben. Unrast Verlag, 148 S., Softcover, 14,- €, Oktober 2021.