Aktuelles

Zu der Situation von TIN*-Personen an der Humboldt Universität und der Kontroverse um Wissenschaftsfreiheit

CN: Wiedergabe trans*-, inter*- und nichtbinär-feindlicher Inhalte

Letzten Samstag hat die Humboldt-Universität (HU) nach großer Kritik aus der Studierendenschaft den Vortrag von Marie-Luise Vollbrecht während der Langen Nacht der Wissenschaft (LNDW) unter dem Vorwand von Sicherheitsbedenken abgesagt. Wir kritisieren die von der Universitätsleitung genannten Gründe für die Absage, begrüßen aber, dass Vollbrechts Vortrag im Rahmen der LNDW nicht stattgefunden hat. Wir stellen uns aktiv gegen die Nutzung von Universitätsräumen und -geldern um anti-emanzipatorischen Inhalten eine Bühne zu geben.

Die HU ist in den vergangenen Jahren vermehrt durch ihre trans*, inter* und nichtbinäre (kurz "TIN*") Personen diskriminierenden Regelungen in Kritik geraten [1]. Gerade deshalb sollte es ihr ein Anliegen sein, die Rechte von TIN*-Personen zu stärken und nicht weiter mit den Füßen zu treten. In der Kontroverse um Marie-Luise Vollbrecht äußert sich erneut, dass TIN*-Feindlichkeit an der HU ein tief verankertes und strukturelles Problem ist. Unsere Kritik richtet sich demnach nicht nur an Vollbrecht, sondern vor allem auch an die HU.

Wir als Referent*innenRat stellen uns nicht generell gegen Vorträge zu Biologie und Geschlecht. Wir positionieren uns aber dagegen, dass offen TIN*-feindlichen Personen wie Marie-Luise Vollbrecht auf einer prestigeträchtigen Veranstaltung wie der Langen Nacht der Wissenschaften Raum gegeben wird.

Weder haben wir etwas gegen einen wissenschaftlichen und auch kontroversen Diskurs in der Biologie zum Thema Geschlecht einzuwenden, noch kritisieren wir die Vermittlung diesbezüglicher Forschungsergebnisse im Rahmen populärwissenschaftlicher Veranstaltungen wie zum Beispiel der Langen Nacht der Wissenschaft. Geschlecht ist in der Biologie oft komplexer, als wir es in der Oberstufe kennengelernt haben [2] und in diese Diskussion möchten wir als RefRat nicht eingreifen. Wir wollen sie aber auch nicht Meeresbiolog*innen und ausgesprochenen Kritiker*innen von TIN*-Rechten wie Vollbrecht überlassen. Wir sind offen für Diskussionen über Sex und Gender, das Selbstbestimmungsrecht von trans*, inter* und nicht-binären Menschen steht aber außer Frage. TIN*-Rechte sind Menschenrechte und diese zu wahren schreibt sich die HU auf die Fahne. Leider war zu erwarten, dass dieser Grundsatz bei dem Geschlechter-Vortrag der Meeresbiologin in Frage gestellt werden würde.

Am vergangenen Wochenende war nicht das erste Mal, dass Vollbrecht im Kontext von TIN*-Feindlichkeit negativ aufgefallen ist. So war sie bereits im Juni Co-Autorin eines stark kritisierten Artikels in der WELT, in dem Sendern des öffentlich-rechtlichen Rundfunks vorgeworfen wurde, "Transgender-Ideologie" zu verbreiten und Kinder zu indoktrinieren [3]. Des weiteren gehört Vollbrecht zu den Erstunterzeichner*innen eines offenen Briefes, in dem der öffentlich-rechtliche Rundfunk zu einer "Abkehr von der ideologischen Betrachtungsweise zum Thema Transsexualität und eine[r] faktenbasierte[n] Darstellung biologischer Sachverhalte" aufgefordert wird [4]. Beide Veröffentlichungen sind hochgradig von TIN*-feindlichen Äußerungen geprägt und auch die HU distanziert sich "von dem Artikel und den darin geäußerten Meinungen ausdrücklich", da sie "nicht im Einklang mit dem Leitbild der HU und den von ihr vertretenen Werten" stünden [5].

Als Doktorandin lehrt Marie-Luise Vollbrecht auch an der HU. Bereits vor der Kontroverse um ihren Vortrag berichteten Studierende uns davon, sich in ihren Lehrveranstaltungen unsicher zu fühlen. Das Feedback von Studierenden wurde von Vollbrecht leider nicht ernstgenommen - stattdessen machte sie sich auf ihrem Twitteraccount öffentlich darüber lustig [6]. Auch Professor*innen am Institut für Biologie wurden darüber informiert, gingen aber nicht auf die
Bedenken und Kritik der Studierenden ein.

Eine Lehr- und Lernatmosphäre, wo Studierende aufgrund ihrer geschlechtlichen Identität Sorge vor Ungleichbehandlung haben müssen, entspricht in unseren Augen nicht den Standards einer Exzellenz-Universität.

Indem sich Marie-Luise Vollbrecht als "genderkritische Feministin" bezeichnet [7] , solidarisiert sie sich mit einer Bewegung, welche die Realität von TIN*-Personen leugnet und im Schutz von Rechten für TIN*-Personen einen Angriff auf Frauenräume wähnt. Ihre öffentlichen Äußerungen machen deutlich, dass sie diese Meinungen auch selbst vertritt [8] . Mit ihrem öffentlichen Auftreten und dem Mitwirken an einem Dossier, in dem Intergeschlechtlichkeit als krankhafte Störung und TIN*-Personen als potentiell übergriffige Eindringlinge in Frauenschutzräume dargestellt werden [9], sollte sie sich für eine wissenschaftliche Betrachtung zum Thema Geschlecht ausreichend disqualifiziert haben.

Vollbrecht hat eine klare politische Agenda, die sich nicht hinter ihrer Position als Doktorandin verstecken lässt. Ihr Twitter-Profilbild wird von der Flagge der Suffragetten geschmückt, eine Flagge, die TERFs (Trans Exclusionary Radical Feminists) sich angeeignet haben [10]. Aus diesem Kreis scheint auch ihre Twitter Bubble zu bestehen, die uns als RefRat und vor allem den Arbeitskreis kritischer Jurist*innen (akj) seit Freitag beschimpfen und bedrohen. In den sozialen Netzwerken melden sich auch immer mehr TIN*-Personen, die von Vollbrecht und ihren Fans persönlich attackiert und zum Teil bedroht wurden [11][12].

Eine Person berichtete dem RefRat von Vollbrecht direkt kontaktiert worden zu sein mit Nachrichten, die als direkte Drohung verstanden werden können. Vollbrecht habe per Direkt Nachricht unter anderem erwähnt, dass sie wisse wo diese Person wohne und studiere - dass ist ein Umgang, den wir von einer Doktorandin der HU nicht gutheißen können. Der Vorwurf, Vollbrecht habe der betroffenen Person mit einer Klage gedroht, sollte diese den Inhalt der Nachrichten veröffentlichen, macht die Situation noch schwerwiegender [13].

Die Suffragetten, auf die sich auch Vollbrecht gerne beruft, haben um 1900 für das Wahlrecht der Frauen protestiert. Sie beanstandeten erfolgreich die damals als Fakt annerkante politische Diffamierung, Frauen hätten zu kleine Gehirne, um wählen zu können. Die Suffragetten werden heute folglich nicht als Verfechter*innen von Cancel Culture gegenüber der Wissenschaftsfreiheit verstanden, sondern ganz im Gegenteil gelten ihre Proteste als große Errungenschaften im Kampf gegen misogyne Wissenschaftsstandards und für Frauenrechte. [14]

Damals wie heute durchlaufen gesellschaftlich anerkannte "Fakten" und Konventionen ständig transformative Prozesse. Diese zu hinterfragen und weiterzuentwickeln ist auch Aufgabe der Wissenschaft [15]. Uns, einem links-feministischen RefRat, der mehrheitlich aus Personen besteht, die direkt von patriachaler Gewalt betroffen sind, wird vorgeworfen, eigentlich cis-Männer zu sein, deren Ziel es sei, cis-Frauen zum Schweigen zu bringen (cis steht für Menschen, die sich mit dem Geschlecht identifizieren, das ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde). Uns eine "Abschaffung der Meinungsfreiheit" vorzuwerfen, nachdem Vollbrechts Vortrag inzwischen auf Youtube von mehreren tausend Menschen gesehen wurde, grenzt an Absurdität.Wir können und wollen niemanden silencen – wir werden uns aber weiterhin dagegen wehren, dass TIN*-feindliche Ideologien an unserer Universität Nährboden finden und mit Unimitteln gefördert werden.

In einigen Medien hat die Leitung der Humboldt Universität seitdem erklärt, den Vortrag am 14.07.2022 nachzuholen und im Anschluss eine Veranstaltung zu organisieren, bei dem der "Skandal" um die Wissenschaftsfreiheit diskutiert werden sollen [16]. Eingeladen sind unter anderem Bundesforschungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP), die im Nachgang des Protests BILD Berichterstattung und Narrative übernahm, und die Berliner Wissenschaftssenatorin Ulrike Gote (Grüne).

Wir haben bislang keine Einladung erhalten. Obwohl uns in den letzten Tagen häufig vorgeworfen wurde, nicht offen für Gespräche oder Diskussionen zu sein, hat man nicht vor mit, sondern über uns zu reden. Wir appellieren an dieser Stelle an die Unileitung, die Sorgen der Studierenden ernst zu nehmen und Betroffenenvertretungen zu dem Gespräch einzuladen. TIN* Stimmen wird viel zu selten zugehört, auch zu Themen wie diesen, die sie direkt betreffen. Die Diskussion ohne TIN*-Personen zu führen wäre ein Zeichen großer Nachlässigkeit. Viele von TIN*-Feindlichkeit betroffene Studierende äußern bereits, dass sie sich von der Unileitung erneut im Stich gelassen und übergangen fühlen.

Wir werden uns weiterhin - unabhängig von Medienkontroversen und Skandalen - für TIN*-Personen und deren Rechte an der Humboldt Universität einsetzen und die Kämpfe um ihre Selbstbestimmungsrechte unterstützen. Die Wissenschaftsfreiheit ist kein Mantel für die Verbreitung von menschenverachtenden Ideologien und gegen Akzeptanz wissenschaftlicher Erkenntnisse gerichteter Propaganda - die Erde ist keine Scheibe, die Evolution ist kein Verschwörungsmythos und die Unterschiedlichkeit von Menschen hat mehr als 2 Seiten.

Quellen:
[1] https://www.refrat.de/article/pm_transrechte.html
[2] https://www.berliner-zeitung.de/kultur-vergnuegen/sexualwissenschaftler-li.243483
[3] https://www.welt.de/debatte/kommentare/plus239113451/Oeffentlich-rechtlicher-Rundfunk-Wie-ARD-und-ZDF-unsere-Kinder-indoktrinieren.html
[4] https://www.evaengelken.de/aufruf-schluss-mit-der-falschberichterstattung-des-oeffentlich-rechtlichen-rundfunks/
[5] https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/medien/humboldt-uni-sagt-vortrag-ueber-geschlecht-und-gender-ab-18146161.html
[6] https://archive.org/details/screenshot-01-kopie
[7] https://www.autonomie-magazin.org/2022/06/im-konkurrenzkampf-um-privilegien-kann-es-keine-solidaritaet-geben/
[8] https://web.archive.org/web/20220708080329/https2F%2Ftwitter.com2Fstatus3Ft26s%3D19
[9] https://www.evaengelken.de/dossier-ideologie-statt-biologie-im-oerr/
[10] https://archive.org/details/screenshot-02-kopie
[11] https://web.archive.org/web/20220708084518/https://twitter.com/FraudoktorJulie/status/1543841578439041028?t=nhhUqIF394S2G5PI5E76nQ&s=19
[12] https://web.archive.org/web/20220708084918/https://twitter.com/dana_mahr1/status/1543354038154137600
[13] https://web.archive.org/web/20220708085241/https://mobile.twitter.com/pommes_und_wahn/status/1543686587413921795
[14] https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/277333/die-suffragetten/
[15] https://www.berliner-zeitung.de/open-source/vortrag-hu-berlin-geschlecht-neurowissenschaftlerin-zur-hu-das-ist-keine-cancel-culture-sondern-fortschritt-li.243461
[16] https://open-humboldt.de/de/calendar/meinung-freiheit-wissenschaft-der-umgang-mit-gesellschaftlichen-kontroversen

  • lesen
  • erstellt:11.07.22, 10:21
  • geändert:11.07.22, 10:23