Füreinander sorgen, um zusammen stark zu sein – HUch#93

| von Cay K. |

Zwischen Bedrohung von Nazis online und Alltagsdiskriminierung auf der Straße erkämpfen sich Queers in der Ukraine ihre Räume und Solidarität. Ein Erfahrungsbericht.1

In der Ukraine queer zu sein – und insbesondere queer und politisch aktiv zu sein – ist schwer und gefährlich. Die Situation hinsichtlich der Rechte von LGBTQIA* ist in der Ukraine weiterhin sehr problematisch und die queere Community ist mit einer Menge an Schwierigkeiten und Opposition konfrontiert. Trotzdem führen queere Aktivist_innen ihren Kampf fort, und die Situation verbessert sich graduell. Im Laufe der letzten zwei Jahre ist die anarcha-queere Bewegung in der Ukraine gewachsen. Wir haben Proteste organisiert und unsere eigenen Reihen in der Pride in Kiew und Charkiw organisiert, haben Bannerdrops durchgeführt und Graffiti gemalt, haben Netzwerke für gegenseitige Hilfe aufgebaut und vieles mehr. Dennoch stehen wir weiterhin systemischer Queerphobie, Transphobie und dem Widerstand der extremen Rechten gegenüber. Und obwohl die Nazis keine Sitze im Parlament haben, ist ihre Macht auf der Straße groß. Sie intervenieren bei linken Demonstrationen, belästigen und attackieren queere Menschen auf der Straße, erpressen und bedrohen uns online. Nazis versuchen es so aussehen zu lassen, als sei die gesamte ukrainische Gesellschaft rassistisch, queerphob und misogyn. Tatsächlich gibt es eine kleine Gruppe rechter Personen, die es geschafft haben, sich innerhalb der Regierungsstrukturen zu etablieren und Medienpräsenz zu erlangen.

Diese Verbindungen in die staatlichen Strukturen hinein zeigen sich in dem Schutz von Rechten durch die Polizei. Während jeder Pride Parade versuchen Rechte, Demonstrant_innen anzugreifen, werden dafür aber nicht festgenommen oder aber nach wenigen Stunden wieder entlassen. Währenddessen bedanken sich Liberale am Ende der Parade demonstrativ bei der Polizei für ihren Schutz. Einmal im Jahr wird dieses Schauspiel für die westlichen Staaten aufgeführt, während queere Menschen den Rest des Jahres weiterhin Queerphobie und Transphobie ausgesetzt sind. Die Pride Parade ist also paradigmatisch für das, was tagtäglich geschieht: Rechte attackieren Menschen, die queer sind – oder auch nur so aussehen – auf der Straße und werden im Nachhinein nicht dafür zur Verantwortung gezogen.

Trotz dieser Attacken ist die Pride Parade wichtig für unsere queere Solidarität und Sichtbarkeit, und sie ist auch ein Ergebnis politischer Kämpfe. Obwohl es in der Ukraine seit 2012 Versuche gab, eine Pride Parade zu veranstalten, fand sie erst 2015 zum ersten Mal statt, nämlich nach der Revolution der Würde, auch als Euromaidan bekannt, und nachdem die Vereinigten Staaten 190 Millionen Dollar für eine Polizeireform zur Verfügung gestellt hatten. Seit der Revolution wird die ukrainische Gesellschaft allmählich weniger homophob. Viele Menschen haben begonnen, die Vorstellungen von Gleichheit, Toleranz und sozialer Gerechtigkeit zu akzeptieren. Jedes Jahr versammelt die Pride Parade mehr und mehr Menschen und trotz der anhaltenden Gefahr und den Attacken der extremen Rechten gehen queere Personen und allies2auf die Straße, um ihren Raum zu beanspruchen und um gleiche Rechte und Respekt einzufordern.

Doch die Revolution der Würde hat auch ein Florieren der extremen Rechten eingeleitet. Die Linken haben es nicht geschafft, in den Protesten sichtbar zu sein und als sie – die im Gegensatz zu den Rechten unbewaffnet waren – ihre eigenen Formationen gründeten, wurde dies von den bewaffneten Rechten verhindert. Dennoch waren Linke – entgegen der Darstellung in den Medien – an den Protesten beteiligt. Sie schafften es aber nicht zu verhindern, dass die extreme Rechte die Agenda der Proteste allmählich von einer pro-demokratischen zu einer nationalistischen hin veränderte. Obwohl queere Menschen also aktiv an den Euromaidan Protesten und dem Krieg in der Ukraine teilgenommen haben, waren sie gezwungen, ihre Sexualitäten und Identitäten zu verstecken.

Als der Krieg mit Russland begann, beteiligte sich die extreme Rechte aktiv und bildete Bataillone, wodurch in der Bevölkerung das Vertrauen für sie zunahm. Rechte präsentierten sich als Nationalist_innen, die für die Unabhängigkeit der Ukraine kämpfen, was ihnen dabei half, Sympathien unter den Liberalen zu gewinnen. Die Rechte begann, trendy zu werden und selbst die Extremsten unter den Rechten, wie beispielsweise Sergey Korotkikh3, wurden als Teilnehmer_innen am Krieg gegen Russland zu TV-Shows eingeladen und als Helden gefeiert, während unter den Tisch gekehrt wurde, dass sie Nazis waren. Tatsächlich passiert es weiterhin, dass Nazi-Organisationen, wie Tradition and Order, National Resistance oder S14 auf ihren Demonstrationen Hitlergrüße zeigen.

In der aktiven Phase des Kriegs bewegte sich die ukrainische Agenda zunehmend von einer pro-demokratischen zu einer nationalistischen und extremen Rechten. Den Nazis gelang es, in der Ukraine eine starke rechtsextreme Bewegung aufzubauen, die Verbindungen in hohe Ebenen der staatlichen Strukturen hatte und die ihre eigenen Bataillone und Trainingslager unterhielt, während sie ihre Ansichten hinter der patriotischen Marke der ›Teilnehmenden im Krieg gegen Russland‹ versteckten. Gleichzeitig kamen zunehmend Nazis aus Russland und Belarus in die Ukraine, um sich den rechtsextremen Organisationen anzuschließen, während Nazis aus Europa und den USA anreisten, um Kontakte zu knüpfen und Kampferfahrung zu sammeln.

Obwohl die Nazis keine Sitze im Parlament haben, verfügen sie also dennoch über eine ganze Menge Macht und ausreichend Ressourcen, um das Leben marginalisierter Communities schwer zu machen. Zurzeit ist Cyber-Mobbing eine der Hauptmethoden der Nazis gegen Linke und Queers. In ihren Telegram Kanälen posten sie persönliche Informationen wie Social-Media-Links, Telefonnummern, Wohnadressen oder deadnames4über queere Personen. Folge dieser Verbreitung ist, dass queere Menschen online und per Telefon belästigt werden, Todesdrohungen erhalten oder Bilder von ihren Wohnorten mit dem Versprechen, dass man sie finden werde. Dabei dienen nicht nur Aktivist_innen als Zielscheibe, sondern auch Personen, die einfach nur queer aussehen.

Diese Umstände führen dazu, dass queere Menschen sich nicht sicher fühlen, aber sie radikalisieren uns auch und zwingen uns, aktiver zu kämpfen. Die queere Community in der Ukraine ist nicht sehr groß, aber aufgrund all der Hürden, denen wir ausgesetzt sind, kümmern wir uns umeinander und vereinen uns in Solidarität. Wir tragen Sorge füreinander, um zusammen stark zu sein.

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1 Der Text wurde im Oktober 2021 verfasst.

2 Selbst nicht betroffene Personen, die mit marginalisierten – in diesem Fall queeren – Personen solidarisch sind.

3 Ein Mitglied des neonazistischen Azow-Regiments, das aktiv am Krieg in der Ukraine beteiligt war. [Anm. d Red.]

4 Name, der einer trans* Person bei Geburt zugewiesen wurde, der von der Person aber nicht mehr verwendet wird und entsprechend eine sensible und potenziell verletzende Information darstellt.