Wi(e)der ‚wilde’ Streiks – HUch#94

| von Max Muszak |

Wirft man aus juristischer Perspektive einen (Rück)Blick auf die Streiks, die insbesondere im letzten Jahr bei Lieferdiensten wie Gorillas stattgefunden haben, lassen sich Kontinuitäten aus der NS-Gesetzgebung aufzeigen.

Bild: Felix Deiters

verschiedenen Ebenen und von verschiedenen Seiten. In Deutschland zeigen sich bei diesen Repressionen bis heute Kontinuitäten aus dem Nationalsozialismus, die hier mit Blick auf die juristische Ebene aufgezeigt werden sollen. Denn der Kampf gegen den Widerstand von Arbeiter_innen wird nicht nur auf der Arbeit oder Straße geführt, sondern auch innerhalb des Gesetzes. Verschiedene Akteur_innen in Staat, Hochschulen und anderen ausbeuterischen Konzernen greifen seit Bestehen des Grundgesetzes die dort den Arbeiter_innen garantierten Freiheiten an. Angegriffen wird dabei das Recht von Arbeiter_innen, gegen ihre eigene Ausbeutung zu kämpfen.

Recht(lich)e Angriffe auf Arbeiter_innen

Juristische Attacken kommen einerseits von Richter_innen mithilfe des sogenannten „Richterrechts“,1 also der „Rechtsfortschreibung“ von Gesetzen in Form von richterlichen Urteilen. Das bedeutet, dass konservative oder rechte Richter_innen in Gerichtsverfahren das Grundgesetz in ihrem Sinne auslegen, Entscheidungen zumeist zu Ungunsten von Arbeiter_innen treffen und damit Präzedenzfälle dafür schaffen, dass zukünftig im Rechtsfall gegen Arbeiter_innen entschieden wird. Ergänzt wird diese Praxis durch Juraprofessor_innen an Hochschulen, die per Kommentar, Gutachten und wissenschaftlichem Diskurs eine vermeintlich neutrale Legitimation für bestimmte Gesetzesdeutungen vorlegen. Richter_innenrecht und Rechtswissenschaft können so bestimmte Meinungen rechtlich geltend machen, die jedoch vom ursprünglichen Sinn der (Grund-)Gesetze abweichen können. Einige Akteur_innen verklären also Gesetze dermaßen, dass sie deren Intention umkehren. So werden aus Freiheiten Verbote, ohne dass sich ein Wort des Gesetzes ändert. Es ändert sich nur die ‚herrschende Meinung’ über dieses Gesetz.

Einige wenige Menschen in bestimmten Positionen, die nur verzögerter, indirekter und eingeschränkter demokratischer Kontrolle unterliegen, sind also fähig, den grundgesetzlichen Schutz des Streiks umzudeuten. Die grundsätzlich politische Meinung einiger weniger, dass „Arbeitskämpfe im Allgemeinen unerwünscht“2 seien, wird damit rechtlich geltend gemacht. In Deutschland hat dies insbesondere dazu geführt, dass das Streikrecht auf gewerkschaftlich geführte Tarifstreiks eingeschränkt wurde. So wurde aus einer den Arbeiter_innen im Grundgesetz garantierten Koalitionsfreiheit ein Verbot von „nicht-gewerkschaftlichen“,3 „verbandsfreien“, „unorganisierten“, „spontanen“ oder „wilden“ Streiks. Selbstorganisierte Kämpfe von Arbeiter_innen wurden damit illegalisiert. Dabei ist es kein Zufall, dass zur rechtlichen Delegitimierung von Streiks, die eben mehr als nur Tarifverhandlungen umfassen, solche klassistischen und vor allem rassistischen Begriffe in Anschlag gebracht werden: die NS-Ideologie schreibt sich bis in die heutige Rechtsprechung fort.

Kontinuitäten aus der NS-Zeit

Speziell aus der Nachkriegszeit wirken bis heute arbeiter_innenfeindliche, grundrechtseinschränkende Gutachten und Urteile von Professoren und Richtern mit NS-Vergangenheit in Arbeitsgerichten und Hochschulen fort. Maßgeblich hierfür war die sogenannte „Viererbande“ von „Nazi-Juristen“ um Hans Carl Nipperdey.4 „Die Hauptprotagonisten der im Arbeitsrecht ‚herrschenden Meinung‘ waren in den letzten 40 Jahren die Professoren Hans Carl Nipperdey, Alfred Hueck und Rolf Dietz. Daneben noch Arthur Nikisch. Sie waren sämtlich bekennende Nationalsozialisten (wenngleich nicht alle formelles Mitglied der NSDAP) und überwiegend in der ‚Deutschen Akademie für Recht‘ engagiert.“5 Hans Carl Nipperdey, der erste Präsident des Bundesarbeitsgerichts (BAG), „gehörte zu den führenden Rechtswissenschaftlern, welche die Anpassung des Arbeitsrechts an die Ideologie des Nationalsozialismus vorantrieben. Nipperdey war Mitverfasser des ‚Arbeitsordnungsgesetzes‘ von 1934, des ‚Kernstück[s] des nationalsozialistischen Arbeitsrechts.‘“6 Diese ‚Anpassung‘ war ein breiter Angriff auf Arbeiter_innen und deren Möglichkeiten zur Interessenvertretung in Form von Arbeitskämpfen, Betriebsräten und anderen Vereinigungen, also Koalitionen (auch Gewerkschaften genannt).

Die Übernahme von Nipperdey’s Ansichten durch Arbeitsgerichte und Hochschulen spaltet und schadet bis heute Arbeiter_innen. Denn Nipperdey legte ein enges Korsett um Koalitions- und Arbeitskampfformen. Die ‚Viererbande’ schaffte es zwar nicht, Arbeiter_innenvereinigungen und Arbeitskämpfe gänzlich abzuschaffen. Aber durch die Einschränkung des Arbeitskampfes auf den Tarifkampf weniger etablierter (also DGB-) Gewerkschaften, illegalisierten diese ‚Nazi-Juristen’ viele andere Widerstands- und Organisationsformen von Arbeiter_innen.

Die Übernahme von Nipperdeys Ansichten in der Rechtssprechung schrenkt ein…

Wer legal streiken kann: Er sprach nur etablierten (DGB-)Gewerkschaften das Streikrecht zu. Damit spaltete Nipperdey Arbeiter_innen und erschwerte ihre Selbstorganisation. Der Fokus der (DGB-)Gewerkschaften auf Wirtschaftlichkeit und deren damit einhergehende (Selbst-)Beschränkung auf „Kernbelegschaften“ (festangestellte Vollzeitarbeiter_innen) illegalisierte Arbeits- und Organisationsformen von Arbeiter_innen mit geringen Einkommen oder prekären Arbeitsverhältnissen in neuen Ausbeutungsformen. Durch diese Monopolisierung des Streikrechts schränkten fortan DGB-Gewerkschaften Arbeitskämpfe außerhalb ihrer Organisationsbereiche ein.7

Wie legal gestreikt werden kann: So sollten Arbeitskämpfe sozialadäquat sein. „Zu sozialadäquaten Streiks gehörte für Nipperdey der Sympathiestreik8, nicht aber der politische Streik9“.10

Gegen wen legal gestreikt werden kann: ‚Politische’ Streiks, die sich nicht gegen Konzernleitungen, sondern gegen Akteur_innen außerhalb des Betriebs (zum Beispiel gegen Gerichte, Hochschulen oder andere staatliche Akteur_innen) richteten, versuchte Nipperdey zu verunmöglichen.

Wofürlegal gestreikt werden kann: Er behielt sich und seinesgleichen vor, Gesetze der eigenen Meinung entsprechend zu ändern. Arbeiter_innen jedoch wurde verboten, durch Arbeitskämpfe auf die ‚herrschende Meinung‘ oder Gesetzgebung einzuwirken. „Der Streik dürfe nicht darauf gerichtet sein, den Staat oder ein sonstiges ‚Subjekt hoheitlicher Gewalt‘ zu einem hoheitlichen Tun zu zwingen. Der sogenannte politische Streik (etwa eine Arbeitsniederlegung mit dem Ziel einer gesetzlichen Ausdehnung der Mitbestimmung) ist nach dem Bundesarbeitsgericht verboten“.11

Wann legal gestreikt werden kann: „Der Streik darf auch nicht dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz widersprechen: Arbeitskämpfe dürfen nur insoweit durchgeführt werden, als sie zur Erreichung rechtmäßiger Kampfesziele und des nachfolgenden Arbeitsfriedens geeignet und sachlich erforderlich sind. Jede Arbeitskampfmaßnahme dürfe nur nach Ausschöpfung aller Verständigungsmöglichkeiten ergriffen werden“.12 Was dabei aber ‚rechtmäßige Kampfesziele‘ beziehungsweise eine ‚Ausschöpfung aller Verständigungsmöglichkeiten‘ darstellt, wurde natürlich nicht gemeinsam, erst recht nicht von den Arbeiter_innen entschieden: die Entscheidungsmacht lag bei den politisch voreingenommenen Richter_innen und Jurist_innen.

Verunmöglichung und Diffamierung von Widerstand

All diese Einschränkungen zeigen die Stoßrichtung der nationalsozialistischen Ideolog_innen: eine umfassende Verunmöglichung von Widerstands- und Organisationsformen von Arbeiter_innen innerhalb und außerhalb von Betrieben, und somit die Umkehrung der Koalitionsfreiheit in ein generelles Streikverbot, das Streiks in der Regel ausschließt und nur ausnahmsweise zulässt. Zudem trugen die verschiedenen rechtlichen Schritte dazu bei, zwischen legalen und illegalen beziehungsweise eben sogenannten ‚Wilden Streiks‘ zu unterscheiden.

Solche ‚wilden‘ Streiks sind im letzten Jahr insbesondere mit den Streiks beim Lieferdienst Gorillas wieder öffentlich bekannter geworden. Als Reaktion auf eine Entlassungswelle und anhaltende Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen, insbesondere der prekarisierten Fahrer_innen, hatten sich diese spontan dazu entschieden, die Arbeit (ohne Einbindung in gewerkschaftliche Tarifverhandlungen o.Ä.) niederzulegen. Damit erreichten sie teilweise sogar die Wiedereinstellung einiger Kolleg_innen. Die Firmenleitung versuchte, jegliche Organisierung der Arbeiter_innen durch Unionbusting und Councilcrashing (Betriebsratsbehinderung) zu verunmöglichen. Die Fahrer_innen der Lieferdienste sind mehrheitlich junge, migrantisierte Personen, oft mit befristeten Arbeitsvisa, häufig auch ausländische Studierende: eine Gruppe an Menschen also, die prekär und von Rassismus betroffen ist, aber oft auch gebildet und der eigenen Rechte, in jedem Fall jedoch des ihnen in Deutschland widerfahrenden Unrechts und der Ausbeutung ihrer Arbeitskraft und Lebenszeit bewusst.

Rassismus im Begriff der ‚Wilden‘ Streiks

Aussagen wie „Wilde Streiks sind illegal“, die heute in der Berichterstattung wieder fallen, stehen in der Tradition der Angriffe von NS-Ideolog_innen auf Streiks im Besonderen und auf die freiheitlichen Grundrechte von Arbeiter_innen im Allgemeinen. Sie stehen in einer Tradition, die durch sexistische, ableistische, rassistische und klassistische Spaltung Arbeiter_innen isoliert und in rechtsfreie Räume stellt, ihre Handlungsmöglichkeiten illegalisiert und es ihnen verunmöglicht, gegen ihre Ausbeutung (legal) zu kämpfen.

Insbesondere die Wiederaufnahmen der Diffamierung der ‚wilden‘ Streiks verweisen auf repressive rassistische Rhetoriken. Denn wer von ‚wilden‘ Streiks redet, redet bald auch von ‚wilden‘ Arbeiter_innen und schnell nur noch von ‚Wilden (Streik-)Kulturen‘, die ‚fremde‘ Arbeiter_innen nach Deutschland bringen. Von anpassungsunfähigen Exot_innen, die Verhaltensweisen aus ihrer ‚Heimat‘ in unserer ‚Heimat‘ weiter pflegen. Belege für Ansätze auf größtenteils vermutlich unbewusste Anknüpfungen an rassistische Argumentationsmuster finden sich in Artikeln über die in die Streiks involvierten Arbeiter_innen der Lieferdienste zu genüge.13

Wer sagt, dass die Arbeiter_innen bei Gorillas ihre ‚wilden‘ Streiks aus ihren ‚Herkunftsländern‘ mitgebracht hätten, sollte sich fragen, ob sie auch ihr abgelaufenes halbjahres ‚Work and Travel‘ Visum, ihre illegalen ‚short-term‘ Untermietverträge und ihre während der Probezeit unbehandelten Arbeitsunfälle mitbringen? Wohnen die, die vorher oftmals bei ihrer Familie oder Verwandten gewohnt haben, hier zur Untermiete oder ohne Mietvertrag, weil sie das von der ‚Heimat‘ so gewohnt sind? Lassen sie ‚bei sich‘ ihre Verletzungen auch – aus Angst davor, gekündigt zu werden – unbehandelt oder weil sie zu Hause keine Ärztin finden, die ihre Sprache spricht?

Anders gefragt: Wenn es an der Herkunft liegt, dass ‚die‘ alle so ‚wild‘ streiken, warum streiken dann keine von denen ‚wild‘, die mehr Kohle verdienen, einen längerfristigen Aufenthaltsstatus haben und sich nicht von Untermietvertrag zu Untermietvertrag durchbetteln müssen?

Es sind migrantisierte und prekarisierte Arbeiter_innen, die in Deutschland genau dort ihren Platz finden, wo in deutschen Ausbeutungsstrukturen für sie Platz gelassen wird: in der Illegalisierung. Diesen Arbeiter_innen wird keine Wahl gelassen. Was ihnen übrig bleibt: Beschissene Rechts- und damit Aufenthalts-, Wohn- und Arbeitsverhältnisse. NS-Ideolog_innen haben die Illegalität dieser Arbeiter_innen geschaffen, auf welche die deutsche Gesellschaft dann doch ganz gerne zurückgreift – wenn man zu faul ist, abends zu kochen, und sich lieber etwas zu essen bestellt. Während Kartoffelgewerkschaften sie ‚unorganisierbar‘ nennen, bleibt diesen Arbeiter_innen in einem Land, das auf Grundlage von nationalsozialistischer Ideologie Recht spricht, schlicht nichts anderes, als weiter ‚wilde‘ Streiks zu führen.

Wie lange können sich deutsche Gerichte, Gewerkschaften und Gelehrte statt an europäischem und internationalem Recht weiter kontinuierlich an NS-ideologischen, juristischen Verengungen von Koalitionsfreiheit und Streikrecht festhalten und damit Arbeiter_innen in die Illegalität zwingen? Wann heißt es endlich wieder: Bis hierhin und nicht weiter!?

Zur weiteren Lektüre:

Nikolas Lelle: Arbeit, Dienst und Führung. Der Nationalsozialismus und sein Erbe. Verbrecher Verlag, 420 Seiten, 30€, Juni 2022

____________________________________________

1 Erklärung zum Begriff Richterrecht, 14.12.2021, online unter: www.juraforum.de

2 Rolf Geffken: Faschismus im Arbeitsrecht, in: Rat & Tat Infos 313, online unter: www.drgeffken.de

3 siehe hierzu: Martin Hensche: „Streik und Streik­recht“, in: Handbuch Arbeitsrecht, 26.11.2021, online unter: www.hensche.de

4 Rolf Geffken: Der Professor und die Viererbande, 2021, online unter: www.freitag.de

5 Rolf Geffken: Faschismus im Arbeitsrecht, in: Rat & Tat Infos 313, online unter: www.drgeffken.de

6 Hans Carl Nipperdey, online unter: www.wikipedia.de

7„Der neue Grundsatz sollte das gefürchtete Aufkommen aktiver kleinerer und radikaler Arbeit­nehmer­organisationen verhindern – ein charakteristisches Beispiel für das Wirken des einflussreichen Präsidenten.“ zitiert aus: Ulrich Preis: „Hans Carl Nipperdey – mythische Leitfigur des herrschenden deutschen Arbeitsrechts“, in: Arbeit und Recht 5/2016, 2016, online unter: www.hugo-sinzheimer-institut.de

8 Sympathiestreiks oder auch Unterstützungsstreiks führen Arbeiter_innen eines Betriebs um den Streik eines anderen Betriebs zu unterstützen.

9 Als Politische Streiks werden Arbeitskämpfe verstanden, die mehr betreffen als innerbetriebliche Regelungen. Sie verfolgen politische Ziele und richten sich an Politik oder Gesellschaft insgesamt. Eine Form des politischen Streiks ist der Generalstreik, also der generelle Massenstreik von Arbeiter_innen vieler Betriebe, ganzer Branchen oder vieler Wirtschaftszweige. Politische Streiks können auch von Akteur_innen geführt werden, die rechtlich nicht als Arbeiter_innen eingeordnet werden, zum Beispiel: Schulstreiks, Studistreiks. Ziele von politischen Streiks beschränken sich nicht nur auf wirtschaftliche Ziele oder Arbeiter_innen, sondern können die gesamte Gesellschaft betreffen, wie z.B. Klimastreiks oder feministische Streiks.

10 Ulrich Preis: „Hans Carl Nipperdey – mythische Leitfigur des herrschenden deutschen Arbeitsrechts“, in: Arbeit und Recht 5/2016, 2016, online unter: www.hugo-sinzheimer-institut.de

11 Arnold Köpcke-Duttler: Gedanken zum Recht des politischen Streiks, online unter: www.ra-koepcke-duttler.de

12 ebd.

13 siehe hierzu beispielsweise:

Peter Nowak: Streik als Arbeitskampf, 10.11.2021, online unter: www.direkteaktion.org

Nina Scholz: Gorillas motzen die deutsche Streikkultur auf, 16.10.2021, online unter: www.freitag.de

Eva Kocher: Gorillas im Arbeitskampf, 21.10.2021, online unter: www.verfassungsblog.de