| von Mesut Bayraktar |
Hegels Philosophie beschreibt Ereignisse und bürgerliche Bewusstseinsgestalten, die in ihrer Allgemeinheit auch noch unseren Erfahrungen entsprechen. Indem er die revolutionäre Rolle vom Wesen der Arbeit in der Geschichte erfasst hat, konnte er die Lehre von der Dialektik systematisch entwickeln. Den revolutionären Pulsschlag erfährt seine Dialektik durch das, was er »Pöbel« nennt.
Schon Karl Marx warnte in seinem Hauptwerk davor, Hegel wie einen »toten Hund« zu behandeln. Und Wladimir I. Lenin, der während des imperialistischen Gemetzels in Zürich Hegel studierte, setzte einen drauf, indem er eine materialistische Auslegung von Hegels Dialektik forderte, ohne die weder Marx‘ Analyse des Kapitalismus noch der Klassenkampf gänzlich begriffen werden könne – erst recht nicht die praktische Überwindung der Klassengesellschaften durch die Arbeitenden und Unterdrückten. Hegels Philosophie ist nicht nur Quelle, sondern gleichsam Bestandteil einer von revolutionärer Theorie geleiteten Praxis, welche die Theorie mit Erfahrungen anreichert. Wer Hegel den Ideologen an den Universitäten, den Berufskonterrevolutionären von Staats wegen und den bürgerlichen Intellektuellen im Feuilleton überlässt, führt trotz rebellischer Gesten meist symbolische Kämpfe, mithilfe derer die von der herrschenden Klasse eingerichtete soziale Welt legitimiert wird. Das beginnt, wo das Ganze aus dem Blickfeld gerät oder das eigene Blickfeld für das Ganze gehalten wird. Wer Hegel aufgibt, wird auf kurz oder lang entweder zu Theoriemüdigkeit und Eklektizismus1 auf der einen oder zu einer Furcht vor einer Verlebendigung radikaler Theorie und einem Praxisfetischismus auf der anderen Seite neigen. Beides wird bezahlt mit einem Verlust an Realitätssinn.
Hegels zentrale Bedeutung im Kampf um eine Assoziation, worin die freie Entwicklung der einzelnen die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist, wird insbesondere bei der Frage nach dem Wesen der Arbeit in der Geschichte und der Rolle der Arbeit in der bürgerlichen Gesellschaft deutlich. Um Letzteres soll es folgend anhand der politischen Philosophie Hegels gehen, die in seinem Alterswerk Grundlinien der Philosophie des Rechts (1820/21) ausgearbeitet ist – eine begriffliche Systematisierung praktisch-politischer Fragen im Werden der bürgerlichen Gesellschaft.
Der soziale Krieg
Im Zuge der neoliberalen Phase des Kapitalismus sind Phänomene wie Erwerbsarmut (»working poor«), Arbeit im Niedriglohnsektor, prekäre Arbeit, digitale Fließbandarbeit, zerklüftete Arbeitsbiografien, Arbeitsmigration und die permanente Bedrohung, den Arbeitsplatz zu verlieren, allgegenwärtig. Die Lazarusschicht2 hat längst die arbeitenden Klassen von innen erfasst. In der Bundesrepublik Deutschland wurde zum Beispiel der größte Niedriglohnsektor Europas installiert und im Zuge der Pandemie die Lohnarbeit weiter flexibilisiert, gar nicht erst zu sprechen von den neuen Strategien des Kapitals, angesichts der Digitalisierung in der Industrie oder durch digitale Plattformen enorme Profite zu erzielen. Für dieses von Unsicherheit, Zukunftsangst und Degradation bedrückte Leben findet sich schon bei Hegel eine zentrale Kategorie: der Pöbel.
Dass die bürgerliche Gesellschaft sich in Klassen aufteilt und diese von ihrer ökonomischen Stellung zur gesellschaftlichen Produktion abgeleiteten Klassen antagonistische Beziehungen zueinander haben, war für Hegel, der mit der englischen politischen Ökonomie von Adam Smith bis zu David Ricardo bestens vertraut war, vollkommen klar. Anders als seine Vorgänger auf dem Gebiet der politischen Philosophie hat Hegel erstens das Diktum von Thomas Hobbes‘ »Bellum omnium contra omnes«, also den Krieg aller gegen alle, unmittelbar mit der bürgerlichen Gesellschaft identifiziert. Dieser soziale Krieg endet nicht mit einem Übergang in einen Gesellschaftszustand, der durch die historische Dichtung eines Gesellschaftsvertrags bewerkstelligt wäre. Im Gegenteil: Mit der bürgerlichen Gesellschaft beginnt der soziale Krieg, der vertragstheoretisch geheiligt wird. Zudem gesteht Hegel zweitens der neuen Gesellschaftsformation eine relative Selbstständigkeit gegenüber der Familie und dem Staat als soziale Sphären zu. Die bürgerliche Gesellschaft ist für Hegel aufgrund ihrer ökonomischen Dynamik ein Heraustreten des Gemeinwesens aus überholten Bindungen, einst durch Blut, Krone und Gott legitimiert. Seither bestimmt das Privateigentum an den Mitteln zum Leben Macht und Hierarchie. Dieses Heraustreten der Ökonomie, ihre Verselbstständigung und Dominanz gegenüber allen Sphären des Lebens, geht drittens mit der Auflösung des Gemeinwesens zu Privatinteressen einher. Das Dogma vom Individualismus entsteht. Gerade die Kombination dieser Einsichten bilden den entscheidenden Zugang, der Hegel erlaubte, die Moderne als Zeitalter der Revolutionen zu definieren.
Arbeit als grundlegender Modus des Menschen
Hegel fasst die Moderne als warenproduzierende Arbeits- und Tauschgesellschaft. In ihr »ist jeder sich Zweck, alles andere ist ihm nichts. Aber ohne Beziehung auf andere kann er den Umfang seiner Zwecke nicht erreichen; diese anderen sind daher Mittel zum Zweck des Besonderen.« (§ 182) Dabei beschreibt er die kapitalistische Ökonomie mit Schlagwörtern wie »System allseitiger Abhängigkeit«, »Not- und Verstandesstaat«, »Stufe der Differenz«, »Schauspiel ebenso der Ausschweifung, des Elends und des beiden gemeinschaftlichen physischen und sittlichen Verderbens«, »Kampfplatz des individuellen Privatinteresses aller gegen alle« und »Wimmeln von Willkür«. Nichtsdestotrotz sieht Hegel, dass dieses »anscheinend Zerstreute und Gedankenlose […] von einer Notwendigkeit gehalten« wird, »die von selbst eintritt« (§ 189), und fügt hinzu, dass dieses Notwendige aufzufinden der Gegenstand der politischen Ökonomie ist. Damit nimmt Hegel vorweg, was etwa fünfzig Jahre später Marx auf den Plan ruft. Hegel aber erkannte schon, dass der notwendige Zusammenhang vermittelt wird durch die Arbeit.
Arbeit umschreibt für Hegel ein grundlegendes Verhältnis des Menschen zum Menschen und zur Natur. Sie ist das Mittel der Befreiung. Durch sie vollzieht sich die Selbstbildung des Menschen zum Subjekt und die Enthebung von Naturzwängen. Sie bindet in den gesellschaftlichen Verkehr ein, wodurch die Akteur_innen die Mittel erhalten, sich zu Individuen abzusondern und das zu verwirklichen, was das bürgerliche Zeitalter allen dem Begriff nach einräumt – Freiheit.
Dieser Begriff, mit dem revolutionären Pulsschlag von 1789 gestählt, markiert für Hegel den Paradigmenwechsel zwischen Vormoderne und Moderne. Radikal setzt er die Freiheit als die Idee des Rechts schlechthin. Das Menschsein des Menschen ist die Freiheit und das Recht, sie einzufordern, hat jedes anerkannte Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft. Manchmal ist sogar die Anerkennung noch, dass man Mensch ist, zu erkämpfen, wie etwa (queer-)feministische, antikoloniale und migrantische Kämpfe zeigen. Mit Hegel ist die Geschichte nicht nur als Freiheitsgeschichte zu denken. Freiheit, einmal ins Dasein getreten, bildet fortan den gesellschaftlichen Seinsgrund. Auf diesem Boden haben etwa per Definition zu Sklav_innen erniedrigte Menschen, so Hegel, das Recht Widerstand zu leisten, auch mit Gewalt – so wie in der Haitianischen Revolution 1791.
Selbstaufhebung des Pöbels
Hier jedoch stößt Hegel auf ein Problem, den Pöbel. Er fungiert als Grenzbegriff zum einen für den tief verankerten Widerspruch, dass Privateigentum nicht Voraussetzung, sondern die Liquidierung des universellen Prinzips der Freiheit ist und dass Freiheit vielmehr soziale Gleichheit zur Voraussetzung hat. Zum anderen steht er für den Selbstwiderspruch der bürgerlichen Gesellschaft, Freiheit für alle historisch versprechen zu müssen, sie aber faktisch nicht für alle einlösen zu können, das sie auf Aneignung fremder Arbeit gründet.
Innerhalb seiner Analyse ist der Pöbel für Hegel verkörperte Armut in der bürgerlichen Gesellschaft, die »in ungehinderter Wirksamkeit« die »Anhäufung von Reichtümern« vermehrt, aber auch die »Abhängigkeit und Not der an […] Arbeit gebundenen Klasse« erweitert (§ 243). Dabei kommt es zu einer paradoxen Situation. Der arbeitenden Klasse wird der »Genuss der weiteren Freiheiten und besonders der geistigen Vorteile« nicht wegen des Fehlens, sondern gerade durch das intakte Funktionieren bürgerlicher Ordnung verweigert, sodass aus dem »Herabsinken einer großen Masse unter das Maß« eines Existenzminimums der Pöbel entsteht. Der Pöbel ist struktureller Anhang der arbeitenden Klasse, ihr Gravitationsfeld. Armut ist nicht – wie in der Vormoderne – Ergebnis von fehlendem, sondern sich vermehrendem Reichtum. So schlägt die Arbeit als Mittel der Selbstbefreiung um in das Mittel der Knechtschaft der Arbeitenden.
Dabei kann der Pöbel seine Existenz als Pöbel nicht durch Arbeit abstreifen und doch beruft er sich auf das Recht auf Arbeit und damit die Möglichkeit der Selbstbildung, weil ihm dem Begriff nach seine Freiheit eingeräumt wird. Hier weiß Hegel keinen Ausweg. Er stellt nur fest, dass »zum Vorschein« kommt, »dass bei dem Übermaße des Reichtums die bürgerliche Gesellschaft nicht reich genug ist, d.h. an dem ihr eigentümlichen Vermögen nicht genug besitzt, dem Übermaße der Armut und der Erzeugung des Pöbels zu steuern« (§ 245), da die Erzeugung des Pöbels »zugleich die größere Leichtigkeit, unverhältnismäßige Reichtümer in wenige Hände zu konzentrieren, mit sich führt« (§ 244). Durch diese Dialektik der Klassen wird die bürgerliche Gesellschaft »über sich hinausgetrieben« (§ 246). Doch wohin – das entzieht sich Hegels Horizont.
Die Angehörigen des Pöbels werden als freie Subjekte anerkannt. Sie bleiben jedoch in ihren Prädikaten, also in ihrem Tun, in Unfreiheit gefangen, eben weil ihnen die Mittel der Selbstaufhebung durch Arbeit, womit sie die Bedingungen ihrer kläglichen Existenz überwinden könnten, verwehrt werden. Sie sind die unfreien Freien.
Da die Erzeugung des Pöbels den ganzen Umfang der Realisierung der Freiheit angreift, etwa durch Hunger oder verarmende Arbeit das Subjektsein und damit das Leben selbst negiert wird, ist für Hegel der Gesetzesübertritt des Pöbels gerechtfertigt. Er ist nach Hegel der Versuch, einer Situation zu entfliehen, die von »totaler Rechtslosigkeit« gekennzeichnet ist, gleichbedeutend mit Sklaverei. Das »Notrecht« der unfreien Freien ist die Konsequenz, die »Polizei« nach innen und die »Kolonisation« nach außen sind die Antwort der Besitzenden.
Dass Hegel aus dieser Zerrissenheit keine weiteren Schlüsse zieht, liegt auch daran, dass er die historisch-konkrete Form von Arbeit, die in der kapitalistischen Produktionsweise als Lohnarbeit auftritt, nicht erkannte und die Logik kapitalistischer Ausbeutung zwar ahnte, sie aber nicht auf den Begriff zu bringen vermochte. Dennoch verstand er die revolutionäre Bedeutung von Arbeit als entscheidendes Produktions- und zugleich Gewaltverhältnis der Moderne. Seine Analyse des Pöbels bezeugt es. Der Pöbel ist Chiffre für die Gespenster der Bürgerlichen, die sie mit ihrem Freiheitspathos freigesetzt haben, ohne imstande zu sein, Freiheit universell zu verwirklichen.
Von Hegel zu Marx
Während der Arbeitsprozess – neben der Natur – eine Quelle stofflichen Reichtums von Gebrauchswerten ist, wie Marx feststellt, ist sie zugleich als Verwertungsprozess der Ort sozialer Gewalt, wo zugunsten der Kapitalvermehrung der Körper vernutzt, der Geist entfremdet und der Wille gebrochen wird. Der Pöbel erinnert daran, permanent. Er spiegelt den Bürgerlichen ihr schlechtes Gewissen wider, vor dem sie mit allen Mitteln – vor allem einer Kultur der Verdrängung – fliehen.
Noch bevor Marx kapitalistisch organisierte Gesellschaften einer radikalen Kritik unterzog, hat Hegel uns systematische Denkmittel an die Hand gegeben, um Ereignisse und bürgerliche Bewusstseinsgestalten zu beschreiben. In ihrer Allgemeinheit handelt es sich um Erfahrungen, die auch noch unsere sind. Während zu Hegels Zeiten aber der Pöbel nationales Phänomen war, erzeugt die kapitalistische Weltwirtschaft einen Weltpöbel von ungeheurem Ausmaß. Die Antworten der Herrschenden, nämlich die Kolonisation nach außen, wie es bei Hegel heißt, schlägt heute um in Imperialismus, und die Polizei nach innen um in gewaltige Repressionsmaschinen und inneren Militarismus, sowohl im eigenen Land wie auch an den EU-Grenzen. Die Denkbewegung von Hegel zu Marx wiederherzustellen, bedeutet auch, sämtliche Kämpfe gegen Unterdrückung und Ausgrenzung als verschiedene Seiten eines gemeinsamen Kampfs gegen das System der Unterdrückung und Ausbeutung zu begreifen. So erkannte Marx – auch Lenin – dass in der Erzeugung des Pöbels die Möglichkeit eines sich selbst ermächtigenden Proletariats steckt.
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1 Eklektizismus meint ein Denken ohne Prinzipien und die ständige Anpassung an ‚neue‘ Strömungen. Sie ist die Geisteshaltung des Opportunismus, vermeidet Einheit und Systematik der Theorie und setzt vielmehr wahlweise aus Teilen unterschiedlicher Theorien eine ‚Theorie‘ zusammen.
2 Hegel gibt die Lazzaroni als Beispiel für die Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft an, die der Zufälligkeit überlassen sind. Karl Marx beschreibt mit »Lazarusschicht« im Kapital Bd. I die Sphäre der Armen, Prekären und Arbeitslosen innerhalb der arbeitenden Klasse sowie die relative Überbevölkerung, künstlich herbeigeführt durch den Kapitalismus, s. MEW 23, 673.